Quantenchemische Untersuchungen zur baseninduzierten Reaktivität von Silanen Dissertation, Lioba Meyer, Goethe-Universität Frankfurt, September 2018 Die moderne Hauptgruppenchemie ermöglicht es Siliciumverbindungen in unterschiedlichen Oxidationsstufen und mit ungewöhnlichen Koordinationsumgebungen zu realisieren: Silane, Silylene, Disilene, Disiline und molekularer Sand (SiO2) können soweit stabilisiert werden, dass eine Charakterisierung gelingt. Ein Verständnis für die Eigenschaften und Reaktivitäten dieser Verbindungen eröffnet Perspektiven zur gezielten Synthese verschiedener Siliciumverbindungen. Industriell sind im wesentlichen zwei Substanzklassen interessant: Perchlorierte Silane, die als Vorstufen für die Abscheidung elementaren Siliciums als Halbleitermaterial Verwendung finden und Organochlorsilane, die wichtige Bausteine für den Aufbau von Silikonen und für Hydrosilylierungsreaktionen darstellen. Im Rahmen dieser Dissertationsschrift wurden mittels quantenchemischer Rechnungen Schlüsselintermediate für den Aufbau solcher Verbindungen identifiziert und durch Einblicke in den Reaktionsmechanismus das Fundament für ein tiefergehendes Verständnis der dynamischen kovalenten Chemie der Oligosilane gelegt. Dies geschah in enger Zusammenarbeit mit den experimentellen Arbeitsgruppen von Prof. Wagner und Prof. Auner. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde die Hochtemperatur-Komproportionierungsreaktion von gasförmigem Siliciumtetrachlorid und elementarem Silicium untersucht (Chem. Eur. J. 2017, 23, 12399). In einer Gasphasenreaktion entsteht dabei ein perchloriertes Polysilan (PCS) unbekannter Zusammensetzung. Im Ergebnis konnten wir zeigen, dass PCS eine komplexe Mischung verschiedener molekularer perchlorierter Silane darstellt, von denen lediglich cyc-Si5Cl10 experimentell eindeutig charakterisiert werden kann. Ausgehend von Dichlorsilylen als reaktive Spezies in der Gasphase zeigten DFT-Berechnungen, dass durch Silylendimerisierung, Silyleninsertion und eine Reihe von Isomerisierungsreaktionen der Aufbau cyclischer Perchlorsilane mit unterschiedlichem Silylierungsgrad gegenüber dem entsprechenden Aufbau acyclischer Perchlorsilane aus nicht umgesetzten Siliciumtetrachlorid bevorzugt stattfindet. PCS liefert ein 29Si-NMR-Spektrum mit einer verwirrenden Vielzahl verschiedener Signale, die auch anhand quantenchemisch berechneter 29Si-NMR-chemischer Verschiebungen nicht eindeutig zugeordnet werden konnten. Dennoch war eine Einteilung der berechneten Verschiebungen in Bereiche möglich, in denen Verschiebungen für Siliciumatome cyclischer und acyclischer Perchlorsilane mit einer bestimmten formalen Oxidationsstufe zu erwarten sind. Weiterhin wurde der Chlorid-induzierte Aufbau perchlorierter Silane aus Si2Cl6 untersucht: Der Bildungsmechanismus für die durch Tillmann röntgenkristallographisch charakterisierten perchlorierten Silikate und dianionischen (silylsubstituierten) Cyclohexasilane wurde in einer DFT-Studie untersucht und Schlüsselintermediate sowie stabile Zwischenstufen identifiziert (Chem. Eur. J. 2014, 20, 9234). Wir konnten zeigen, dass SiCl3– als reaktives Intermediat für die Si–Si Bindungsknüpfung verantwortlich ist. Die experimentell nachgewiesenen Silikate sind, mit einer Ausnahme für die ein anderes Konformer gefunden wurde, identisch mit den theoretisch vorhergesagten lokalen Minima. Sie entstehen durch eine Reihe von reversiblen Additions- und Isomerisierungsreaktionen. Dabei sind die acyclischen Silikate über Gleichgewichtsreaktionen miteinander verknüpft, wobei die berechneten Aktivierungsbarrieren für die Rückreaktion immer etwas höher sind als die Barrieren für den nächsten Aufbauschritt. Im Rahmen dieser Gleichgewichtsreaktionen entsteht nicht nur SiCl3–, sondern es können auch höhere Silanide eliminiert werden, die ab einer Größe von drei Siliciumatomen zu Cyclohexasilanen dimerisieren. Mit der head-to-tail Dimerisierung des bevorzugt gebildeten Silanids erklärt sich zwanglos das Substitutionsmuster aller röntgenkristallographisch charakterisierten zweifach silylsubstituierten Cyclohexasilane. Weiterhin ist es gelungen, den Reaktionsmechanismus für den Chlorid-induzierten Aufbau des dianionischen inversen Sandwichkomplexes [Si6Cl122Cl]2– aus HSiCl3 aufzuklären, in dem ebenfalls SiCl3– das Schlüsselintermediat darstellt. Letzteres entsteht durch die Eliminierung von HCl aus dem Chloridaddukt von HSiCl3. Der Reaktionsmechanismus beinhaltet Chloridabstraktionen, Hydridabstraktionen, Deprotonierungen, Silanid-Additionen, sowie Silanid-Eliminierungen, die nahezu gleichberechtigt nebeneinander vorkommen. Alle identifizierten Reaktionsschritte münden immer wieder in die Pfade, die bereits für den Aufbau aus Si2Cl6 gefunden wurden. Anhand von Bindungsanalysen konnten wir zeigen, dass sowohl SiCl2NMe3 als auch SiCl3– als Lewis-Basen stabilisierte Äquivalente des Gasphasenintermediats SiCl2 angesehen werden können (Chem. Eur. J. 2016, 22, 14328). Beide Spezies weisen eine sehr ähnliche elektronische Struktur, aber eine unterschiedliche Reaktivität auf, führt doch die Anwesenheit des Amins in der Reaktionslösung mit Si2Cl6 zur Bildung von neo-Si5Cl12, wohingegen die Präsenz von Chloridionen in der Bildung von [Si6Cl122Cl]2– und trichlorsilylierten Derivaten resultiert. Die unterschiedliche Reaktivität liegt vermutlich in der Fähigkeit der Chloridionen begründet, stabile Komplexe mit Cyclohexasilanen zu bilden, während Amine dies nicht können. Weiterhin konnten wir zeigen, dass neo-Si5Cl12 in Anwesenheit von Chloridionen zu Silaniden abgebaut wird: Noch in der Reaktionslösung entsteht aus neo-Si5Cl12 Siliciumtetrachlorid und das später auch bei tiefen Temperaturen kristallisierte Tris(trichlorsilylsilan)anion [Si(SiCl3)3]–. Diese Reaktion wurde in Kooperation mit den Arbeitskreisen Wagner und Koszinowski experimentell anhand von 29Si-NMR-Untersuchungen und durch Massenspektrometrie verfolgt. Die zugehörigen Zerfallskanäle konnten mit Hilfe quantenchemischer Berechnungen silylsubstituierten Silaniden zugeordnet werden. In der Gasphase verläuft der Zerfall von [Si(SiCl3)3]– zunächst über eine 1,2-Chloridwanderung mit nachfolgender Abspaltung von SiCl2 und dem entsprechenden kleineren Silanid. Auf diese Weise lässt sich [Si(SiCl3)3]– unter CID-Bedingungen im MS zu kleineren Silaniden und schließlich zu SiCl3– fragmentieren. Zusätzlich konnten wir für die (nicht-stöchiometrische) Reaktion von neo-Si5Cl12 mit Chloridionen in Lösung zeigen, dass entstehendes [Si(SiCl3)3]– an in der Reaktionslösung verbliebene Silane addieren kann, die schließlich über eine Reihe von Gleichgewichtsreaktionen dianionische Cyclohexasilane oder polymeren Ketten mit neo-Zentren bilden. Alternativ kann [Si(SiCl3)3]– auch aus dem dianionischen Silikat [SiCl3–SiCl4–SiCl3]2– gebildet werden, dass sowohl als SiCl3–- als auch als Chloridionen-Reservoir dient. Zunächst entsteht das Silanid [SiCl(SiCl3)2]–, das eine eher ungewöhnliche Reaktion, nämlich eine ladungsgetriebene SN2-Reaktion durchläuft, in der ein Chloridion durch SiCl3– ausgetauscht wird; eine Reaktivität, die nur in einer sehr SiCl3–-reichen Umgebung überhaupt stattfinden kann. Wir haben für die Silanide [Si(SiCl3)3]–, [SiCl(SiCl3)2]–, [SiCl2(SiCl3)]– und SiCl3– NBO- und QTAIM-Bindungsanalysen durchgeführt, die große Ähnlichkeiten zwischen den Silaniden zeigen: alle Si–Cl Bindungen, die von einem subvalenten Siliciumatom ausgehen, sind als stark polare kovalente Bindungen zu klassifizieren. Alle hier untersuchten Silanide sind starke Brønsted-Basen und harte Lewis-Basen, wobei sich SiCl3– und [Si(SiCl3)3]– verblüffend ähnlich sind. Experimentell könnte dieser Befund durch Koordination des [Si(SiCl3)3]– Anions an harte Lewis-Säuren nachgewiesen werden. [Si(SiCl3)3]– ist hierbei keineswegs inert, wie bislang in der Literatur behauptet. Zuletzt wurde der Reaktionsmechanismus für die durch Lewis-Basen katalysierte Chlorierung von Organomonosilanen etabliert (Chem. Eur. J. 2018 doi:10.1002/chem.201803921). Sturm gelang die Umsetzung von Di- und Trihydridosilanen mit einer konzentrierten HCl/Ether Lösung unter H2 Verlust zu Chlorhydridosilanen. Quantenchemische Berechnungen konnten zeigen, dass HCl in Ether als Addukt mit einer präaktivierten H–Cl Bindung vorliegt. Der Ether wirkt als Lewis-Base und stabilisiert das intermediär entstehende Silyliumkation, während H–Cl über die Si–H Bindung des Monosilans addiert. Damit konnte durch den Lewis-basischen Ether eine neue Art der Si–H Bindungsaktivierung erreicht werden, die bislang nur mit Lewis-Säuren gelang. Unsere quantenchemischen Ergebnisse erklären auch die selektive Bildung zu monochlorierten Silanen aus Di- und Trihydridosilanen: Die Aktivierungsbarriere für den zweiten Chlorierungsschritt ist unter den im Experiment herrschenden Bedingungen erheblich höher als die für den ersten Schritt. Weiterhin beschleunigt die Anwesenheit von Alkohol die Chlorierung, da auf diese Weise ein Netzwerk aus Wasserstoffbrückenbindungen den Protonentransfer effizient vermittelt. Je nach Ether und Reaktionstemperatur entsteht dieser Alkohol durch die Spaltung des Ethers mit HCl und die nachfolgende Chlorierung verläuft autokatalytisch. Die in dieser Arbeit untersuchten Reaktionsmechanismen stehen alle in bemerkenswertem Einklang mit experimentellen Befunden. Das gewonnene Verständnis für Elementarschritte und Schlüsselintermediate ist ein wichtiger konzeptioneller Schritt hin zur gezielten Planung von Syntheserouten zu perchlorierten Silanen oder Siloxanen, beispielsweise durch den Einsatz von Lewis-Basen.