Erinnerungen an ein menschenleeres Paradies : Urszenen literarischer Modernität im 19. Jahrhundert

  • An der Schwelle zum 19. Jahrhundert stößt ein Aspekt des Kontinuums, in dem 'der Mensch' "seine Positivität bildet und bildet", an seine Grenze. Das romantische Büchermachen als Erbe einer religiös legitimierten eigentlichen Natur wird seiner Redundanz gewahr; die Ordnungen des Wissens beginnen in ihrer Form als Riesenbibliotheken zu ängstigen. In dieser Situation eröffnet die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Physiologie des Gehirns und der Nervenbahnen, mit dem, was Aufschluss über die organischen Bedingtheiten des "Menschseins" allgemein zu liefern verspricht, aus anderer Warte eine Möglichkeit, "das im gedruckten Gehirn der Gemeinschaft erstarrte Denken" auf eine neue Stufe zu heben. Die Vorrang- und Vorreiterposition der französischen Psychiatrie im 19. Jahrhundert hat Robert Castel in die Formel 'L'Âge d'or de l'aliénisme' gefasst. Nietzsche hat diese "wissenschaftliche Lust des Menschen an sich selber" als "Lust am Ausnahmefall" denunziert, und konsequenterweise wandte sie sich auch dem zu, was noch unter dem schillernden Wort Genie firmierte, spezieller sogar dem 'génie im Medium der langue'. Für die beiden Gründerväter der klinischen Psychiatrie Philippe Pinel und Jean Etienne Dominique Esquirol hatten in der Tradition der jüngeren Vergangenheit schon die Hypertrophien der Imagination allgemein zum eisernen prognostischen Bestand der Psychopathologie gehört; zu nennen wären hier als Anreger der berühmte William Cullen, der den folgenreichen Begriff Neurose prägte, sowie der englische Irrenarzt Sir Alexander Crichton, der als erster die damals revolutionäre These vertrat, dass die einzelnen Fähigkeiten der Seele, z.B. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Urteilskraft, Imagination etc., jede für sich allein erkranken könnten. Pinels Schüler Victor Broussais widmete in seinem Hauptwerk 'De l’irritation et de la folie' von 1828 einen langen Abschnitt der 'valeur des signes', in welchem er die Gültigkeit von sprachlichen Zeichen zur Selbstbeschreibung von psychischen Phänomenen untersucht. Sein Urteil: Begriffe wie 'moi', 'intelligence', 'imagination' seien nur der unvollkommene, laienhafte Versuch, die wechselnden physiologischen Zustände des Nervensystems unter eine chimärische Einheit zu zwingen, die selbst Züge des Wahnhaften trüge.

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Metadaten
Author:Gerhard Scharbert
URN:urn:nbn:de:hebis:30:3-494660
URL:http://www.passagen.at/cms/index.php?id=286
ISSN:0043-2199
ISSN:2510-7291
Parent Title (German):Weimarer Beiträge : Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften
Publisher:Passagen Verlag
Place of publication:Wien
Document Type:Article
Language:German
Year of Completion:2019
Year of first Publication:2012
Publishing Institution:Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
Contributing Corporation:Klassik Stiftung Weimar
Release Date:2019/12/12
GND Keyword:Modernität; Literatur
Volume:58
Issue:3
Page Number:15
First Page:436
Last Page:450
HeBIS-PPN:457689692
Dewey Decimal Classification:8 Literatur / 80 Literatur, Rhetorik, Literaturwissenschaft / 800 Literatur und Rhetorik
8 Literatur / 83 Deutsche und verwandte Literaturen / 830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
Sammlungen:Germanistik / GiNDok
CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Germanistik / GiNDok / Passagen Verlag
BDSL-Klassifikation:04.00.00 Allgemeine Literaturgeschichte / BDSL-Klassifikation: 04.00.00 Allgemeine Literaturgeschichte > 04.02.00 Studien
Zeitschriften / Jahresberichte:Weimarer Beiträge / Weimarer Beiträge 58.2012
:urn:nbn:de:hebis:30:3-494458
Licence (German):License LogoDeutsches Urheberrecht