Muttersprachlicher Unterricht und Integration : (von der Türkenschule zum Fach Türkisch)

  • Die immer länger werdende Verweildauer der türkischen Migranten und die bis vor einigen Jahren ständig ansteigende Anzahl nachgeholter älterer Kinder deuteten schon seit Mitte der achtziger Jahre darauf hin, daß die aufgrund des Anwerbevertrages nach Deutschland eingereisten türkischen Arbeitskräfte nicht mehr zurückkehren werden. Die Hessische Schule reagiert darauf, indem sie die Ziele des MU veränderte und als ein wesentliches Ziel neben der Sprachen­ und Wissensvermittlung über die Kultur des Herkunftslandes auch das Verstehen der eigenen Situation im Einwanderungsland, die Erschließung des eigenen Umfeldes und die Fähigkeit, darin zu handeln, angibt. (s.a. Kap.IV, 2.) Einer so bedeutsamen Aufgabe gerecht zu werden, ist nur dann möglich, wenn sowohl der Muttersprache der Kinder, als auch dem Lernbereich überhaupt, von Seiten der Administration, den Institutionen und der darin Handelnden, also Schülern und Lehrern, Bedeutung und Wert beigemessen werden und sie Teil der Hessischen Schule sind. Kinder ausländischer Eltern wachsen in der Regel zweisprachig auf. Zweisprachig zu sein, ist ein Faktum, das für das Individuum einen hohen Wert darstellt. In Deutschland wird Zweisprachigkeit nicht immer als etwas Positives gesehen. (Selbst dann nicht, wenn es um eine im eigenen Land gesprochene Sprache geht, wie z.B. das Ostfriesische. Obwohl das Ostfriesische in Ostfriesland die dominierende Sprache ist, sprechen die Eltern mit den Kindern, die in die Schule kommen sollen, zunächst Hochdeutsch, um ihnen den Schulanfang zu erleichtern.) Das Ansehen einer Sprache ist weitgehend davon abhängig, welches 'Prestige' die Sprache hat, aber auch welches soziales Prestige ihre Sprecher haben. Türkisch steht in der Sprachenhierarchie nicht besonders hoch, es gilt als Gastarbeitersprache, ebenso wie das Wort 'Türke' noch immer den typischen 'Gastarbeiter' assoziiert. Dabei wird nicht zur Kenntnis genommen, daß die Zahl derjenigen, die dem Mittelstand zuzurechnen und zu Arbeitgebern auch für Deutsche oder andere Nationen geworden sind, ständig im Steigen begriffen ist. (s.a.Kap.VII, 5.3) Alle Muttersprachlehrer in Hessen sind seit 1970 aus dem Zuwandererpotential eingestellt worden, seit 1972 gibt es keine 'Regierungslehrer' mehr. Der Muttersprachliche Unterricht gewinnt an Wert, wenn seine Bedeutung nicht in Frage gestellt und seine Erteilung als 'normal' angesehen wird. Es war daher wichtig zu erfahren, welchen Wert ihm die Interviewten beimessen. Bei allen Interviewten hat der Muttersprachenunterricht Türkisch einen hohen Stellenwert. Die Anzahl der Schüler, die ihn in Hessen besuchen, übersteigt 70% und liegt damit höher, als in jedem anderen deutschen Bundesland und auch EU­Staat. Diese hohe Teilnehmerzahl würde nicht erreicht werden, wenn die Türkei den Unterricht in eigener Verantwortung durchführen müßte, wie es zeitweise im HKM überlegt wird. Die Türkei ist an einer stark nationalbewußten Ethnie in Deutschland interessiert, da diese leichter zu kontrollieren und zu reglementieren ist, und auch weiterhin mit einem Geldtransfer zu rechnen ist. Die türkische Ethnie, so wie der Erziehungsattaché (s.a. Kap.VII, 1.1) sie sich vorstellt, würde Sitten und Bräuche bewahren und durch die soziale Kontrolle würde weniger Zündstoff für die Türkei entstehen. Viele Ereignisse, die die Türkei beunruhigen, haben ihren Ursprung in oder erhalten Unterstützung aus Deutschland. (z.B. das Selbstbewußtsein, das die Kurden und andere Minderheiten entwickelt haben, das Sichbekennen der Aleviten und anderer religiöser Gruppen und das Wiedererwachen unterschiedlicher muslimischer Glaubensrichtungen.) In einer Zeit der Globalisierung und des immer lauter werdenden Rufens nach einem frühen Angebot von Fremdsprachenunterricht, möglichst schon in der Grundschule, ist die Zweisprachigkeit der Kinder ausländischer Eltern neben dem Einfluß, den die Herkunftssprache bei der Identitätsfindung hat, auch eine ökonomische Ressource, die nicht ungenutzt bleiben sollte. Zweisprachigkeit darf allerdings nicht zu einer 'doppelten Halbsprachigkeit' führen, daher müssen die zu erreichenden Ziele in den einzelnen Jahrgängen, klar zu erkennen, die Lehrer kompetent sein, und der Unterricht nicht zur 'Kuschelecke' der Schüler werden. Da der Muttersprachliche Unterricht eine so wichtige Aufgabe hat, muß man sich der Ziele bewußt sein, die vorgegeben werden müssen bei Schülern, die vermehrt deutsche Staatsbürger sein werden. Es kann dann nicht mehr so unterrichtet werden, als sei die Türkei die 'Heimat'. Sie kann nur noch Herkunftsland sein, während das Aufnahmeland zur Heimat werden muß, wenn es das noch nicht ist. Dabei sollen die Bindungen zu dem Teil der Familie, der in der Türkei geblieben ist, erhalten bleiben. Schon jetzt haben die meisten Grundschulkinder ihre Großeltern nicht mehr in der Türkei, sondern in Deutschland. Für die zukünftigen Generationen wird die Türkei zwar immer noch das Land ihrer Herkunft, ein Traumland oder Ferienland sein, aber kaum mehr. Türkische Eltern halten den Besuch des MU für erforderlich, da sie befürchten, daß mit dem Verlorengehen der Sprache auch der Familienzusammenhalt leiden würde, daß Sitten und Gebräuche, auf die sie großen Wert legen, verloren gehen könnten. Sie befürchten, daß durch den Besuch der Schule die Kinder einem gewissen Akkulturationsdruck ausgesetzt sind und daher mehr oder weniger Kulturmuster der Mehrheitsgesellschaft übernehmen. Aus diesem Grunde setzten sich vor allem türkische Mütter für die Einrichtung des Türkischunterrichts auch an Schulen ein, an denen es noch keinen Unterricht gab. (Heute würde es die Aufgabe des Türkischen Elternvereins sein, der sich seit ungefähr vier Jahren gebildet hat.) Diese Sorge führt aber auch dazu, daß türkische Eltern, der zweiten Generation ihre Kinder noch so sozialisieren, wie auch sie selbst sozialisiert worden sind. (s.a. Kap. IV) Sie machen aber insoweit Zugeständnisse, als sie es dulden, daß die Kinder untereinander Deutsch sprechen. Die gleichen Argumente, wie sie von den Eltern für ein Festhalten am MU genannt werden, gelten auch für die Lehrer. Zum einen sind sie selber Eltern und haben damit die gleichen Ängste wie diese, zum anderen ist es ihr Beruf, die Sprache zu lehren und ihrer Meinung nach, die nationale türkische Kultur und damit die entsprechenden Sitten und Bräuche zu vermitteln. Ihre Interessensphäre ist die Erhaltung des Istzustands. Obwohl sie sich bewußt sind, daß nur wenige Schüler in die Türkei zurückkehren werden, vermitteln sie Inhalte in der Regel so, wie sie es gelernt haben und es für die Türkei vielleicht heute noch stimmig ist, jedoch hier nicht ungeprüft weiter gegeben werden sollte. Kultur und Bräuche sind nicht statisch, sondern wandeln sich und passen sich den Gegebenheiten an. "Die Kultur von Migranten unterscheidet sich also von der Kultur des Herkunftslandes, Migranten vollziehen eine kulturelle Transformation, die insgesamt auf die Flexibilität und Veränderbarkeit kultureller Ori­ entierung hinweist." (Sting,1995: 127) Nur ein einziger Lehrer stellt die Überlegung an, ob es nicht wichtiger sei, sich ab der siebenten Klasse, auf die Sprache Deutsch zu konzentrieren. Wenn Türkisch unbedingt weiter gelernt werden soll, dann im Fremdsprachenunterricht. Während der Erhalt von Sprache, Sitten und Bräuchen immer wieder angesprochen wird, wird die Religion, die bei in der Fremde wohnenden Ethnien meist einen hohen Stellenwert erhält, nur am Rande erwähnt. Nur wenige Lehrer setzen sich für einen Religionsunterricht in der Muttersprache ein, die meisten sind der Meinung, daß man diesen Unterricht auf Deutsch erteilen sollte. Das kann darauf hindeuten, daß man den Unannehmlichkeiten aus dem Wege gehen will, die man beim Erteilen Religionsunterricht in den Vorbereitungsklassen hatte. Denn obwohl der Koran die Grundlage des Glaubens aller Muslime ist, haben doch die verschiedenen sunnitischen Moscheenvereine ihre eigene Ausprägung. Für Aleviten käme ein sunnitischer Religionsunterricht sowieso nicht in Frage. Die Ablehnung des Erteilens könnte aber auch in der laizistisch­kemalistischen Lehrerausbildung begründet sein, deren Auftrag es ist, die Nation als verbindendes Element darzustellen und nicht den Glauben wie im Osmanischen Reich. (S.a. Schiffbauer, 2000, 47ff) Die Studentin Nurgül stellte erstaunt fest, daß im Muttersprachlichen Unterricht Religionsbücher ausgeteilt wurden. Die hohe Wertschätzung und die Unverzichtbarkeit, die auch auf deutscher Seite der Muttersprache Türkisch zugestanden wird, hat nicht dazu geführt, den MU wie ein 'normales' Fach zu behandeln. Den Schulleitern ist es bisher nur selten gelungen, den Unterricht so in die Stundentafel zu integrieren, daß er nicht als Anhängsel oder gar als eigenständige Schule empfunden wird. Schulleiter und Kollegien haben es auch nicht erreicht, dem türkischen Lehrer das Gefühl von Zweitrangigkeit zu nehmen. Am besten ist die Einbindung der Lehrer noch in den Grundschulen gelungen, wenn versucht wird, den Unterricht der ersten beiden Schuljahre in den Vormittag zu legen. Aber schon im dritten und vierten Jahrgang wandert er in der Regel wieder in den Nachmittag. Es gibt auch immer noch Schulen, in denen nicht einmal die Raumfrage so gelöst worden ist, daß türkische Lehrer sich nicht diskriminiert fühlen müssen. (s.a. Kap. VIII, 5.4) Wiederum ist es die Grundschule, deren Schulleiter die meisten Kenntnisse über die Inhalte haben, die im MU vermittelt werden, z. T. weil an einigen Schulen das Projekt KOALA durchgeführt wird, z.T. durch die Beschwerden von Eltern über die vermittel­ ten Inhalte. Selbst da, wo deutsche Lehrer zu den am Vormittag unterrichtenden türkischen Kollegen ein freundschaftliches Verhalten entwickelt haben, kennen eher die türkischen Lehrer die im Regelunterricht durchgenommen Inhalte, als umgekehrt. Dabei wäre für beide Lehrergruppen die Informationsbeschaffung mit wenig Mühe verbunden, da es für jedes Fach Rahmenpläne gibt und jeder Lehrer, auch der türkische, daraus den Stoffverteilungsplan in deutscher Sprache für das laufende Schuljahr erstellen muß. Beide Lehrergruppen würden die Effizienz des Unterrichts steigern können und mehr von einander erfahren, was zum Abbau von Vorurteilen und zur besseren Einsicht in die Vorhaben des anderen führen würde und vielleicht zu gemeinsamen Projekten. Aufgrund der Rahmen­ und Stoffverteilungspläne müßten aber eigentlich auch die Schulleiter wissen, was im MU gelehrt wird, denn sie erhalten diese Pläne. Man braucht also nicht erst bei Prüfungen zu erfahren, daß die Inhalte sehr national sind und somit nicht unserem Verständnis von Unterricht entsprechen. Die meisten Schulen werden zwar von einer Vielzahl ausländischer Nationalitäten besucht, in der Grundschule im Ostend sind es über hundert, nicht alle erhalten aber Muttersprachlichen Unterricht. Nach dem Zerfall von Jugoslawien dürften es inzwischen fünfzehn verschiedene Nationen sein, die Muttersprachlichen Unterricht als Fach erhalten. (Den anderen Ethnien werden nur die Räume zur Verfügung gestellt, für den Unterricht hat die eigene 'community' zu sorgen.) Das heißt, die Klassenlehrerin müßte zu so vielen Muttersprachlehrern Kontakt aufnehmen, wie sie Kinder aus den Anwerbeländern in ihrer Klasse hat. Daher kennt zwar jeder Klassenlehrer die Fachlehrer, die Lehrer des Muttersprachenunterrichts sind an Schulen, die keine Stammschulen sind, aber nur wenig bekannt. Ich habe mit Lehrern des Regelunterrichts gesprochen, die nicht wußten, ob es an ihrer Schule überhaupt Muttersprachenunterricht gibt. Man sieht die Lehrer höchstens bei den Notenkonferenzen, die zweimal im Jahr stattfinden. Dabei sind die Noten des MU versetzungsrelevant, d.h. sie tragen zur Versetzung des Schülers bei. Muttersprachlehrer hingegen unterrichten wiederum mehrere Klassen an verschiedenen Schulen und kennen daher auch nicht alle Klassenlehrer. Die Interviews mit den vierundzwanzig Schülern und Studenten zum Muttersprachlichen Unterricht ergibt, daß die meisten Schüler den Unterricht wie ein Fach unter anderen empfinden, ein bißchen unbequemer, weil er am Nachmittag stattfindet und in einer anderen Schule, aber oft mit dem Vorteil, keine Aufgaben machen zu müssen. Nur die Realschulgruppe empfindet die Atmosphäre des MU anders und angenehmer als diejenige im Regelunterricht. Sie rechnet dies nicht nur der Tatsache zu, daß der MU nur von Schülern gleicher Nationalität und Mentalität besucht wird, sondern findet, daß auch die Gruppengröße dabei eine Rolle spielt. Die interviewten Schüler sind sich dessen bewußt, daß sie, allein aufgrund der anders verlaufenden Familiensozialisation, einen beträchtlichen Anteil mehr an Leistungen erbringen müssen als die anderen Schüler, um den Anforderungen der Schule gerecht zu werden. Es ist ihnen aber auch bewußt, daß sie der sozialen Kontrolle, gleich ob sie von der Familie, den Verwandten oder der eigenen Ethnie ausgeübt wird, am besten durch eine gute Bildung begegnen können. Eine gute Bildung und Ausbildung macht sie in ihrem Verhalten freier und sicherer und die Kontrollorgane toleranter. Sie können leichter selbst bestimmen, was sie tun und wie sie handeln wollen. Eine entscheidende Rolle spielt im Leben eines jeden Kindes der Schulanfang, der daher auch ein Schwerpunkt meiner Befragung war. In jeder Gesellschaft besteht das Leben eines Individuums aus verschiedenen zeitlichen Abschnitten, die durchlaufen werden. Die Übergänge von einem Lebensabschnitt zum anderen werden von besonderen Riten begleitet. Sie kennzeichnen das Verlassen der einen Gruppe, eine Zeit der Diffusion und die Aufnahme in die neue Gruppe. So werden aus den Kindergartenkindern nach dem fünften Lebensjahr die Vorschulkinder, denen besondere Rechte eingeräumt werden. In dieser Zeit dürfen sie schon einmal allein und ohne Aufsicht in einem Raum spielen und besuchen besondere Kurse, an denen die jüngeren Kinder nicht teilnehmen dürfen. Aus den Vorschulkindern werden die Schulkinder, die mit einer Schultüte begrüßt, langsam an das Leben in der Schulgruppe gewöhnt werden. (s.a. v. Gennep,1986) Schulanfänger müssen die eigenen Vorstellungen mit den Ansprüchen, Erwartungen und Forderungen des Lehrers und der gleichaltrigen Gruppe in Einklang bringen. (Petillon, 1984: 3) Die Erfahrung der Außenbestimmung durch eine neue Zeiteinteilung, neue Anforderungen an Konzentration und Feinmotorik ist zwar für alle neu, für Kinder aber, die aus Familien mit anderen Sozialisationsvorstellungen und ohne Kindergartenerfahrung in die Schule kommen, besonders bedeutend. Ich nahm daher an, daß in dieser Phase der Muttersprachliche Unterricht bei der Integration besonders hilfreich sein würde, was nur von ganz wenigen Schülern bejaht wurde.. Obwohl die Gymnasialschüler berichten, daß die türkische Familie nicht auf die Schule vorbereiten würde, sprechen nur zwei Schüler davon, daß sie den MU in dieser Zeit als hilfreich empfunden hätten. Fatime erinnert sich daran, ihn als beschützend und warm, Mohammed als integrierend und anerkennend empfunden zu haben. Die anderen können sich an nichts Besonderes erinnern. Die meisten haben den MU von Anfang an besucht und halten ihn eher für diejenigen türkischen Kinder wichtig, die erst kurz vor Schulbeginn nach Deutschland kommen. Kinder, die in der Türkei mit der Schule begonnen haben und hier die Klasse wiederholen mußten, weil sie kein Deutsch konnten, empfanden diese Maßnahme als diskriminierend. Diejenigen, die hier aufgewachsen sind, halten den Besuch eines Kindergartens für sich persönlich, aber auch für die anderen türkischen Kinder für wesentlich und bringen ihren Schulerfolg damit in Zusammenhang. Dabei erwähnen sie auch die Vorklasse, die bei fehlendem Besuch des Kindergartens, wegen der späten Einreise, besucht werden sollte. (Leider halten türkische Eltern oft nicht viel vom Kindergarten und noch weniger von der Vorklasse. (s.a. Kap. II, 2.5) und wehren sich dagegen. Eine wichtige Funktion haben die im MU vermittelten Inhalte. Vielen Probanden sind neben Liedern und Spielen die gemeinsamen Feiern in Erinnerung geblieben. Es werden vor allem die nationalen türkischen Feste begangen, obwohl im Rahmenplan für die Grundschule nur die religiösen Feiertage: das Opferfest (Kurban Bayrami) und das Zuckerfest (Seker oder Ramazan Bayrami) und als nationaler Feiertag der 23. April, das Kinderfest, vorgesehen sind. Bei den nationalen Feiern haben sich die Eltern sehr engagiert, sowohl die Eltern als auch Schüler erwähnen dies in ihren Interviews. Man schmückte die Klasse und richtete eine Atatürk­Ecke ein mit Bildern, Sprüchen und Fähnchen. Eine türkische Lehrerin bedauert, daß jetzt an den Feiertagen für die Kinder schulfrei ist und man nicht mehr zusammen feiern kann. Weil die Eltern arbeiten, verlieren die Tage für die Kinder viel von ihrer Bedeutung. An die folgenden nationalen Feiertage erinnern sich alle: An den 23. April, die Eröffnung der Nationalversammlung, diesen Tag hat Atatürk den Kindern zugedacht, den 19. Mai, den Beginn des Widerstands gegen Engländer, Franzosen, Italiener und Griechen und den 29. Oktober, den Tag, an dem die Republik ausgerufen wurde. Analysiert man den Inhalt der Interviews, so stößt man immer wieder auf folgende Aussagen: Wir haben die Geschichte der Republik Türkei kennengelernt (milli tarih) mit den Befreiungskämpfen, den nationalen Feiertagen, die daraus resultieren, die Reformen Atatürks, seine Aussprüche, die Nationalhymne, den Schülereid (s. Fußnote 26) und zwar von der ersten Klasse an. Selbst die Achtung, die dem Lehrer gezollt wird, wird durch die nationale türkische Erziehung verstärkt, denn die Lehrer stehen anstelle von Atatürk, dem Oberlehrer der Nation. Die interviewten, aber auch andere türkische Lehrer, mit denen ich gesprochen habe, unterrichten diese Inhalte ohne zu überlegen, daß sie Schüler unterrichten, deren Eltern zum Teil schon nicht mehr in der Türkei geboren sind und die wahrscheinlich nicht mehr in der Türkei leben werden. Die Lehrer nehmen es den Schulleitern übel, wenn diese sie darauf hinweisen, daß keine Fahne und kein Atatürkbild aufgehängt werden soll, weil dies nicht gewollt und Ähnliches in der Regelklasse auch nicht praktiziert wird. Der Politologiestudent weiß, daß die Deutschen die Verehrung von Atatürk als Personenkult abtun, er versteht es jedoch als etwas anderes und ist stolz auf die türkische Geschichte, die auch ein Teil seiner Geschichte ist und mit der er sich identifiziert, obwohl er, von den Ferien abgesehen, sein Leben in Deutschland verbracht hat. Ähnlich drücken es auch die Realschüler aus, die ebenso stolz auf ihre nationale Geschichte und das türkische Militär sind. Der Student meint zudem, daß deutsche und türkische Lehrer voneinander lernen können. Vor allem sollen die deutschen Lehrer die Achtung der Schüler einfordern, die auch den türkischen Lehrern entgegengebracht wird. Sie hätten ebenso ein Recht darauf, denn sie geben ihr Wissen den Schülern und dafür schulden ihnen die Schüler 'Achtung'. Die Achtung, die die Schüler ihren türkischen Lehrern entgegenbringen, indem sie sich diszipliniert verhalten, fällt der Lehrerin der Integrierten Gesamtschule wie auch dem Realschulrektor auf, der von einem sehr ordentlichen Unterricht spricht und damit auch einen störungsfreien meint. Wie unterschiedlich auch der Unterricht von den einzelnen Schülern empfunden wurde, alle sagen, daß sie ohne ihn nicht ein so gutes Türkisch sprechen und schreiben würden. Das Türkisch, das zu Hause gesprochen wird, beschränkt sich im wesentlichen auf die Alltagssprache und ist dazu oft ein Dialekt. Der Politologiestudent bedauert, daß es ihm trotz MU nicht möglich ist, die Zeitung ohne Wörterbuch zu lesen, und daß er nicht in die neuere Literatur eingeführt worden ist. In der Sekundarstufe I wird kaum zeitgenössische Literatur vermittelt, weil sie nicht mehr unkritisch ist und daher in die türkischen Schulbücher der Oberstufe nur selten Eingang gefunden hat. Bis in den achtziger Jahren sagt Sprache auch etwas über die politische Richtung aus, der man angehört. Wer von den Lehrern als links und progressiv gelten will benutzt vorwiegend den vom 'Türk Dil Kurumu' erarbeiteten Wortschatz, während die Konservativen sich auch der osmanischen Wörter bedienen. So gibt es oft lang anhaltende Streitigkeiten, welches Wort in die Unterrichtsmaterialien Eingang finden soll. Die politischen Richtungskämpfe, die sich in der Türkei abspielten, reichten also bis in den Muttersprachlichen Unterricht in Hessen. Heute gebrauchen die meisten Türken und damit auch die türkischen Lehrer die Sprache viel unbekümmerter und lassen sowohl das eine als auch das andere Wort gelten. Da vor allem die Zeitungen wieder osmanische Wörter verwenden, werden die Angehörigen der jüngeren Schülergeneration sie auch wieder lernen. Den älteren Schülergenerationen aber sind sie nicht so geläufig. Auffallend ist, daß die Schüler nur ganz selten den Ausdruck Muttersprachlicher Unterricht benutzen und eher vom Fach Türkisch spreche, die Gymnasialschüler sogar von der 'Fremdsprache' Türkisch, für die sie genauso hart arbeiten müssen, wie für jede andere Fremdsprache. In den Augen der Schüler hat der Muttersprachliche Unterricht Türkisch den gleichen Stellenwert wie jede andere Fremdsprache. Die IGS­ Lehrerin spricht davon, daß der MU an Wert gewonnen habe, seitdem der Modellversuch 'Türkisch anstelle der zweiten Fremdsprache' an ihrer Schule eingerichtet wurde. Die Frage, ob im MU auch die Situation der türkischen Eltern und ihrer Kinder in Deutschland angesprochen worden ist, wird nur von einer einzigen Schülerin bejaht. Sie sagt, daß ihr MU­Lehrer auch Vergleiche zwischen der Türkei und Deutschland gezogen habe. Türkische Lehrer meinen, daß es schwierig sei, die hiesigen türkischen Kinder zu unterrichten, weil sie aus den unterschiedlichsten Gegenden der Türkei stammen und damit auch unterschiedliche Sitten und Gebräuche mitbrächten. Sie sprechen aber nicht davon, daß sie im Unterricht auch die hiesigen Sitten und Gebräuche thematisiert haben. Eine Ausnahme bildet dabei der Nikolauskult. Der Hlg. Nikolaus, der im vierten Jahrhundert Bischof von Myra, dem heutigen Demre (Türkei) war, schlägt eine Brücke zwischen der Türkei und dem Christentum und nimmt so heute eine Art Alibifunktion im MU für die deutschen Feste wahr. Dabei gäbe es keine Schwierigkeiten, türkischen Schülern auch andere deutsche Feste vom Koran her zu erklären. Den Berichten der interviewten Lehrer und Schüler zufolge kann darauf geschlossen werden, daß die eingangs zitierte Aufgabenstellung des MU, die Erschließung des Umfeldes, in dem die Schüler leben, das Verstehen der eigenen Situation und die Fähigkeit darin zu handeln, nur ansatzweise oder wenig beachtet wird. Ein weiterer Punkt, der über die Integration Auskunft geben kann, ist die Frage nach Freunden und Freundinnen der Probanden. Nur eine einzige Probandin hat noch und alleinigen Kontakt zu den Mitschülerinnen des MU. Eine andere steht in lockerem Kontakt zu einer ebenfalls studierenden Mitschülerin aus dem MU, wobei die Tatsache, daß beide das Abitur gemacht haben und sie zusammen zum Gymnasium fuhren, eine wesentliche Rolle spielen dürfte. Alle anderen haben keine Verbindung mehr zu ihren früheren Schulkameraden des Muttersprachlichen Unterrichts. Selbst die beiden Brüder, die den MU noch besuchen, haben außerhalb des Unterrichts keinen Kontakt diesen Mitschülern. Aus dem Rahmen fallen nur die Realschüler, sie haben wesentlich mehr Kontakt untereinander, zu ihren türkischen Mitschülern und anderen türkischen Jugendlichen als die anderen Interviewten. Zwei Mädchen haben fast nur türkische Freundinnen, eines bewußt, da sie sich von ihnen am besten verstanden glaubt, während das andere meint, daß es sich 'so' ergibt. Zwei andere dagegen sprechen von 'besten' Freundinnen, die keine Türkinnen sind und die sie schon vom Kindergarten und von der Schule her kennen. Die Interviews haben gezeigt, daß eine Integration der Probanden in die Hessische Schule, zwar unterschiedlich, aber im allgemeinen erfolgt ist. Dies ist allerdings nicht ein besonderes Verdienst des Muttersprachlichen Unterrichts. Am sichtbarsten wird die Integration bei den Gymnasialschülern und Studenten. Der Grad von Integration läßt sich auch aus den Kurzfragebögen erkennen. Von den sechzehn Schülern beider Gruppen bezeichnen sich vierzehn als Türken aus Deutschland, nur zwei bezeichnen sich nur als Türken. Beide Gruppen fühlen sich in ihrer Klasse und Schule wohl. Dabei ist die Aussage der Gymnasialschüler höher zu bewerten als die de Realschüler, da sie aus drei verschiedenen Schulen kommen. Acht von neun Schülern wollen ihre Ausbildung in Deutschland machen, nur einer in der Türkei. Wobei noch zu bedenken ist, daß eine Ausbildung, z.B. ein Studium in der Türkei kürzer und billiger ist. Durch die Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechtes zum 1.1.2000 erhalten alle in Deutschland geborenen ausländischen Kinder zu der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern auch die deutsche bis zu ihrer eigenen Entscheidung für eine der beiden, spätestens im 23. Lebensjahr. Bis dahin sind sie Deutschtürken oder türkische Deutsche. Das heißt, in sechs Jahren kommen die Kinder türkischer Eltern, als Deutsche in unsere Schulen. Kann dann der MU oder das Fach Türkisch, von allen als notwendig angesehen und auch gewünscht, in der gleichen Art und unter den gleichen Bedingungen unterrichtet werden wie bisher? Wenn dem nicht so ist, muß damit begonnen werden, Lehrer mit einer anderen Ausbildung einzustellen, bzw. diejenigen, bei denen es möglich ist, weiterzubilden. Die Veränderung der Einstellungspraxis ist bereits überfällig. Zu Beginn der neunziger Jahre, aber spätestens bei Einrichtung des Modellversuchs 'Türkisch anstelle der zweiten Fremdsprache' hätten nur noch türkische Lehrer mit einer Universitätsausbildung eingestellt werden dürfen. Die Lehrer, die das alte Grundschullehrerdiplom der Türkei haben, können in Deutschland nicht an der Universität weitergebildet werden, da ihre Gesamtausbildungszeit kürzer ist, als hier die Zeit bis zum Abitur. Türkische Lehrer mit Universitätsausbildung dagegen könnten ein Zusatzstudium absolvieren. Für die deutschen Schulanfänger türkischer Herkunft braucht man Lehrer, mit einer Ausbildung, die derjenigen der Lehrer im Regelunterricht entspricht, d.h. daß sie mindestens für zwei Fächer ausgebildet sein müssen. Ein Lehrer, der zwei Fächer studiert hat, braucht nicht mehr an verschiedene Schulen zu gehen, da er außer Türkisch das zweite Fach in den Regelklassen unterrichten kann. Die Situation für eine entsprechende Lehrereinstellung ist in der nächsten Zeit recht gut, da im Laufe von zehn Jahren der größte Teil der bis 1980 eingestellten Lehrer in Rente geht. Die Fachberaterin für den MU Türkisch verlangt, daß für das Fach Türkisch gut Deutsch sprechende Lehrer, nach Möglichkeit mit einem Studienabschluß einer deutschen Universität, einzustellen sind. Es gibt bereits jetzt Lehrer und Diplompädagogen türkischer Herkunft, die zweisprachig sind. Beide Gruppen brauchten nur ein relativ kurzes Zusatzstudium, um den oben genannten Bedingungen zu entsprechen. Daneben gibt es seit 1998 die Absolventen der Gesamthochschule Essen, die ein entsprechendes Lehrerstudium mit dem Fach Türkisch durchlaufen haben. Schon jetzt gibt es eine Anzahl von Schulen, die, bedingt durch die Globalisierung, der Forderung nach früher Zweisprachigkeit durch Einführung nach Frühenglisch oder Frühfranzösisch nachgekommen sind. Im Laufe der Zeit wird die Einführung sicherlich flächendeckend erfolgen. In der Grundschule könnte dann die Sprache Türkisch entsprechend dem erteilten Frühenglisch oder Frühfranzösisch im Stundenplan stehen. Lehrerin B. sagt: "Warum sollen diese Kinder Frühenglisch lernen, wenn sie doch schon eine andere Sprache mitbringen". Der Ministerialrat spricht davon, daß die fremde Herkunftssprache auch einen ökonomischen Wert habe, man muß also nur den vorhandenen Wert nutzen. In den Ballungsgebieten ist Frühtürkisch, das die mitgebrachten Sprachkenntnisse berücksichtigt, anstelle des bisherigen MU durchaus denkbar. Unter Umständen muß man dabei auch eine Art Mittelpunktschulen einplanen. An diesen Schulen könnte mit der Alphabetisierung z. B. nach dem KOALA­Modell (s.a. Kap.VII, 2.) gearbeitet werden. In der Sekundarstufe sollte man schon jetzt überlegen, in welcher Weise auch der Computer für den Muttersprachlichen Unterricht zu nutzen ist. Gerade in Gegenden, in denen nur wenige türkische Kinder wohnen, bietet sich sein Einsatz an. Die in Hessen vorgeschriebene Sprachenfolge, daß Englisch, wenn nicht erste, so doch mindestens zweite Fremdsprache sein muß, wird durch das Frühtürkisch nicht tangiert, denn als nächste Fremdsprache müßte dann Englisch gelernt werden. Es wäre gut, wenn die Institution Schule auf dem Gebiet der Einbeziehung der Minderheitensprache Türkisch feste Vorstellungen hätte, ehe alle Schüler türkischer Abstammung bei Schuleintritt die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Die dargelegten Überlegungen haben den Vorteil, daß Türkisch als ein den anderen Fächern gleichwertiges Fach der Hessischen Schule angesehen würde, in den Stundenplan integriert und nicht mehr Anhängsel oder Schule des Herkunftslandes. Die Lehrer wären hessische Lehrer, was sie formal schon seit fast 30 Jahren sind, in Deutschland ausgebildet, im Kollegium integriert und als gleichwertig akzeptiert. Mit einem Unterricht in der genannten Form würde der Sprache Türkisch, deren Sprecher zu der größten Minderheit in Deutschland zählen, der Raum und die Bedeutung zuerkannt, die ihr aufgrund ihrer Größe zustehen. Es gibt auch keinen Zweifel daran, daß die Zahl der Einwohner türkischer Abstammung in den nächsten Jahren, vielleicht Jahrzehnten, allein aufgrund der heutigen demographischen Daten noch steigen wird. Wie schon erwähnt, reisen jedes Jahr 30.000 türkische Ehepartner in Deutschland ein, ist die Geburtenrate höher und die Anzahl der jüngeren Frauen im reproduktiven Alter prozentual größer als bei der deutschen Bevölkerung. Mit einem Unterricht, der sich an die Rahmenrichtlinien hält und mit Hilfe der in diesem Sinne ausgebildeten Lehrer werden die Deutschtürken nicht nur von den Verdiensten ihrer Vorfahren in der Türkei erfahren, sondern auch von denen ihrer Elterngeneration, die, sei es als Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Künstler, Schriftsteller oder Politiker hierher gekommen sind. Es sollen junge Menschen heranwachsen, die sich "nicht vom türkischen Ministerpräsidenten erklären lassen, wen wir in Deutschland wählen sollen oder nicht". (Özdemir, 1999: 13). Sie werden "Bürgerpflichten und Grundstrukturen und Prinzipien wahrnehmen (Wahlrecht, Zivildienst, Wehrdienst). Erst wenn sich der Einzelne als Teil der Gesellschaft empfindet, können sie angemessen ihren Beitrag leisten."

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Metadaten
Author:Ernestine Subklew
URN:urn:nbn:de:hebis:30-0000000165
Referee:Max Matter
Document Type:Doctoral Thesis
Language:German
Date of Publication (online):2003/04/30
Year of first Publication:2001
Publishing Institution:Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
Granting Institution:Johann Wolfgang Goethe-Universität
Date of final exam:2001/07/09
Release Date:2003/04/30
GND Keyword:Hessen ; Türkischer Schüler ; Muttersprachlicher Unterricht ; Biographisches Interview
HeBIS-PPN:101275447
Institutes:Sprach- und Kulturwissenschaften / Kulturwissenschaften
Dewey Decimal Classification:3 Sozialwissenschaften / 37 Bildung und Erziehung / 370 Bildung und Erziehung
Licence (German):License LogoDeutsches Urheberrecht