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Wilhelm von Humboldt leistet zweierlei: I. Er überträgt die Grundfigur des Klassizismus, das Eigene am Fremden zu verstehen, vom Altertum auf die modernen europäischen Nationen mit Hilfe seines Konzepts einer vergleichenden Anthropologie. 2. Er stellt die anthropologisch und geschichtsdiagnostisch zugleich intressierte Frage nach dem Potential, den Voraussetzungen, Bedingungen und Grenzen einer Nation, sich Fremdes aufzuschließen und anzuverwandeln. Damit gelang ihm gegenüber der dem Nationalgeist huldigenden Romantik zwar kein breitenwirksamer, aber ein für die deutsche Klassik richtungweisender Beitrag zur kulturellen Identitätsfindung. Er sollte bis in Goethes Weltliteraturvorstellung fortwirken.
Klima
(2016)
Einer der ältesten Gegenstände der Zukunftsprognose ist das Wetter. Als "Bühne der Götter", von der aus sich gleichermaßen Strafgerichte, Prüfungen und Geschenke über die Menschen ergießen, ist Wetter das Paradigma einer ungewissen Zukunft, an die sich gerade darum bestimmte Wissensformen und Praktiken der Prädiktion knüpfen: Wetterorakel, Lostage, Almanache mit Wetter-Regeln oder auch Prophezeiungen wie die von den sieben fetten und sieben mageren Erntejahren, die Joseph dem Pharao weissagt (1. Mose 41). Während die Antike diesen Techniken mantischer Wettervorhersage eine große Zuverlässigkeit zuspricht, ist mit der Verwissenschaftlichung modernen meteorologischen Wissens die empirisch belastbare Vorhersage kurz- und mittelfristiger Wetterereignisse außerordentlich schwer geworden. Anders das Klima: "Climate is what we expect, weather is what we get". Klima ist Durchschnitt, Dauer und Regelmäßigkeit, Wahrscheinlichkeit und Wiederkehr: der Zyklus der Jahreszeiten, die Erwartbarkeit von Niederschlägen, Temperaturen und Winden, die Häufigkeit bestimmter Wetterverhältnisse in einer gegebenen Region. Es bewegt sich in einem Raum der Extrapolationen, Wahrscheinlichkeiten und Durchschnittsbildungen zwischen Einzelereignissen, deren kontingentes Auftreten in statistische Häufigkeit umgerechnet wird. So wird aus Regentagen eine bestimmte Niederschlagsmenge, aus Wärme- und Kälteperioden werden Temperaturkurven, aus desaströsen Stürmen jahreszeitlich wechselnde Windperioden.
Through the influence of postcolonial studies one tried to cross borders by alleviating all kind of differences such as the experience of strangeness. However, these differences still exist as we can come to know in everyday life. Andrea Leskovec insists on this experience of strangeness as basis for her "Alternativer hermeneutischer Ansatz für eine interkulturell ausgerichtete Literaturwissenschaft" (2009, 2011) based on the ideas of Bernhard Waldenfels. This approach combined with Lösch' and Breinig' theory of transdifference permits a well-founded literary analysis in consideration of current experiences. The exemplary analysis of "Nur Gute kommt ins Himmel" by D. Rajčić provides a first insight into the range of this approach. This includes the terminology for describing phenomena of strangeness in literary textes such as the appropriateness of this approach considering the plurality and diversity of (literary) reality.
Im heutigen Deutschland lebt eine große Gruppe von Einwanderern türkischer Herkunft und ihren Nachfahren. In der Literatur und Publizistik dominierten bis vor kurzem sehr kritische Narrative über sie, insbesondere über die Frauen und ihre Rolle in den Gemeinschaften, die diese Gruppen bildeten. Hatice Akyün, eine junge deutsche Journalistin und Autorin türkischer Herkunft, versucht in vielen Publikationen dieses Bild zu entzaubern. Dem Beispiel ihres eigenen Lebens folgend, beschreibt sie den Alltag einer türkischen Familie aus einer neuen Perspektive. Sie ist gut integriert und erfolgreich tätig in beiden Kulturen, der deutschen und der türkischen, und sie zeigt es zum Beispiel in ihrem Text Einmal Hans mit scharfer Soße mit einem starken Sinn für Humor. Im folgenden Artikel versucht die Verfasserin, den langen imaginären Weg von Hatice aus der Peripherie der deutschen Gesellschaft in ihre Mitte vorzustellen. Die Analyse zielt darauf ab, die Vorurteile über Minderheiten von Einwanderern mit der Realität zu konfrontieren, die aus einer neuen unüblichen Perspektive dargestellt wurde.
In dem vorliegenden Beitrag wird das Augenmerk der Verfasserin auf das publizistische Werk Artur Beckers, eines aus Polen stammenden, hauptsächlich auf Deutsch schreibenden Autors gerichtet. An Hand seiner journalistischen Arbeiten sowie der vor kurzem erschienenen Essaysammlung Kosmopolen soll das Bild einer modernen transkulturellen Identität rekonstruiert werden. Ausgehend von der Lebensgeschichte des Autors werden zunächst seine Wahrnehmung als Schriftsteller in der Öffentlichkeit, sein eigenes Selbstbild sowie sein Umgang mit Sprachen (der Muttersprache Polnisch und der Literatursprache Deutsch) thematisiert. Im Hinblick auf die zunehmende Relevanz der sogenannten interkulturellen Literatur im deutschsprachigen Raum - von der peripheren Stellung der Gastarbeiterliteratur bis zur Begeisterung für Werke der mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichneten Autoren - wird Becker in dem Polysystem der deutschen Nationalliteratur zentral verortet. Anschließend wird seine aktuelle mediale Präsenz in einen Zusammenhang mit den Termini Transkulturalität und Transnationalität gebracht. In seinen neuesten Pressetexten nimmt der Schriftsteller Stellung zu aktuellen innenpolitischen Problemen in Polen und in Deutschland, thematisiert seine persönlichen Erinnerungen und Erlebnisse und rezensiert literarische Neuerscheinungen anderer polnischer Autoren. Im Gegensatz zu seinen literarischen Werken, die von Becker seit 1989 ausschließlich auf Deutsch verfasst werden, beginnt der Autor in der letzten Zeit seine publizistischen Texte auch in der polnischen Sprache zu schreiben. Diesen erneuten Sprachwechsel nach über 20 Jahren reflektiert er selbst als ein großes Ereignis. Im folgenden Teil des Beitrags wird der von Becker aufgegriffene und weiter entwickelte Begriff 'Kosmopolen' rekonstruiert, der nach Ansicht des Autors einerseits für eine bestimmte, von der Nationalzugehörigkeit und dem momentanen Wohnort unabhängige Haltung, andererseits aber auch für einen offenen grenzübergreifenden Raum steht. Indem Becker die Perspektive des Außenbeobachters mit einer Innenansicht einnimmt, erhebt er den Anspruch, als eine objektive Stimme der Vernunft zu gelten. In diesem Zusammenhang wird die vielfältige, transkulturell geprägte Problematik des Essaybandes erörtert.
The bond of shame
(2010)
A long time ago I suddenly realized that the country one belongs to is not, as the usual rhetoric goes, the one you love but the one you are ashamed of. Shame can be a stronger bond than love. I repeatedly tested my discovery with friends from different countries: they all reacted the same way - with surprise immediately followed by full agreement, as if my suggestion was a self-evident truth. I am not claiming that the burden of shame is always the same; in fact, it varies immensely among countries. But the bond of shame - shame as a bond - invariably works, for a larger or smaller number of individuals. Aristotle listed "shame" ('aidos') among the passions, pointing out that "it is not a virtue" ('Nicomachaean Ethics' 1108 a 30-31). This definition still makes sense. Shame is definitely not a matter of choice: it falls upon us, invading us - our bodies, our feelings, our thoughts - as a sudden illness. It is a passion placed at the intersection between biology and history: the domain which Sigrid Weigel made so distinctively her own.
'The Making of Americans' wurde 1903 begonnen, 1905/6 zugunsten des Erzählbands 'Three Lives' unterbrochen, 1906 und 1908 komplett umgeschrieben und 1911 schließlich abgeschlossen (also viel früher als 'Ulysses' und 'À la recherche du temps perdu'). Zur Veröffentlichung des Romans kam es allerdings erst 1925, was die öffentliche Wahrnehmung des Textes als einer Urszene der Moderne stark beeinträchtigt hat. Aber es gibt auch noch andere Gründe, weshalb 'The Making of Americans' rasch in Vergessenheit geriet: der riesige Umfang des Romans (fast 1000 Seiten) und seine serielle Wiederholungsstruktur sorgten dafür, dass er einer größeren Leseöffentlichkeit bis heute weitgehend unbekannt blieb. Steins Aufkündigung der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts fiel noch radikaler aus als Prousts und Joyces Romanexperimente. Es gibt aber durchaus Gemeinsamkeiten: alle drei Autoren machen die Prozesse des Erinnerns, Denkens und Fühlens zur Grundlage der Darstellung im Roman und verzichten auf die teleologische Konsequenz kausaler Verknüpfungen zugunsten des verdichteten Augenblicks. Schon im ursprünglichen Entwurf von 'The Making of Americans', der auf den ersten Seiten des Romans noch erkennbar ist, sind erste Anzeichen für den Bruch mit der Erzählform erkennbar. Stein wollte Amerika als neue Nation schildern, "whose tradition it had taken scarcely sixty years to create". Im Mittelpunkt sollten drei Generationen zweier Immigrantenfamilien stehen, die Dehnings und die Herslands. "The old people in a new world, the new people made out of old, that is the story that I mean to tell, for that is what really is and what I really know." Obwohl sie den Roman als Gesellschaftspanorama anlegte, konzentrierte sich Stein von Anfang an auf das Privatleben ihrer Protagonisten. Im Gegensatz zu den Realisten des 19. Jahrhunderts, die den Konflikt von Neigung und Pflicht, von sozialen Normen und subjektiver Moral in den Mittelpunkt der Handlung stellten, folgte Stein dem Programm des Naturalismus und richtete ihr Interesse nicht auf die Handlungen und Handlungsspielräume der Subjekte, sondern auf die gesellschaftlichen Kräfte, die Subjektivität formen und prägen. Der Titel 'The Making of Americans' fasst die Ausbildung amerikanischer Identität als einen beinah industriellen Herstellungsprozess sozialer Identität und deutet darin ein erstes Motiv für eine serielle Schreibweise an.
Im Folgenden werde ich in vier Schritten die Möglichkeit einer historischen Neuschöpfung des freien Raumes nach der Katastrophe des sowjetischen Totalitarismus aus der Bewusstseinsphilosophie Merab Mamardašvilis ableiten. Im ersten Schritt stelle ich Merab Mamardašvili und den Kontext seiner Bewusstseinsphilosophie vor. Im zweiten Schritt werde ich auf sein Verständnis des freien Raumes eingehen. Der freie Raum entsteht, wenn der biologische Mensch zum kulturellen Menschen wird, d. h. wenn er kraft seiner persönlichen Anstrengung einen "Denk-Akt" bzw. "philosophischen Akt" vollzieht und dadurch aus dem Bereich des Individuellen in den Bereich des Universellen übertritt. Mamardašvilis Versuch, dieses Modell auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu übertragen, kann als Kommentar zum Spätwerk Kants gelesen werden, auf den ich in einer Art Exkurs im dritten Schritt eingehe. Im vierten und letzten Schritt wird gezeigt, dass Mamardašvili, anders als Kant, nicht von der Begründung bzw. Begründbarkeit des ständigen und unausbleiblichen Fortschritts der Menschheit zum Besseren ausgeht, sondern umgekehrt von der ständigen Bedrohung des Kulturzustands durch einen Rückfall in die Anomie und Amorphie. Deswegen reichen, anders als bei Kant, allein die empirischen "rechtlichen" Gesetze nicht aus, um einen Fortschritt zum Besseren zu garantieren. Für Mamardašvili müssen vielmehr die Gesetze des Bewusstseins ständig zur Geltung kommen. Sie sind einerseits Bedingung endlicher kultureller Formen (z. B. empirischer Gesetze oder des Nationalstaats), die Mamardašvili als Träger des Unendlichen bzw. des Universellen versteht. Andererseits müssen die Gesetze des Bewusstseins ständig durch die Anstrengung der Menschen zur Geltung gebracht werden, damit man nicht in den Zustand der Anomie und Amorphie zurückfällt. Gerade daran, ob die Gesetze des Bewusstseins zum Ausdruck kommen oder nicht, knüpft Mamardašvili die Möglichkeit einer historischen Schöpfung an.
Im Folgenden sei der Versuch unternommen, allein Roths Arbeit am Begriff der Grenze vorzustellen, dies unter Rückgriff auf vor allem zwei Texte, deren Verschiedenheit die Spannweite nicht nur der formalen Mittel, sondern auch der Konzeptualisierungsfähigkeit, über die Roth verfügte, anschaulich machen mag.
Im Folgenden [möchte ich] Licht auf exemplarische Krim-Schauplätze werfen - allen voran auf den Marinestützpunkt Sevastopol, die Künstlerkolonie Koktebel und den Nobelkurort Jalta, an denen im Zusammenhang mit der russischen Aneignung der 'terra incognita' eine nationalromantische Verklärung der Halbinsel deutlich wird, indem sie zu Schauplätzen des Sendungsbewusstseins eines russischen und später sowjetischen Imperiums wurden. Zudem werden Versuche von russischen bzw. russischsprachigen Schriftstellern aus der Zeit um 1900, aus der sowjetischen und der postsowjetischen Zeit dargestellt, die Halbinsel als geokulturelle Einheit jenseits hegemonialer Ordnungen und imperialer Legitimierungen zu begründen. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach den diskursiven Verfahren zur Erzeugung des Krim-Raums, in denen im Rekurs auf die Geographie, als dessen grundlegendes Prinzip, die Beziehung von Land und Meer betont wird.