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Ich würde sagen, dass diese Stabilität die Grundvoraussetzung auch von Zeugenschaft in anderen Kontexten ist, etwa im Gericht, im Journalismus oder in der Politik. Letztlich in allen Kommunikationsformen, mit denen wir die Wirklichkeit abzubilden, zu beschreiben und letztlich herzustellen versuchen. Wenn die Identität des Zeugen nicht eindeutig ist, dann ist er für eine zuverlässige Aussage unbrauchbar. Diese ist aber für eine dokumentarische Erzählung bzw. für den nicht-fiktionalen Vertrag zwischen Publikum und Produktion eine Voraussetzung. Es muss klar sein, dass die aussagende oder bezeugende Person auch tatsächlich diejenige ist, für die sie sich ausgibt. Das ist eine Grundbedingung aller dokumentarischen Genres, eine notwendige Fiktion, mit der wir eine Vorstellung von Wirklichkeit produzieren. Wir gehen davon aus, dass der Journalist und sein Gesprächspartner in einem Fernsehinterview "echt" sind und sich nicht im Nachhinein als Betrüger herausstellen; wir gehen davon aus, dass die Person, die über Folterungen in Konzentrationslagern berichtet, diese auch tatsächlich selbst erlebt oder zumindest gesehen hat. Von dieser Grundbedingung müssen wir ausgehen, um gemeinsam eine stabile Idee von Wirklichkeit zu entwickeln, über die wir uns verständigen können. In der alltäglichen Erfahrung blenden wir diesen produktiven Aspekt der Konvention meistens aus, müssen ihn sogar ausblenden. Das wirkt auch ins dokumentarische Theater hinein: Wenn jemand mit seinem eigenen Namen auftritt, ordnen wir die Aussagen seiner Person zu.
Wie ich zeigen wollte, führt Oppenheimers Film "The Act of Killing" die obengenannten Schwierigkeiten im Umgang mit Täterzeugenschaft ins Extrem. Der Film verzichtet darauf, die Äußerungen der Täter aus dem Off zu kommentieren, zu überprüfen oder ihnen Kontra zu geben. Die Opfer sind – in den Zeugnissen der Täter wie auch in den Bildern des Films – auf gespenstische Weise abwesend. "The Look of Silence" nimmt zum ersten Film eine geradezu komplementäre Strategie ein: Er macht die Opfer als Subjekte sicht- und hörbar – aber nicht, indem er die Opfer in den Zeugenstand ruft, sondern indem er sie zu 'Zuhörern des Zeugnisses' macht. "The Act of Killing" und "The Look of Silence" können als zwei Teile eines Ganzen betrachtet werden, in dem die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit eines Dialogs von Tätern und Opfern in Indonesien heute aufgezeigt wird. Zugleich zeigt das Doppelfilmprojekt, dass es dazu keine Alternative gibt, wenn die Wahrheit zur Sprache kommen soll.
Dieses 'richtige' Sehen des Zeugen, das im Gerichtstheater entwickelt und eingeübt wird, hat indes nicht nur Konsequenzen für die Rechtsprechung, sondern auch für die Künste. In diesem Modell der Zeugenschaft ist eine Theorie von Rezeption versteckt, die Wahrnehmung und Perzeption immer dem Bewusstsein und der Apperzeption nachordnet: Sinnliche Wahrnehmung ist erstens nur dann etwas wert, wenn die Wahrnehmungsperspektive bereits eingestellt ist, wenn also die ideologische Brille bereits aufgesetzt ist. Zweitens ist die Rezeption nicht einfach passiv, das Ereignis der Rezeption nicht unbedingt vorgängig. Ganz im Gegenteil wird ein Modell von aktiver Rezeption, in unserem Fall von "aktiver Zeugenschaft" entwickelt, in der das Ereignis überhaupt erst geschaffen wird. Drittens antizipiert das Konzept des Bekenntniszeugen das Masternarrativ des sozialistischen Realismus, die Entwicklung zum 'richtigen' Sehen, die man in den 1930er Jahren auch in den großen Romanen wiederfindet . Wir möchten nun diesen neuen Zeugentypus, den wir nicht Bekenntniszeugen, sondern in Anlehnung an Lenins Geschichtsbegriff "Bewusstseinszeugen" nennen, in seinen vielen Facetten vorstellen und diskutieren, wie das Gerichtstheater mit diesem Zeugen ein Rezeptionsmodell entwirft, das gesellschaftlich, juristisch und ästhetisch wirksam wird.
Wir alle wissen, was ein Zeuge ist: Ein Zeuge ist ein Beobachter, der über das, was er gesehen oder gehört hat, möglichst wahrheitsgemäße Aussagen machen soll. Wird der Auftritt des Zeugen wiederum beobachtet, sind noch komplexere Beobachtungsverhältnisse im Spiel, es entsteht die Situation einer Beobachtung zweiter Ordnung, die in Gerichtsverhandlungen die Regel ist. Der Zeuge wird dort in den Zeugenstand gerufen, er wird befragt und macht seine Aussage vor den Augen des Gerichts und der anwesenden Öffentlichkeit.[...] Es waren die Ideale der Aufklärung, die dem geheimen Prozess ein Ende bereiteten. Aufklärung – das hieß in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch und gerade im Recht: Nichts soll mehr unbeobachtet im Verborgenen entschieden werden. Ich komme im Folgenden auf den damit verbundenen medialen Wandel im Strafverfahren zu sprechen und will die Zeit des Übergangs vom schriftlichen zum mündlichen Prozess näher beleuchten und in einer These schürzen, die sich mit der Rolle der Literatur in dieser Übergangszeit beschäftigt. Meine These lautet kurz gefasst: Der Übergang zum öffentlich-mündlichen Gerichtsverfahren ist mit einer Dramatisierung des Rechts verbunden, die in der unmittelbaren Beobachtung des Zeugenauftritts ihre Schlüsselszene hat.
Der vorliegende Band nimmt künstlerische Auseinandersetzungen mit Zeugenschaft im Film, im Theater, in der Literatur, in der Bildenden Kunst und in der Performancekunst in den Blick und stellt dabei grundlegende Fragen: Was gilt als Zeugnis und wer ist ein Zeuge? Wie verhalten sich Zeugnis, Wahrheit und Fiktion zueinander? Wie wird Zeugenschaft, wie wird die epistemische und moralische Rolle von Zeugnissen in der Kunst reflektiert und kommentiert? Dabei werden gattungsspezifische Aspekten der jeweiligen Kunstformen herausgearbeitet, aber auch allgemeinere Fragen über das Verhältnis von Kunst und Zeugenschaft thematisiert. Gewinnen wir, indem wir uns mit künstlerischer Zeugenschaft auseinandersetzen, auch einen neuen Blick auf Begriff und Phänomen von Zeugenschaft? Oder ist ein solch allgemeiner Begriff von Zeugenschaft gar nicht anzustreben angesichts der kaum überschaubaren Fülle unterschiedlicher Phänomene des Zeugnisgebens? Fragen über Fragen, auf welche dieser Band Antworten sucht. Doch wir möchten an dieser Stelle auch einige Thesen darüber artikulieren, welche Facetten von Zeugenschaft ganz spezifisch durch Kunst in den Blick geraten – und wodurch sich insbesondere die künstlerische Auseinandersetzung mit Zeugenschaft vom Umgang mit Zeugen und Zeuginnen in anderen Kontexten unterscheidet.