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Interpretationen verfahren bei längeren literarischen Texten gekonnt selektiv: Sie nehmen bestimmte Stellen wichtig und vernachlässigen andere. Wie verfährt dieser Selektionsprozess und wie müsste eine Interpretationstheorie konzipiert sein, die die Praxis der gekonnten Aufmerksamkeitsfokussierung angemessen berücksichtigt?
Die Lektüre des Essays "Sichtbar" von Sasha Marianna Salzmann machte mich darauf aufmerksam, dass jedes Prinzip der Kanonisierung, egal wie inklusiv gedacht, nie ohne einen - vielleicht auch unbeabsichtigten - Ausschluss geschehen kann. [...] Als ich dann gebeten wurde, die Frage von 'Behinderung' im Literaturkanon zu skizzieren, tauchte eben jenes Problem - Ausschluss durch Festlegung - wieder auf. Entstanden ist ein Panorama, das mich an die Grenzen dessen, was landläufig Literaturwissenschaft genannt wird, gebracht hat. Fangen wir aber auf der anderen Seite an: Um zu verstehen, was mit Behinderung als Teilaspekt eines diversen Literaturkanons gemeint sein kann, müssen wir wissen, was wir von der Literatur überhaupt wissen wollen.
Betrachtet man die Lesebiographien vieler Schüler:innen und Studierender, so fällt auf, dass diese meistens von weißen, deutschen, männlichen Autoren geprägt sind bzw. ausschließlich aus diesen bestehen. Dies widerspricht jedoch ganz klar der Vielfalt und Diversität der Literaturlandschaft. Angeregt durch das Seminar "Was lesen? Kanonfragen an Universität und Schule" bei Frau PD Dr. Wernli im Wintersemester 2021/22 habe ich mir als Lehramtsstudent und angehender Deutschlehrer folgende Frage gestellt: Inwieweit wird diese ungerechte Geschlechterdifferenz und Unterrepräsentanz von Autorinnen institutionell von unserem Lehrplan Deutsch gefördert und wie verankert ist diese Differenz in unseren Lehrplänen?
Im Sommersemester 2021 habe ich an der Universität Mainz ein Seminar zum Thema "Kanon und Diversität" unterrichtet. Ziel war, meinen eigenen Lektüre-Horizont und denjenigen der Studierenden zu erweitern. Auf das Seminarprogramm setzte ich vor allem Gegenwartsliteratur und auch Neuerscheinungen, die ich gerade gelesen oder noch lesen und diskutieren wollte und von denen ich mir eine Erweiterung des Horizonts erhoffte. Kürzere theoretische Texte und literarische Erzählungen wurden als pdf zur Verfügung gestellt, drei Romane sollten ganz gelesen werden, nämlich Fatma Aydemirs "Ellbogen" (2017), Olivia Wenzels "1000 Serpentinen Angst" (2020) und Sharon Dodua Otoos "Adas Raum" (2021).
Die Berücksichtigung in Literaturgeschichten gilt als notwendige Bedingung, dass Au-tor*inn*en postum Aufmerksamkeit zuteilwerden kann. Gesellschaftliche Prozesse der Kanonisierung werden von Literaturgeschichten nicht nur beobachtet und dargestellt, vielmehr wirken diese selbst als einflussreiche Kanoninstanz. Bislang wurden Aussagen über "Kanon und Kanonisierung als Problem der Literaturgeschichtsschreibung" meist nur durch Hypothesenbildung oder anhand von Fallbeispielen gemacht. Eine breite empirische Untersuchung literaturgeschichtlicher Kanonisierungsprozesse steht aus.
Männlichkeit zeichnet sich durch Praktiken aus. Und einer dieser Praktiken besteht eben darin, Repräsentationsorte von und für Männlichkeit bereitzustellen. Insofern fiktionale Werke einen erheblichen Anteil am individuellen oder sozialen Selbst Verständnis haben, ist auch deren Kanonisierung als eine solche Macht-Praktik von Interesse. Kanones wie Männlichkeit werden zu Angelegenheiten ihres 'Machens' - und sind darin aufeinander verwiesen.
Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.
Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.