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Was ist heut' des Deutschen Größe? : Weimarer Klassik, nationale Identität, kulturelles Gedächtnis
(2006)
Auf den naiven ersten Blick verstehen sich die drei im Untertitel genannten Kategorien von selbst, wobei es heutzutage leichter sein dürfte, weiterhin selbstverständlich von der "Weimarer Klassik" zu reden, schwerer jedoch, diese als integralen Bestandteil einer nationalen Identität der Deutschen zu behaupten. Zu fragen bleibt also immer wieder neu, was die "Weimarer Klassik" denn darstellt, welche Rolle diese im kulturellen Gedächtnis der "deutschen Nation" (was immer denn beides ist) spielt und ob so etwas wie eine "nationale Identität" mit dem "kulturellen Gedächtnis" und der "Klassik" heute noch zu tun hat. Zudem wäre zu klären, ob wir über die vergangene, die gegenwärtige oder eine gewünschte, zukünftige historische Rolle und normative Geltung dieser drei Kategorien sprechen.
Der »Weimarer Musenhof« – vom Fürstenideal zur Finalchiffre : eine erinnerungskulturelle Spurensuche
(2007)
So richtig es ist, daß der Mythos vom Musenhof, mithin auch der von seiner Gründerin Anna Amalia, gerade in den letzten Jahren kritisch beleuchtet worden ist, so interessant ist der Befund, daß zahlreiche Spuren im kollektiven Gedächtnis, die auf die Herzogin und deren wirkliche wie ideelle Erben – also den mäzenatisch engagierten Carl August, dessen Schwiegertochter Maria Pawlowna, Amalias Urenkel Carl Alexander und deren Urururenkel Wilhelm Ernst – verweisen, systematisch nicht in größerem Umfang gesichert worden sind. So fundiert inzwischen unser Wissen um jene kulturelle Blüte einer deutschen Doppelstadt um 1800 auch ist – nicht zuletzt durch die wissenschaftlichen Aktivitäten der Klassik Stiftung Weimar sowie in noch größerem Maße durch die eines Jenaer Sonderforschungsbereiches – so deutlich ist, daß eine Erinnerungsgeschichte des Weimarer Musenhofs, seiner legendären Gründerin Anna Amalia und deren direkten Nachfolgers Carl August noch zu schreiben wäre. Doch gerade im so genannten langen 19. Jahrhundert müßte man die meisten Spuren jenes schon in der »Klassik« einsetzenden »Gedächtnistheaters« erst noch sichern. Das gilt vor allem für eine gründliche Auswertung wichtiger Literatur- und Politikgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts, eine systematische Analyse populärer Literatur über Weimar und dessen Fürstenhaus sowie der zahllosen Reisehandbücher und Reiseführer, die seit den Tagen des Vormärz über die Klassikerstadt oder Thüringen veröffentlicht worden sind. Es ist also weder understatement noch eine captatio benevolentiae der üblichen Art, wenn sich dieser Beitrag explizit als Skizze versteht, die Befunde und Einschätzungen des Verfassers mit Forschungsergebnissen anderer Kolleginnen und Kollegen synthetisiert, ohne weiterhin offene Fragen damit zu überspielen.
Die folgende Skizze verbindet Betrachtungen zur Wirkungsgeschichte des Deutungsmusters „Goethe und Bismarck" (ohne sich jedoch an die zeitlichen Grenzen des Weimarer „Silbernen Zeitalters" halten) mit der Schilderung von Ereignissen im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, die in direkter Beziehung zur zeitgenössischen Goethe- und Bismarckverehrung stehen. In diesem Zusammenhang sind der Besuch Bismarcks in Jena 1892 sowie die Erbauung des Weimarer Bismarck-Turmes 1900/1901 von besonderem Interesse. Nicht geleistet werden kann an dieser Stelle eine lückenlose Rekonstruktion der regionalen Fest- und Feierkultur, in der sich die Verschränkung von „Goethe" und „Bismarck" — über die hier thematisierten Ereignisse hinaus — nachzeichnen ließe. Doch dienen die folgenden Bemühungen der Rekonstruktion eines kulturellen Klimas und der entsprechenden Diskurse, in dem während der Jahrzehnte zwischen den sogenannten „Einigungskriegen" und dem Ersten Weltkrieg über Leistungen und Chancen des „klassischen Erbes" für Weimar und Deutschland debattiert wurde.
Weimar ohne Goethe gibt es nicht im Bewußtsein der Weltkultur. Die Stadt verdankt ihren Mythos zuallererst der originären Gestalt Goethes, dem bürgerlichen Dichter, der zum Anbruch der Moderne neue Bereiche des Fühlens und Denkens literarisch-poetisch erschließt, der hier den größten Teil seiner Lebenszeit verbringt. Aber daß "die berühmtesten Deutschen [...] lange hier gewohnt, dafür kann man billigerweise Weimar selbst nicht verantwortlich machen. Der Ort ist keine Fabrik berühmter Leute", wußte man bereits kurz nach Goethes Tod.
Das Faszinosum Weimar in seiner sich selbst überlassenen Modernität gründet nicht zuletzt in der Mischung von hochartifizieller Weltbetrachtung und bis heute uneingelösten philosophischen Maximen. Gerade jene Postulate - vom zielgerichtet individuellen, imperativisch-unverbindlichen "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" bis zum kollektivistisch orientierten Gedanken des Weltbürgertums - boten durch Zeiten und Kriege eine Utopie des schönen Scheins, die immer irgendwo zitabel und stets irgendwie variierbar war. Zudem sicherte die Verschränkung von Weltbürgertum und Humanitas, deren Kerngedanke recht gut mit der Goetheschen Aufforderung zu solidarischem Handeln und Gutsein umschrieben werden kann, dem Zitat seinen Aufstieg zur klassischen Sentenz und allen damit verbundenen sittlichen Unverbindlichkeiten.
Die Auffassung, daß Goethes Überlieferungspraxis vornehmlich davon diktiert sei, "der Flüchtigkeit des Geschehens und Geschriebenen durch schriftliche Aufzeichnungen dauerhaft entgegenzuwirken" und "für die Nachwelt [...] einen Fundus zu gestalten" oder von einem "elementare[n] Bedürfnis nach Ordnung in Lebensführung und Gestaltung", dürfte schon der von Goethe selbst demonstrierte Umgang mit seinem Nachlaß entgegenstehen. [...] Mittlerweile herrscht auch in der traditionellen Germanistik Konsens, daß Goethes "grundsätzlicher Status autobiographischen Schreibens [...] nicht eigene Identität gleichsam objektiv dar[stellt], sondern [er] 'erschreibt' sie als spezifische Identität mit dem Zielpunkt der Schreibgegenwart", wie es Benedikt Jeßing [...] im neuen Goethe-Handbuch formuliert.
Die Hoffmannsche Buchhandlung ist die älteste in Weimar; ihr Ursprung läßt sich bis ins Jahr 1732 zurückverfolgen. Ihre Geschichte in der zweiten Hälfte des 18. und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts spiegelt die Entwicklungsphasen des Verlagsbuchhandels in dieser Zeit deutlich wider. Das betrifft sowohl die interne typologische Entfaltung, kurz gesagt der Weg zum Kommissions- und Sortimentshandel, als auch die zeitbedingten Fortschritte und Krisen in den bewegten Jahrzehnten um 1800. [...] Die Hoffmannsche Buchhandlung und das 1791 von Bertuch gegründete Landes-Industrie-Comptoir können ohne Zweifel deshalb besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, weil sie in einem kulturgeschichtlich bedeutsamen lokalen Umfeld, dem "vorklassischen" und "klassischen" Weimar, agierten. Unter diesem Gesichtspunkt erhalt eine Hauptfrage an die Thüringer Verlagsgeschichte dieser Zeit einen besonderen Akzent: Gelingt es den in den Fürstlichen Residenzen tätigen Verlagsbuchhändlern, über die speziellen lokalen und regionalen Verpflichtungen und Bindungen hinaus eine literarische Produktion von überregionaler Bedeutung auf den Markt zu bringen? In Weimar, aber auch mutatis mutandis in Gotha, entstanden im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts besondere, fördernde Bedingungen für eine solche höhere Geltung und überregionale Wirksamkeit, die es im einzelnen nachzuweisenund darzustellen gilt.
Goethe und Göttingen, insbesondere Goethe und die Göttinger Universitätsbibliothek - Bemerkungen zu diesem Thema werden sicher von einem Referenten aus Weimar erwartet. Ich kann das nicht versuchen ohne den sofortigen Hinweis auf die respektablen Arbeiten und Veröffentlichungen von Elmar Mittler und seinen Mitarbeitern im Goethe-Jubiläumsjahr 1999. Mit einer Ausstellung, einem Ausstellungskatalog und einem Studienband wurden diese Beziehungen vorzüglich aufgearbeitet und analysiert; all das kann und muss hier nicht wiederholt werden. So bleibt uns in Weimar und Jena vor allem, auf dieser Grundlage den übergreifenden Kontext für den Bibliothekstheoretiker und -praktiker Goethe und in diesem Zusammenhang besonders die Wirkungen und Folgen, die das Göttinger Erlebnis von 1801 für Goethe hatte, zu beschreiben und möglichst neue Erkenntnisse hinzuzufügen. Ich gehe dabei von Goethes bekanntem Satz über die Göttinger Bibliothek aus, den ich aber einmal anders, nämlich in seiner Textgenese, vorstellen möchte. Wie dieser Satz bezeugt, war das Göttinger Bibliothekserlebnis nicht nur von herausragender Bedeutung für Goethe, es hat auch nachhaltig gewirkt. Dies soll mit einigen Streiflichtern zu Goethes bibliothekarischem Wirken nach 1801, insbesondere im Zusammenhang mit der Erneuerung der Jenaer Universitätsbibliothek, erläutert werden.
Gegen meine Gewohnheit beginne ich mit einer Art von Vorbemerkung, wie ich sie sonst zu vemeiden suche: Ich muß zunächst sagen, was ich "nicht" leisten kann, was "nicht" von mir zu erwarten ist: Es wäre vemessen, wollte ich in einem kurzen Vortrag generell die Rolle nachzuzeichnen versuchen, die die NFG (also die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar) in der Erbepflege der DDR spielen sollten und gespielt haben.[...] Es ist nicht meine Absicht, hierzu einen substantiellen Beitrag zu leisten. Was ich anbieten kann, sind einige unsystematische, bewußt subjektiv bestimmte Überlegungen, sind Gedanken und Erinnerungen eines Dabeigewesenen zum Thema "Gewinn und Verlust" dieser Epoche in der Archäologie unserer Stadt. [...] Jedem, der hier [in Ostdeutschland] vor und nach der Wende von 1989 gelebt hat und tätig war, ist selbstverständlich bewußt, daß es dabei Gewinn "und" Verlust zu registrieren gibt und daß beides vielfach in der gleichen Erscheinung zutage tritt. Das gilt natürlich auch im Falle der NFG, und es dürfte sich lohnen, hier einmal genauer und differenzierter über diese Bilanz nachzudenken. Ich bin weit davon entfernt, sofort den Saldo ziehen zu wollen. Als Vorarbeit dazu möchte ich lediglich den Blick auf einzelne Rechnungsposten legen, die mir besonders wichtig und interessant erscheinen. Ich erwarte dabei keine ungeteilte Zustimmung: für andere, ebenso Dabeigewesene wird sich in manchem Punkt ein anderes Bild ergeben. Ich nehme aber das Recht in Anspruch, die Maßstäbe zur Beurteilung aus den gegebenen Bedingungen des Lebens in der DDR zu nehmen.
Es liegt nahe, in dieser ebenso kurz wie prägnant auftretenden literarischen Figur der "Wahlverwandtschaften" ein konkretes historisches Vorbild zu vermuten. Bereits im 1916 veröffentlichten Registerband der Weimarer Ausgabe wurde sie mit dem Engländer Charles Gore identifiziert, eine Annahme, die seitdem mehrfach wiederholt wurde, freilich ohne auf ihren Erkenntnisgehalt hin geprüft worden zu sein. Gore, ein kultivierter Privatier, Schiffskonstrukteur und begabter Amateurzeichner, lebte mit seinen beiden Töchtern Eliza und Emilie von 1791 bis zu seinem Tode 1807 in Weimar und pflegte engen Kontakt zu dessen Gesellschaft. Vorausgegangen war ein fast zwanzigjähriges Reise leben, das 1773 mit einem durch den angeschlagenen Gesundheitszustand der Gattin bedingten mehrmonatigen Aufenthalt in Lissabon begonnen und die Familie seitdem durch weite Teile des europäischen Kontinentes geführt hatte. Die Konvergenz beider Figuren ist in der Tat höchst bemerkenswert. Sie soll im Folgenden näher untersucht werden, wobei vor allem der ästhetische wie pädagogische Nutzen ihres Wirkens herauszuarbeiten sein wird. Ein Verfahren, das den literarischen Text und den historischen Sachverhalt gleichermaßen in den Blick nimmt – wohlgemerkt unter Voraussetzung der jeweiligen Eigengesetzlichkeiten –, erlaubt dabei zweierlei: zum einen Einsicht in die Werkstatt des Dichters, der, vom Eindruck einer zeitgenössischen Persönlichkeit ausgehend, diese literarisch verarbeitet. Zum anderen vermag eine quellengestützte Untersuchung jene faszinierende Wirkung zu rekonstruieren, von der in den "Wahlverwandtschaften" nur eher andeutungsweise die Rede ist, erlaubt mithin eine kommentierende Deutung des Textes. Wie zu zeigen sein wird, vermögen beide Perspektiven das Phänomen ›Gore‹ auf aufschlussreiche Weise zu konturieren.