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Über die Kanonisierung eines literarischen Werkes entscheidet […] die Nachwelt. Gelegentlich ist jedoch bereits die Produktion durch kanonischen Geltungsanspruch geprägt. Dantes „Commedia“ und Klopstocks „Messias“ sind besonders markante Beispiele […]. Ein Vergleich von Dante und Klopstock kann sich allerdings nicht auf einen direkten Rezeptionszusammenhang berufen. […] Es geht hier vielmehr um einen kontrastiven Vergleich zweier Werke, die im Selbstverständnis ihrer Autoren, im Erzählstoff, in der literarischen Gestaltung und auch in der unmittelbaren Aufnahme durch die Zeitgenossen bemerkenswerte Gemeinsamkeiten aufweisen, deren spätere Rezeption aber diametral auseinanderläuft […] Wie haben diese Autoren ihren kanonischen Geltungsanspruch […] inszeniert? Warum wurde Dantes Werk auf Dauer im Kanon etabliert, Klopstocks hingegen nicht? Meine […] Antworten auf diese Fragen lassen sich vorweg in drei Thesen zusammenfassen: - Die selbstinszenierte Kanonisierung erfolgt bei Dante wie bei Klopstock im Rahmen einer religiös fundierten Poetik, in der das Konzept einer fiktionalen Literatur keinen Platz hat. - In beiden Fällen wird die religiöse Legitimationsstrategie jedoch durch den Einsatz fiktionaler Elemente zirkulär und damit theologisch prekär. - Das Gelingen bzw. Mißlingen einer dauerhaften Kanonisierung ist im unterschiedlichen Potential beider Werke begründet, unter den veränderten Bedingungen eines modernen, autonomen Literaturbegriffs rezipierbar zu bleiben.
Zentrale Voraussetzung einer differenzierten Bewertung der germanistischen Online-Lehre wäre, zunächst die Rolle der Germanistik in der digitalen Gesellschaft sowie den Wert digitaler Bildung zu bestimmen. Dazu wiederum wäre es wichtig, das Wissen, die Methoden, die Begriffe und Fragestellungen der Germanistik in ein Verhältnis zu den Potenzialen und Problemen der digitalen Gesellschaft zu setzen. Zwar adressieren Arbeitsgruppen in den Fachverbänden diese Aufgabe, die germanistischen Teildisziplinen gehen damit aber unterschiedlich um. Als Teildisziplin hat somit auch eine medienkulturwissenschaftlich ausgerichtete (Gegenwarts-)Literaturwissenschaft die Pflicht, nach den Folgen des Medienwandels und der vernetzten Kommunikation im World Wide Web für die Literatur, ihren Betrieb und für die literaturwissenschaftliche Forschung und Lehre zu fragen. Auf einer Konferenz zum Thema "Während und nach Corona: Digitale Lehre in der Germanistik" erscheinen vor diesem Hintergrund zwei Fragen besonders relevant: 1. Welche digitalen Standards und Erkenntnisse müsste die Germanistik etablieren, um gelungene Lehre in der digitalen Kultur überhaupt bewerten zu können? 2. Wie wäre ein Teilbereich der germanistischen Literaturwissenschaft als Netzliteraturwissenschaft zu konzipieren, der das notwendige Wissen über die vernetzte Kommunikation in der digitalen Gesellschaft bereithält und zur Etablierung von Standards des digitalen germanistischen Lernens beitragen könnte?
Im Jahre 1721 setzt der preußische König Friedrich Wilhelm I. für das Herzogtum Preußen ein sogenanntes "Landrecht" in Kraft. Anders als der moderne Gesetzgeber begnügt sich der König dabei nicht mit der bloßen Publikation des Gesetzes, sondern er fügt dem Gesetzestext am Schluss ein ausdrückliches, an die Gerichte gewendetes Anwendungsgebot bei. Damit soll augenscheinlich eine bestimmte Argumentationslinie, mit der die Gerichte die Nichtanwendung des Gesetzes begründen könnten, von vornherein abgeschnitten werden: Der Einwand mangelnder Observanz, so heißt es in diesem Anwendungsgebot, sei kein Grund, das Landrecht nicht anzuwenden. Mangelnde Observanz entbinde die Richter keinesfalls von der Pflicht, das Landrecht ihrer Urteilstätigkeit zugrunde zu legen. Denn es sei gerade die Schuldigkeit der Richter, "unsere Gesetze zur Observanz zu bringen". Derartige Anwendungsgebote sind häufig anzutreffender Bestandteil vor allem der frühneuzeitlichen "Landrechte" und "Reformationen". In der Regel beinhalten sie ein in erster Linie an die Rechtsstäbe gerichtetes Gebot, das betreffende Landrecht "gleich nach beschehener Publication aller Orths ad observantiam" zu bringen – so die Formulierung etwa im Trierer Landrecht von 1668. Häufig ist dies dann verbunden mit dem Verbot, weiterhin neben oder gar an Stelle des neu ergangenen Landrechts das bislang gerichtsgebräuchliche Gewohnheitsrecht anzuwenden. In diesem Muster hält sich auch das eingangs zitierte Anwendungsgebot König Friedrich Wilhelms I., nur dass hier überdies ganz gezielt ein bestimmter Gegeneinwand von Seiten der Gerichte vorweggenommen wird: der Einwand nämlich, dass ein Gesetz – und sei es auch nach allen Regeln promulgiert und bekanntgemacht – so lange keine Wirksamkeit entfalten könne, als es nicht zur "Observanz" gelangt sei. In den reichskammergerichtlichen "Decisiones" Johann Meichsners etwa findet sich dieses Argument wie eine unbestrittene Selbstverständlichkeit vorgetragen: "Statutum enim, quod non est receptum in observantia, licet fuerit publicatum, nullas habet vires, ideo ligare non potest." ...
"Die Jurisprudenz ist eine philologische Wissenschaft", wusste schon Friedrich Carl von Savigny. Die Zeit, in der sich juristische Auslegungslehre und literarische Philologie in enger wechselseitiger Beziehung entwickelten, liegt aber nun schon mehr als hundert Jahre zurück; seither haben sich Sprach- und Rechtswissenschaft so sehr verselbständigt, dass von einer Diskussion zwischen den Disziplinen kaum mehr die Rede sein kann. Der Geschichte der Rechtssprache ist es dabei ergangen wie allen anderen zwischen den Disziplinen liegenden Gegenständen: Weder die Juristen noch die Linguisten haben es gewagt, sie anzufassen. Den Offenbarungseid der Rechtsgeschichte leistet insoweit das Coingsche Handbuch, das der Gesetzessprache gerade einmal neuneinhalb Zeilen widmet und damit nur allzu deutlich macht, dass es sich in der Tat um ein "gänzlich unerforschtes Problem" handelt. ...
Mayer wirkte mehr als sechs Jahrzehnte als unermüdlicher Vermittler, Ausleger und Anreger der Literatur. Er veröffentlichte Buch um Buch, zuletzt seine "Erinnerungen an Willy Brandt". Für das eigene Leben und Wirken hat er selbst die Schlüsselworte geprägt. "Ein Deutscher auf Widerruf" ist der Titel seiner 1982 in zwei Bänden veröffentlichten Lebenserinnerungen. Und "Gelebte Literatur" nannte er seine Frankfurter Poetik-Vorlesungen von 1986/87.
Inter- und Transdisziplinarität sind ein Versuch, das Spezialwissen verschiedener Disziplinen miteinander zu verbinden, um die komplexen Fragestellungen unserer Zeit beantworten zu können. Beate Meichsner hat im Gespräch mit Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen Chancen und Grenzen, Möglichkeiten und Stolpersteine interdisziplinärer und transdisziplinärer Forschung eruiert.
Beim Stichwort Wucher reißt manchem Rechtspraktiker die Geduld. Dabei haben interdisziplinäre Forschungen zu diesem Thema im Zuge der Finanzkrise und dank der erfolgreichen Entwicklung des islamischen Bankwesens in den letzten Jahren einen beachtlichen Aufschwung genommen. Die Frage, was vom Wucher übrigbleibt, stand im Februar 2011 im Mittelpunkt eines Workshops des Exzellenzclusters "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, dessen Ergebnisse nunmehr in einem von Matthias Casper, Norbert Oberauer und Fabian Wittreck veröffentlichten Sammelband vorliegen. Auch wenn es den Herausgebern gelungen ist, die Debatte um einige neue Perspektiven zu erweitern, ist die Themenauswahl traditionsgemäß hauptsächlich auf die Zins- und Wucherkontroverse in den christlichen bzw. muslimischen Rechtstraditionen beschränkt. Der Zusammenbruch des christlichen Zinsverbots vor mindestens fünf Jahrhunderten ist allen bekannt. Aufgrund des Beitrags des Ökonomen Volker Nienhaus über die Entwicklung Sharia-konformer Finanztechniken erscheint jedoch am Ende die Frage legitim, ob nicht auch das Islamische riba-Verbot allmählich durch die Logik des Geldes überwuchert wird. ...
Einleitend zum Schwerpunktthema "Geld und Ökonomie im Vormärz" soll anhand ausgewählter Forschungsliteratur ein ökonomiehistorischer Bogen von der frühindustriellen Mechanisierung des Textilgewerbes bis zum maschinisierten Fabriksystem im späten Vormärz gespannt werden, der technologischen und politischen Grundzüge der beginnenden Kapitalverwertung als transeuropäischen Prozess nachzeichnet. Dabei soll deutlich werden, dass die mit der Durchsetzung der kapitalistischen Lohnform verbundene Monetarisierung des Alltags, welche am Ende jede Lebensäußerung der in diese Transformation gezwungenen Subjekte bestimmt, keineswegs "ohne Mittel der Gewaltherrschaft" vor sich ging und dass die "Überlassung wertvoller Güter ohne Kampf, Raub und Krieg" am Ende des Zeitraums gerade nicht "wahrscheinlicher" geworden war.