BDSL-Klassifikation: 08.00.00 Hochmittelalter > 08.06.00 Zu einzelnen Autoren und Werken
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Die komplementäre Funktion, welche der (…) besprochene Frauenlied-Typus im Blick auf die Männerlieder Reinmars erfüllt, zeigt sich besonders deutlich in dem Lied „Lieber bote nu wirp alsô“, in dem das Moment der artistischen Selbstdarstellung im Unterschied zu den anderen Liedern der Sequenz nicht in besonderer Weise ausgeprägt ist. Denn in dem hier gezeichneten Schwanken der Frau zwischen Reden und Schweigen, zwischen Sagen und Versagen, vollzieht sich eine Bewegung, die auch für viele Männerlieder Reinmars charakteristisch ist, in denen ein Entschluß oder eine Aussage am Ende des Liedes in einer „revocatio“ wieder zurückgenommen wird.
Vor rund 25 Jahren bemerkte David Wells in einem Aufsatz, in dem er die mittelalterliche Literatur hinsichtlich allegorischer Verfahren untersuchte, der Löwe in Hartmanns von Aue Iwein brülle geradezu nach seiner Interpretation. Ausführlich verzeichnet er die zuvor versuchten Deutungen, die sich bis zum Erscheinen des Aufsatzes im Jahre 1992 auf knapp 20 belaufen. Seine kleine Anmerkung illustriert die große Unsicherheit im interpretativen Umgang mit Dingen in der mittelalterlichen Literatur, aber ebenso ihr großes interpretatorisches Potential.
(...) [Jens Hausteins] folgende(n) Überlegungen haben ihre spezifische Gestalt durch die Beschäftigung mit Grundannahmen der New Philology gefunden, in erster Linie der Forderung nach einer Historisierung philologischer Grundkategorien (...) wie auch der , den Literaturbegriff deutlicher an der Tatsache zu orientieren, daß die Literatur des Mittelalters in einer manuscript culture entstanden. [Die Jens Haustein] beschäftigende Frage ist, welche Bedeutung das Insistieren auf dieser Tatsache für die Literaturgeschichtsschreibung haben könnte. Wie jede auf eine Handschriftenkultur bezogene Geschichtsschreibung diachron, d.h. sie abstrahiert aus dem in aller Regel später Überlieferten einen Geschichtsverlauf, ordnet das Überlieferte früheren Phasen zu, dem Zeitpunkt der mutmaßlichen oder tatsächlichen Entstehung. Ein solches 'methodisches Konzept' ist notwendig, wenn das Überlieferte in eine Ordnung gebracht sein soll, in der es Nachfolgendem präduliert oder Vorangegangenes fortentwickelt, wenn überhaupt das Prozeßhafte in der Literatur deutlich werden soll.
Die Überlieferung mittelhochdeutscher Lyrik hält für unterschiedliche Fragen unterschiedliche Antworten parat. (...) Ganz konkret gesprochen: Uns fehlt ein Kommentar der Walther-Überlieferung, in dem die Walther-Corpora der Handschriften analysiert, der Bau der Töne kommentiert, die Lieder in ihrer unterschiedlichen Strophenfolge interpretiert und der Wortbestand sowie die Syntax in ihren Differenzen und Wandlungen dargestellt sind. Wenn die Frage nach dem autornahen Text die divergente Überlieferung gewissermaßen auf einen Text fokussiert, dann hält die Frage nach der Überlieferung den Blick auf die Differenzen als historisch belegte Möglichkeiten der Entfaltung eines Textes offen. Beide Fragen müssen im Blick des Faches bleiben, auch wenn sich die Paradigmen verschieben, denn beide Fragen sind, wie gesagt, nicht miteinander zu verrechnen. Das schließt freilich nicht aus, daß in einer zukünftigen Walther-Ausgabe Antworten auf beide Fragen gegeben werden.
Waldweib, Wirnt und Wigalois : Die Inklusion von Didaxe und Fiktion im parataktischen Erzählen
(2009)
Die ‘Tugend’ des Erzählers besteht in seiner spezifischen Kunst des Erzählens. Was jedoch die Kunst des Erzählens als ‘Kunst’ ausmacht, ist in mittelalterlicher volkssprachiger Literatur schwer zu fassen. So könnte bereits der Begriff der ‘Kunst’ in die Irre führen, insofern er die pragmatischen Interessen der Unterhaltung oder der Belehrung von anachronistischen Literarizitätskriterien her zurückdrängt. Im Spannungsfeld dieser Überlegungen gehört es zur lange bekannten Crux mittelalterlicher volkssprachiger Literatur, dass eine Dichtungslehre, eine Poetik nicht existiert. Versuche, diese implizit zu erstellen, gibt es gleichwohl. […] Wie schwierig es jedoch nach wie vor ist, poetologische Richtlinien verbindlich vorzustellen, die nicht mit der argumentativen ‘Schwundstufe’ Didaxe o d e r Fiktion – Fiktion verstanden als Sinnvermittlung über ein frei durchkomponiertes Material – argumentieren, zeigt sich letztlich auch daran, dass im Bereich der Lyrik erst jetzt dezidierte Versuche auf breiterer Basis unternommen werden, über die Frage nach Gattungsinterferenzen die Möglichkeit einer impliziten Poetik abzutasten, die Sangspruch und Minnelyrik erfasst, dass die Versuche im Bereich der narrativen Kleinformen zu einer in hohem Maß disparaten Diskussion geführt haben und dass auch im Geltungsbereich des volkssprachigen Romans nicht nur das Ausmaß der Anleihen bei der antiken und mittellateinischen Poetiktradition nach wie vor umstritten ist, sondern auch die implizit entwickelten Ansätze, wie sie Haug vorgestellt hat, historisch stärker zu differenzieren wären. Unter dem Stichwort der ‘Historischen Narratologie’ sind hier weiterführende Arbeiten zu erwarten. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als Beitrag in dieser Richtung.
Der kleine Roman 'Die Heidin II' ist mehrfach überliefert, darunter auch in vier Fragmenten von unterschiedlichem Umfang. [...] In den einschlägigen Katalogen der besitzenden Bibliotheken finden sich keine Hinweise auf eine mögliche Zusammengehörigkeit der Fragmente. [...] Erst im Rahmen der Vorbereitung der neuen Ausgabe der 'Heidin II' im DFGProjekt "Edition und Kommentierung der deutschen Versnovellistik des 13. und 14. Jahrhunderts" (2009–2017) wurden endlich Digitalisate aller vier Fragmente angefertigt, sodass sie direkt nebeneinandergelegt und verglichen werden konnten. Dabei wurde sehr schnell klar, dass die vier Bruchstücke eindeutig aus demselben Codex stammen müssen.
Nichts anderes geschieht dem Bauernsohn Helmbrecht, als dass er sich die heldenhaften Erzählungen und kunstvollen Lebweisen des Adels über den Kopf respektive über die Weltwahrnehmung streift. So erschafft er sich ein halb-holographisches 'Second Life', in dem er sich wider seinen Stand die Ehrhaftigkeit der adligen Aventürewelten angedeihen lässt. Die Holo-Haube (als 'textura' wie Text) 'infiziert' sein Denken, belegt mit ihren Abbildern (so könnte man es mittelalterlich verstehen) die vier in seinem Kopf gelagerten Kammern der 'imaginatio', 'memoria', 'ratio' und des 'intellectus' mit dem hofliterarischen Wertsystem.
Durch die Ästhetisierung und Regulierung der Gewalt im ritterlichen Kampf und insbesondere in seiner literarischen Darstellung spaltet sich der mehrdeutige deutsche Begriff ‘Gewalt’ in zwei seiner lateinischen Entsprechungen: Wofern die Regeln eingehalten werden, ist sie ‘vis’, wofern aber gegen die Regulierung verstoßen wird, ist sie ‘violentia’; Johannes Rothe nennt sie dann im ›Ritterspiegel‹ ‘bose gewalt’ (V. 2677). Nicht vergessen werden darf aber die dritte Komponente der Gewalt, die ebenfalls in diesem schillernden deutschen Wort enthalten ist: ‘potestas’, die auf ‘vis’ aufbaut. Die ‘êre’, die ein Ritter im Kampf erringt, ist mehr als nur ein guter Ruf, sie ist eine gesellschaftliche Anerkennung, die auch Elemente der Macht in sich trägt. Die ‘potestas’ aber des Herrschers stärkt sich, indem sie einige Formen der ‘vis’ anderer zur ‘violentia’ erklärt. Ein herausragendes Beispiel hierfür sind die Landfriedengebote, die insbesondere unter dem Stauferkaiser Friedrich I. häufig ausgesprochen und als Herrschaftsinstrument verwendet wurden. Durch sie sollte die Möglichkeit eines individuellen gewaltsamen Konfliktaustrags in der Fehde unterbunden werden, indem sich beide Parteien der richterlichen Gewalt, der ‘potestas’ des Herrschers, unterwerfen und es dem Richter überlassen wird, mit Gewalt denjenigen, der gegen Regeln des Zusammenlebens verstoßen hat, zu bestrafen. Die ‘peinlichen’, also ernsten körperlichen Strafen, die die hoheitliche Gerichtsbarkeit verhängen kann, sind Ausdruck dieser rechtlich kanalisierten, aber keineswegs abgeschafften Gewalt, auf der die Ordnung beruht.
Im Zuge der systematischen Erfassung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtbücher Deutschlands werden durch die Mitarbeiter des DFG-Langfristvorhabens 'Index Librorum Civitatum' gelegentlich interessante Funde von makulierten Inkunabeln und Handschriften gemacht. [...] Im Stadtarchiv Heringen (Helme) befinden sich 66 Bände, die als "Rechnungen des Raths zu Heringen und Manuale über Einnahme und Ausgabe" bezeichnet werden und eine Laufzeit von 1600 bis 1764 aufweisen. [...] Zwischen den einzelnen Heften fanden sich immer wieder ältere Pergamentblätter, die als Einbände der ursprünglichen Einzelrechnungen gedient hatten. Zumeist handelte es sich dabei um liturgische Handschriften wie Hymnarien oder Gradualien. Im Band mit der Signatur XV. wurde jedoch ein hinter dem Buchblock liegendes, loses Pergamentblatt aufgefunden, das nicht mit einem lateinischen, sondern einem mittelhochdeutschen Text beschriftet war, wobei der Name Willehalm sofort ins Auge fiel. Eine anschließende Textbestimmung ergab, dass es sich bei dem aufgefundenen Fragment um eine Textpassage aus dem 'Rennewart' Ulrichs von Türheim handelte.