5.3. Helene Lange und die "Gelbe Broschüre"

Helene Lange, inmitten des Revolutionsjahres 1848 geboren, kam 1871 nach Berlin und legte dort ein Jahr später die Lehrerinnenprüfung ab. Anschließend war sie bis 1887 Lehrerin an einer Berliner privaten Mädchenschule und Leiterin des angeschlossenen Lehrerinnenseminars. Dort erkannte sie die Mängel der Mädchenbildung, denn die sogenannten Höheren Töchterschulen waren weiterhin die einzigen Ausbildungsstätten für junge Mädchen. Gymnasien, als auch Universitäten blieben ihnen verschlossen. Aus diesem Grund entschloß sie sich 1887, zusammen mit Minna Cauer, Henriette Schrader-Breymann und drei weiteren Frauen, eine Begleitschrift, nach der Farbe des Umschlages auch "Gelbe Broschüre" genannt, zu verfassen und sie einer Petition[280] an das preußische Abgeordnetenhaus beizulegen. Darin forderte sie die Neuordnung der Mädchen- und Lehrerinnenbildung und den Zugang zur akademischen Ausbildung.
Diese Petition wird auch Victoria bekannt gewesen sein. Vielleicht waren die Ideen sogar in ihrem Haus während der Gespräche über frauenspezifische Probleme unter den befreundeten Frauen herangereift und als Begleitschrift verfaßt worden. Victoria unterstützte diese Ideen, wo es ihr möglich war, obwohl ihr in der politischen Situation, in der sie sich mit ihrem Gemahl befand, die Hände gebunden waren.
Als Helene Lange eine wissenschaftliche Ausbildung in eigenständigen Frauenakademien nach englischem Vorbild plante, riet ihr die Kaiserin Friedrich zu einer Forschungsreise nach England.[281] Dort sollte sie die Frauencolleges besuchen und das Risiko einer Zweitklassigkeit gegenüber den herkömmlichen, respektive männlichen Akademien erfassen.[282] Die Reise wurde 1888 von der inzwischen Witwe gewordenen Kaiserin finanziell ermöglicht.
"1888: Die Kaiserin Friedrich ließ mich bald nach dem Tode des alten Kaisers nach Charlottenburg kommen, um mit mir die Möglichkeit einer Durchführung unserer Pläne zu besprechen. Ich [...] hatte die erste der anregenden und innerlich so bereichernden Stunden mit ihr, der später noch so manche gefolgt ist[...] Mein Wunsch, in England die Frauenbildungsverhältnisse zu studieren, erregte die lebhafte Anteilnahme der Kaiserin, und sie stellte mir sofort eine persönliche Einführung für die in Frage kommenden Stellen in Aussicht, die sich dann auch nachher als sehr wirksam erwies. Sie entließ mich mit dem zuversichtlichen Ausdruck der Hoffnung, doch noch für die Durchführung unserer Pläne wirken zu können."[283]
Victoria hoffte, sich auf diese Weise für die Frauenbewegung einsetzen zu können, da ihr durch den frühzeitigen Tod ihres Mannes politisch keine Möglichkeiten mehr offen standen. Auch Helene Lange zählte zum bürgerlichen Freundeskreis der Kaiserin, zu dem dank der Freundschaft zu dem liberalen Kulturpolitiker Karl Schrader und dessen Frau Henriette Schrader-Breymann Zugang gefunden hatte. Karl Schrader war Mitglied im Reichstag und gehörte den Nationalliberalen an.
"Etwa um die Wende der achtziger Jahre war ich in Beziehung zu dem Kreise getreten, den Karl und Henriette Schrader in Berlin um sich vereinigt hatten. Es waren die führenden Geister des politischen Liberalismus - man darf zugleich sagen, des Kulturliberalismus[...] Man stand gemeinsam fest zu der Überzeugung, daß jede Änderung wirtschaftlicher, sozialer, politischer Zustände nur von innen heraus, durch Erziehung und Bildung, durch Selbsthilfe erreicht werden konnte."[284]
Helene Lange schrieb in ihren Lebenserinnerungen, daß die Kaiserin sich stets mehr als offen den Problemen der Frauen gegenüber gezeigt und sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten kontinuierlich für eine Verbesserung eingesetzt habe.
"In Bezug auf die sozialen Aufgaben der Frau hatte die Kaiserin, ohne sich den zu ihrer Zeit üblichen Methoden der 'Wohltätigkeit' entziehen zu können, Gedanken, die sie sicher bahnbrechend an die Spitze derer gestellt haben würden, die den Fortschritt von der Wohltätigkeit zur Wohlfahrtspflege [...] bahnen wollten. [...][Sie hat] die Konsequenzen der Frauenbewegung, den Einfluß der Frauen auch im öffentlichen Leben zur Geltung zu bringen, zu Ende gedacht."[285]
Mit dem Tod ihres Gatten Friedrich II. war laut Lange "der Frauenbewegung zugleich mit dem Liberalismus der schwerste Schlag versetzt, der sie treffen konnte".[286] Dies zeigt, wie ernst es dem Kronprinzenpaar mit einer Verbesserung der Bildungs- und Erwerbslage für die Frauen gewesen sein muß. Die Hoffnungen der liberalen Bevölkerung lagen auf beiden. Die Hoffnung der liberalen Bevölkerung lag in der Machtergreifung des Kronprinzenpaares, die sicherlich versucht hätten, viel Negatives ins Gegenteil zu verkehren.
Nach dem Tod Kaiser Friedrich III. wurden Victoria sämtliche Vorsitze in Organisationen entzogen, so daß sie keinerlei Einfluß mehr ausüben konnte. Als es Helene Lange gelang, die Realkurse für Frauen zu eröffnen, welche später in Gymnasialkurse umgewandelt wurden, bekannte sich Victoria in einem Telegramm "öffentlich zu seinen [des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins] Zielen".[287] In der Eröffnungsrede äußerte sich Helene Lange am 10. Oktober 1889 in Anwesenheit der Kaiserin Friedrich über diese folgendermaßen:
"Wir wissen alle, wer die intellektuelle Urheberin der meisten Schöpfungen gewesen, die nach dieser Richtung ins Leben traten. Wir wissen, in wessen Hand alle Fäden zusammenliefen und noch zusammenlaufen, die auf dem Webstuhl der Zeit ineinandergewirkt werden für unser Geschlecht[...]"[288]
Der Inhalt dieser Kurse glich der Ausbildung an den humanistischen Gymnasien und der Abschluß berechtigte zum Besuch der Universität. Dessen ungeachtet sollte es noch bis 1908 dauern, bis Frauen in Preußen die Zulassung zum Universitätsstudium schließlich gewährt wurde.

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