Zusammenfassung Eine Grundvoraussetzung für die pharmakologische Wirkung von Arzneimitteln ist, dass der Wirkstoff an krankheitsrelevante Zielmoleküle (sogenannte Targets) des Patienten bindet. Eine der häufigsten Zielmolekülklassen der pharmazeutischen Industrie sind Kinasen, regulatorische und signalübermittelnde Enzyme, deren Fehlregulation zur Entwicklung einer Vielzahl von Krankheiten, einschließlich Krebs, führen kann. Für die systematische Suche nach potenten und selektiven Wirkstoffkandidaten, die an Zielmoleküle binden, kommen in der Arzneimittelforschung meist Gleich¬gewichts-¬basierte Bindungsmaße wie Affinität (Ki, KD) oder Potenz (IC50, EC50) zum Einsatz. In den letzten Jahren wurde diskutiert, ob dynamische Bindungsparameter, die Assoziationsrate (kon) und die Dissoziationsrate (koff) des Wirkstoffs für das gewünschte Target und für unerwünschte Antitargets, im Vergleich zur Affinität per se (KD = koff / kon) besser geeignet sind, um die Entstehung und die Verweildauer des Wirkstoff-(Anti)Target-Komplexes in vivo und damit die therapeutische Wirkung und Sicherheit des Arzneimittels vorherzusagen. Es ist noch wenig erforscht, ob und wann Bindungskinetik den pharmazeutischen Effekt im komplexen Zu¬sammen¬hang mit Pharmakokinetik und Pharmakodynamik beeinflussen kann und wie diese kinetischen Geschwindigkeitskonstanten rational optimiert werden können. Der Mangel an umfangreichen, direkt vergleichbaren Bindungskinetik-Datensätzen ist ein wesentliches Hindernis für ein besseres Verständnis des Themas. Das Ziel dieser Dissertation ist eine umfassende Analyse der Bindungskinetik- und Affinitäts-parameter eines diversen Sets von 270 niedermolekularen Kinaseinhibitoren für eine Reihe pharmakologisch relevanter Kinasen, um die Wichtigkeit der Bindungskinetik für die Arzneimittelforschung einzuschätzen: Anhand der neu generierten Daten soll der Einfluss von physikochemischen Eigenschaften auf Bindungskinetik, sowie die Relevanz von kinetischen Bindungseigenschaften für den klinischen Erfolg von Compounds untersucht werden. Die umfangreiche Untersuchung wurde durch den kürzlich entwickelten „kinetic Probe Competition Assay“ (kPCA, engl. für kinetischer Sonden-Kompetitions-Test, kPCA) ermöglicht, dessen Evaluierung auf Motulskys und Mahans „Kinetik der kompetitiven Bindungstheorie“ beruht. Monte-Carlo-Analysen, die im Rahmen dieser Dissertation durchgeführt wurden, konnten zu einem besseren theoretischen Verständnis dieser Methode beitragen, lieferten neue Einblicke in ihre Grenzen und erlaubten es, Empfehlungen für das Assaydesign abzuleiten. Es zeigte sich, dass kPCA in der Tat hochdurchsatzfähig und bezüglich Präzision und Genauigkeit mit anderen biochemischen und biophysikalischen Assayformaten vergleichbar ist. Multi¬variable lineare Regression zur Beschreibung der gemessenen Kinaseinhibitor-Target Bindungs¬para¬meter (kon, koff oder KD) unter Ver¬wendung von molekularen Eigenschaften und/oder be¬stimmten Kinase-Inhibitor-Wechsel¬wirkungen als Deskriptoren konnte die Annahme bestätigen, dass molekulare Eigen¬schaften von Ver¬bindungen die Bindungs¬kinetik beeinflussen können, und es konnten neue Hypothesen über molekulare Determinanten aufgestellt werden, die bestimmte Bindungs¬eigen¬schaften hervorrufen könnten. Dies liefert eine rationale Grundlage für folgende Studien zur Unter¬suchung der Struktur-Bindungskinetik Beziehung. Bemerkenswerterweise konnten die bindungs¬kinetischen Geschwindig¬keits¬konstanten durch die Modelle besser beschrieben werden als die Affinität. Die systematische, quantitative Analyse der Inhibitor-Kinase-Bindungskinetikdaten zeigte interessanterweise, dass eine lang¬same Dissoziationsrate vom Haupttarget ein Merkmal ist, das bei Inhibitoren in fortgeschrittenen klinischen Entwicklungsphasen häufiger auftritt. Außerdem konnte gezeigt werden, dass die Bindungskinetik von Kinaseinhibitoren im Vergleich zur Affinität per se besser geeignet ist, um den zeitlichen Verlauf der Zielmolekülbelegung in Zellen zu simulieren. Darüber hinaus führt die Simulation mit einem traditionellen Pharmakokinetik-Modell und einem modifizierten Modell, das zusätzlich die Bindungskinetik der Inhibitoren berücksichtigt, in einigen Fällen zu verschiedenen in vivo Kinasebindungs-Zeitprofilen. Es wurde durch Simulationen illustriert, wie das Konzept der kinetischen Selektivität verwendet werden könnte, um dafür zu sorgen, dass ein unter Gleichgewichtbedingungen unselektiver Inhibitor im offenen in vivo System, in dem das thermodynamische Gleichgewicht der Medikament-Target-Bindung nicht immer erreicht wird, selektiver ist. Die generierten Daten und Modelle dieser Arbeit liefern Hinweise auf die Relevanz der Bindungskinetik in der Wirk¬stoff¬forschung und stellen eine wertvolle Ressource für zukünftige Studien auf diesem Gebiet dar.