Der verkannte Herzinfarkt im Sektionsgut des Zentrums der Rechtsmedizin Frankfurt am Main (1994 - 2007)

  • Einleitung: Es kommt immer wieder vor, dass Patienten mit Schmerzen in der Brust, im Arm oder Rücken, mit Übelkeit oder anderen Symptomen eines möglichen Herzinfarktes zu ihrem Hausarzt oder dem Notärztlichen Dienst gehen und mit einer falschen Diagnose und der damit verbundenen falschen medizinischen Behandlung nach Hause geschickt werden. Tritt dann aufgrund solch einer fehlerhaften Diagnose der Tod ein, stellt sich hinterher die Frage warum der Herzinfarkt nicht schon früher erkannt wurde und ob eine fachgerechte, rechtzeitige Behandlung das Leben des Betroffenen hätte retten oder ihm zumindest unnötige Schmerzen ersparen können. Material und Methode: Grundlage der vorliegenden Arbeit sind die Sektionsprotokolle des Zentrums der Rechtsmedizin des Klinikums der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Über die institutsinternen Datenprogramme „Obduktio“ und „Sektio“, wurden sämtliche Daten zu Todesfällen gesammelt, bei denen als Todesursache ein Herzinfarkt festgestellt werden konnte und die in dem Zeitraum vom 1.1.1994 bis 31.12.2007 durch Ärztinnen und Ärzte der Frankfurter Rechtsmedizin obduziert wurden. Zusätzlich standen für die Auswertung folgende Unterlagen zu Verfügung: Sektionsprotokolle mit allen rechtsmedizinischen Zusatzuntersuchungen, Ermittlungsergebnisse der Polizei (soweit diese aus den Akten hervorgehen), staatsanwaltschaftliche Akten (inklusiver klinischer Gutachten, soweit in Auftrag gegeben) und Gerichtsurteile (wenn diese bis zum Abschluss der Arbeit vorlagen). Auf diese Weise konnten 38 Fälle von verkannten Herzinfarkten festgestellt werden. Ergebnisse: Von den 38 Verstorbenen waren 16 Frauen und 22 Männer. 21 (55%) waren unter und 17 (44,7%) über 50 Jahre alt. Bei 20 der 38 Patienten (52,6%) erfolgte die ärztliche Konsultation an einem Freitagnachmittag, Samstag oder Sonntag. 20 Verstorbene wurden von einem Notarzt oder ärztlichen Notdienst behandelt. Von den untersuchten 38 Fällen verstarben 13 Patienten in den frühen Morgen- und Vormittagsstunden zwischen 6 und 12 Uhr. 9 Patienten verstarben zwischen 12 und 17 Uhr. 11 verstarben in den Abendstunden zwischen 17 und 22 Uhr und 4 Patienten in den Nachtstunden zwischen 22 und 6 Uhr morgens. Fünfmal wurde ein 12 Kanal-EKG entsprechend den Leitlinien der WMF abgeleitet. Bei 29 der 38 Fälle wurde eine Reanimation durchgeführt. Bei den untersuchten Fällen zeigte sich ein durchschnittliches Herzgewicht bei den Frauen von 370 g, wobei sich ein Durchschnittsalter von 50,1 Jahren und eine Durchschnittsgröße von 165 cm fanden, bei einem durchschnittlichen BMI von 25,5 kg/m2. Bei den untersuchten männlichen Fällen lag das durchschnittliche Herzgewicht bei 499 g und das Durchschnittsalter bei 51,6 Jahren bei einer Durchschnittsgröße von 172 cm und einem durchschnittlichen BMI von 22,4 kg/m2 Bei beiden Geschlechtern zeigt sich ein deutlich erhöhtes Herzgewicht im Vergleich zu den physiologisch Daten bei „Gesunden“. Diagnostisch wurden die Ursachen der Symptome von Seiten der Hausärzte am ehesten im muskuloskeletalen (fast 37% der untersuchten Fälle) oder gastrointestinalen Bereich (30% der bearbeiteten Fälle) vermutet, danach am ehesten an pulmonale Ursachen (5% der Fälle) gedacht. Ein psychischer Hintergrund als Auslöser für die Symptome wurde nur in einem Fall vermutet, allerdings war bei der Verstorbenen auch eine psychiatrische Grunderkrankung vorbekannt. Bei 21% der Fälle wurde keine klare Arbeitsdiagnose gestellt. Diese Patienten wurden hauptsächlich mit Schmerzmedikamenten meist nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) behandelt, also am ehesten im Sinne einer möglichen muskuloskeletalen Erkrankung. In 11 Fällen wurde von Seiten der jeweilig zuständigen Staatsanwaltschaft Anklage erhoben. Von diesen 11 erhobenen Anklagen wurde in 9 Fällen das Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs.2 StPO eingestellt. Ein Verfahren wurde am Landgericht Frankfurt verhandelt und es kam zu einem rechtskräftigen Urteil. Die angeklagte Ärztin wurde aufgrund eines unnötig aufrechterhaltenden Schmerzzustandes zu einer Geldstrafe von 1500,- DM sowie einer Bewährungsstrafe von einem Jahr verurteilt. Bei einem etwas länger zurückliegenden Verfahren aus dem Jahre 1994 waren die Akten bereits vernichtet worden und der Ausgang des Ermittlungsverfahrens war nicht mehr nachvollziehbar. Es ist aber davon auszugehen, dass auch dieses Verfahren eingestellt wurde. Diskussion: Herz-Kreislauf-Krankheiten sind weiterhin die häufigste Todesursachen bei Frauen und Männern in Deutschland. Zudem führen sie nicht selten durch einen vorzeitigen Tod unter 70 Jahren zu einem erheblichen Verlust (potenzieller) Lebensjahre. Die hier ermittelte Fallzahl von n= 38 erscheint nicht sehr repräsentativ, zumal auch noch die hohe Selektion bias mitbedacht werden muss. Allerdings muss man zusätzlich eine wahrscheinlich sehr hohe Dunkelziffer berücksichtigen, da es zu einer deutlichen Selektion der Verstorbenen bezüglich einer Obduktion durch die jeweiligen behandelnden Ärzte kommt. Insgesamt ist von einer relativ großen Anzahl verdeckter Fälle auszugehen, die nicht obduziert werden und somit die eigentlichen Gründe, die letztendlich zum Tod des Patienten führten oftmals unerkannt bleiben. Bezüglich der Anzahl der geschriebenen EKGs muss die Frage gestellt werden, ob die geringe Anzahl von geschriebenen EKGs nur einen Zufallsbefund der hier untersuchten Fälle darstellen und ansonsten bei vergleichbaren Fällen regelmäßig ein EKG geschrieben wird, oder ob wirklich in den meisten Fällen bei Patienten mit einer unklaren Symptomatik eher auf ein EKG verzichtet wird. Ein weiterer auffälliger Aspekt ist, dass sich das Durchschnittsalter der 38 Verstorbenen bei ca. 51,3 Jahren befindet, und damit deutlich unter dem bundesweiten Durchschnittsalter von > 65 Jahren bei Herzinfarktverstorbenen liegt. Bezüglich des Zusammenhanges zwischen BMI und Herzgewicht lässt sich interessanter Weise eine deutliche Auffälligkeit bzgl. des Herzgewichtes der untersuchten Verstorbenen feststellen. In beiden Geschlechtern fand sich bei über 80% der Untersuchten ein teilweise deutlich über das physiologische Herzgewicht reichendes Herzgewicht bei durchschnittlich normwertigem BMI. Im Zusammenhang mit den hier ermittelten Daten kann ansatzweise überlegt werden, ob evtl. Ultraschalluntersuchungen zur Bestimmung des Herzgewichtes und der Wanddicke zur Diagnostische Abklärung bei fraglichen Brustschmerzen und unauffälligem EKG gehören sollten, um die Gefahr eines evtl. drohenden Infarktes zeitnah eingrenzen zu können. Sicherlich bedarf es hierfür aber noch weiterer Untersuchungen mit größeren Fallzahlen. Bezüglich der strafrechtlichen Konsequenzen ist zu sagen, dass bisher ein verkannter Herzinfarkt mit tödlichen Ausgang ohne strafrechtliche Konsequenzen geblieben ist, da der kausale Zusammenhang zwischen ärztlichem Fehlverhalten und dem Tod des Patienten nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden konnte mit Ausnahme des einen erwähnten Falles am Landgericht Frankfurt/Main. Ein möglicher neuer Ansatz ist jedoch zunehmend erkennbar. In den letzten staatsanwaltlich untersuchten Fällen zeichnet sich ein Trend zur verstärkten Einzelfallanalyse, bei welcher ausdrücklich die Frage nach einer möglichen längeren Überlebenszeit in den Vordergrund gestellt wird, wenn durch erforderliche, mögliche und unverzügliche Intervention eingegriffen worden wäre. Im Oktober 2007 stellte der BGH erstmalig in einem offiziellen Urteil fest, dass jeden Bereitschaftsarzt klar umrissene diagnostische Pflichten treffen. Auch wenn weiterhin nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden kann, dass der Tod eines Patienten hätte vermieden werden können, so ist doch in Zukunft die Frage nach einer möglichen Pflichtverletzung bei der durchgeführten Diagnosestellung und –sicherung bei einem Behandlungsfehlervorwurf mit zu berücksichtigen.
  • Introduction: Some patients who show symptoms of a possible heart attack such as pain in the chest, arm or back, nausea etc. are misdiagnosed by a general practitioner or by a doctor on call and are sent home after an inappropriate medical treatment. If the patient dies the question will arise why the heart attack was not diagnosed sooner and whether a sufficient, timely medical treatment could have saved the patient’s life or could have at least saved them unnecessary pain. Scope and Design: The data used for this dissertation was found in the autopsy protocols issued between 1 January 1994 and 31 December 2007 by the institute for forensic medicine (Zentrum der Rechtsmedizin) at the Goethe University in Frankfurt am Main, Germany. This information was supplemented from autopsy protocols including all additional forensic examinations, findings of police investigations (if they were included in the files available), findings of prosecutorial investigations and court decisions (if they were available at the time this dissertation was written). The evaluation of this data amounts to 38 cases of misdiagnosed heart attacks. Results: The total number of 38 deceased patients comprises of 16 women and 22 men. 21 (55%) of the deceased were younger than and 17 (44.7%) were older than 50 years. Out of the 38 patients 20 (52.6%) came to see a doctor on a Friday afternoon, a Saturday or Sunday. 20 of the deceased patients were treated by a paramedic or a doctor on call. 13 of the 38 deceased died early in the day, between 6 am and 12 am. 9 patients died between 12 am and 5 pm and 11 patients died in the evening between 5 pm and 10 pm. 4 patients died at night between 10 pm and 6 am. A 12-lead ECG was done in five cases. CPR was tried unsuccessfully with 29 of the 38 patients. The average heart weight of the female patients was 370 g, with an average age of 50.1 years, an average body height of 165 cm and an average BMI of 25.5 kg/m2. The male patients had an average heart weight of 499 g, with an average age of 51.6 years, an average body height of 172 cm and an average BMI of 22.4 kg/m2. Compared to the physiological data of „healthy“ people both males and females of the group of 38 misdiagnosed patients showed an explicitly higher heart weight. The general practitioners mostly assumed the symptoms to be caused by musculosceletal or gastrointestinal conditions. In 21% of the cases the doctor did not give a definite working diagnosis. These patients were mostly treated with pain killers (mainly non-steroidal anti-inflammatory drugs (NSAIDs)). In 11 cases the public prosecutor’s office took legal action, in 9 of which the criminal investigation proceedings were discontinued pursuant to sec. 170 para. 2 StPO (German Criminal Procedure Code). One case was heard at the Regional Court of Frankfurt am Main, Germany, and the court reached a legally binding decision. Discussion: Cardiovascular diseases are still the leading cause of death for men and women in Germany. In addition, these diseases often cause a preliminary death before the age of 70, which means a significantly shortened life span for these patients. However, the selection bias in regards to the cases at hand presumably means that the high incidence of n = 38 is not representative. On the other hand, the estimated number of unreported cases can probably be considered to be very high, since not on all deceased patients an autopsy is performed and therefore many incidents of misdiagnosis are not discovered. It is unclear whether it is indeed common practice to not do an ECG for patients showing indefinite symptoms or if it is an incidental finding in relation to the cases at hand that only so few ECGs were done. It should also be noted that the average age of the 38 deceased patients is approx. 51.3 and thus falls below the German average, which is >65 for deaths caused by heart attack. The heart weight of over 80% of the examined men and women exceeds - in some cases considerably - the physiological heart weight typical for a standard BMI. As a consequence, the determination of the heart weight and thickness of the heart wall by ultrasonography could be added to the standard diagnostic procedure for patients with chest pains showing normal ECG readings. Further studies based on a higher number of cases are required at this point. Up until now a lethal misdiagnosed heart attack did not have any legal effect, but recent developments indicate that this might change. The last cases show an increasing tendency for examination on a case-by-case basis by the public prosecutor. In October 2007 the Federal Court of Justice decided for the first time that every doctor on duty has explicitly defined diagnostic obligations. Although it is still impossible to prove with 100% certainty that the death of a patient could have been avoided, a given diagnosis in case of medical malpractice may possibly be deemed a breach of duty.

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Metadaten
Author:Judith Scheitzach
URN:urn:nbn:de:hebis:30-54203
Referee:Hansjürgen BratzkeGND
Document Type:Doctoral Thesis
Language:German
Date of Publication (online):2010/12/06
Year of first Publication:2010
Publishing Institution:Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
Granting Institution:Johann Wolfgang Goethe-Universität
Date of final exam:2010/09/20
Release Date:2010/12/06
HeBIS-PPN:229296173
Institutes:Medizin / Medizin
Dewey Decimal Classification:6 Technik, Medizin, angewandte Wissenschaften / 61 Medizin und Gesundheit / 610 Medizin und Gesundheit
Sammlungen:Universitätspublikationen
Licence (German):License LogoDeutsches Urheberrecht