Filtern
Dokumenttyp
- Teil eines Buches (Kapitel) (3) (entfernen)
Sprache
- Deutsch (3)
Volltext vorhanden
- ja (3)
Gehört zur Bibliographie
- nein (3)
Schlagworte
- System (3) (entfernen)
Helmholtz, Mach, Schönberg. Zwei Wissenschaftler und ein Künstler, die ein neues Konzept zur Strukturierung akustischen Materials umkreisen. Sie finden mit der musikalischen Notation und der physikalischen Abbildung eine doppelte Sichtbarkeit des Hörbaren vor. Eine Sichtbarkeit, die sich dem künstlerischen und wissenschaftlichen Gebrauch organischer und mechanischer Instrumente verdankt. Zwei Wissensordnungen, zwei Objektklassen. Einmal Musiktheorie, die das akustische Material nach Zahlverwandtschaften ordnet, dann Naturwissenschaft, die es mathematisiert. Einmal die organischen Handlungspaare Auge/Hand und Ohr/ Stimme für Sichtbares und Hörbares, und dann die damit verbundenen mechanischen Instrumente der Klangaufzeichnung und Klangerzeugung. Die Ordnungen vermischen sich nicht, aber ihre Verflechtungen führen zu einer Verschiebung der symbolischen Konfiguration, und aus den Tonempfindungen, die bisher natürlichen Klangeigenschaften zugeschrieben worden waren, lassen sich nun bearbeitbare Reihen punktueller Elementarempfindungen bilden. Pierre Boulez wird diese Bewegung begrüßen: "man kann sehr wohl sagen, daß die Ära Rameaus mit ihren 'natürlichen' Prinzipien endgültig außer Kurs gesetzt ist; darum müssen wir aber noch lange nicht aufhören, uns die anschaulichen Modelle [...] zu suchen und auszudenken." Sein anschauliches Modell ist der Gegensatz von Kerbung und Glättung. Kerbung verstanden als jene Strukturierung des Akustischen, die sich durch den Punkt charakterisieren lässt, Glättung als die Aufhebung dieser vorgegebenen Kerbung mit Hilfe neuer Techniken. Gilles Deleuze und Félix Guattari übernehmen diese Unterscheidung und führen sie in ihren 'Tausend Plateaus' als technische, künstlerische und wissenschaftliche durch. Beispielhaft setzen sie das Gewebe gegen den Filz, die aus Längs- und Querfäden gebildeten Rasterpunkte gegen die gleichmäßige Verdichtung zufällig angeordneter, unverbundener Einzelfäden. Am Ende seiner 'Lehre von den Tonempfindungen' findet auch Hermann von Helmholtz für die musikalische Strukturierung des akustischen Materials einen solchen handwerklichen Vergleich. "Ja dadurch, dass die Musik den stufenweisen Fortschritt im Rhythmus und in der Tonleiter einführt, macht sie sich eine auch nur angenäherte Naturnachahmung geradezu unmöglich, denn die meisten leidenschaftlichen Affektionen der Stimme charakterisiren sich gerade durch schleifende Uebergange der Tonhohe. Die Naturnachahmung in der Musik ist dadurch in derselben Weise unvollkommen geworden, wie die Nachahmung eines Gemäldes durch eine Straminstickerei in abgesetzten Quadraten und abgesetzten Farbtönen." Dieser stufenweise Fortschritt gegen die Natur verdankt sich dem Zusammenspiel von Stimme und Instrument, das sichtbare Stufen in das hörbare Kontinuum melodischer Bewegungen kerbt. Eine Kerbung, welche die Grundlage eines musiktheoretischen Systems bildet, das bis zu seiner Revolutionierung Anfang des 20. Jahrhunderts seine Gültigkeit hat. Eine Kerbung, die sich der Verbindung und wechselseitigen Nachahmung des organischen Instruments Stimme mit den Musikinstrumenten verdankt. Eine Kerbung, die beständig vollzogen werden muss, und zwar gleichermaßen durch die Übung der inneren Klangvorstellung (dem eigentlichen Hören der gewählten Parameter) und der äußeren Klangverschriftung (der Kontrolle durch das Sichtbare). Alle Tonzeichen innerhalb dieses gekerbten Klangraumes haben ihre Gültigkeit nur in Bezug auf das zugrunde liegende Tonsystem. Der folgende Text wird versuchen einige Motive des Umsturzes dieses Systems zu verfolgen, die zeitgleich in Naturwissenschaft und Musiktheorie zu finden sind.
System
(2022)
Das 'System' erregt starke Gefühle. Das gilt, nach wie vor, in der Wissenschaft, das gilt aber auch im Bereich des Politischen, wo 'das System' (früher) von links und (heute) von rechts abgelehnt wurde und wird. Auch wenn der Kampf gegen das 'Schweinesystem' dem Hass auf 'Systemparteien' und 'Systempresse' Platz gemacht hat - kühl abwägend oder unbefangen neugierig steht dem System niemand gegenüber. Es gehört zur Aufgabe einer theorie- und begriffshistorischen Annäherung an den Systembegriff, auch die starken Gefühle zu verstehen, die dieser hervorruft.
Aggregat
(2022)
Aggregate, die sich von realen Einheiten durch ihre Zusammengesetztheit unterscheiden, können Leibniz zufolge auf die verschiedensten Weisen zu einer zufälligen Einheit zusammengesetzt sein: durch räumlichen Kontakt (wie beim gefrorenen Teich), durch gemeinsame Bewegung (wie bei der zusammengebundenen Herde) oder durch einen einheitlichen Zweck (wie bei der niederländischen Ostindien-Kompanie). Nach Leibniz entsteht die zufällige Einheit eines Aggregats erst durch eine synthetische Operation des Geistes, durch die eine Menge von Dingen als Teile eines Ganzen betrachtet wird. Dies bedeutet aber nicht, dass Aggregate nur Erscheinungen sind. Sie sind vielmehr Körper, deren Wirklichkeit in den realen Einheiten besteht, aus denen sie zusammengesetzt sind. Es bedeutet auch nicht, dass Leibniz seinen Aggregatbegriff dem des Organismus entgegensetzt. Wenn ein Aggregat organisiert ist, hat seine Organisation entweder einen äußeren Grund (wie bei der Uhr) oder einen inneren Grund (wie beim Pferd). Die letztere, organische Variante heißt 'Lebewesen' und unterscheidet sich von einem bloßen mechanischen Aggregat dadurch, dass die Verhältnisse seiner Teile zueinander einer einzelnen Entelechie oder Seele untergeordnet werden. [...] Im Anschluss an Kant etablierte sich die Unterscheidung von System und Aggregat als zwei einander entgegengesetzten Formen des Ganzen. Ein System besteht demnach in der notwendigen Verknüpfung von Gliedern, die innerlich (nach einem Prinzip) in einem bestimmten Ganzen miteinander zusammenhängen. Ein Aggregat ist dagegen das bloß zufällige Resultat eines sukzessiven Zusammensetzens von Teilen, die äußerlich (durch räumliche Verhältnisse) in einem unbestimmten Ganzen miteinander zusammenhängen. Im Unterschied zur Leibniz'schen Prägung des Begriffs, der auch organisierte Körper einschloss, wurde das Aggregat jetzt dem Organismus entgegengesetzt, der systematisch gedacht werden müsse, auch wenn unser begrenzter menschlicher Verstand dieses System nie vollständig begreifen werde.