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Sophies Briefe in den "Poggenpuhls" von Theodor Fontane: Selbstkommentar als Programm des Realismus
(2020)
Ziel dieses Artikels ist, die Kapitel elf und zwölf des Romans "Die Poggenpuhls" zu untersuchen, der von Theodor Fontane im Jahr 1896 veröffentlicht wurde, und zu überprüfen, ob die Briefe, die in diesen Kapiteln präsentiert werden, als ein selbstreferentieller Kommentar zum Roman selbst gesehen werden können. Dafür werden andere Texte vom Autor herangezogen und analysiert, wie "Unsere lyrische und epische Poesie", ein Aufsatz, in dem Fontane ein Programm für den Realismus in der deutschen Literatur entwirft und das Werk zeitgenössischer Dichter kommentiert; "Effi Briest", ein Roman, der ebenfalls 1896 im Buchformat erschien; und Kommentare des Autors selbst, die in Briefen an Freunden und Kritikern zu finden sind. In ihren Briefen beschreibt die Figur Sophie den ihr erteilten Auftrag, drei Gemälde in einer protestantischen Kirche zu malen. Sie beschreibt und rechtfertigt die biblischen Motive, die von ihr für die Aufgabe abgelehnt werden, um danach diejenigen zu beschreiben, die sie darstellen möchte. Dabei begründet sie ihre Wahl und gibt ihren Schaffensprozess wieder. Es wird vertreten, dass diese Kapitel den Aufbau des Romans sowie die Beziehung zwischen Form und Inhalt im Text begründen, und dass sie versuchen, dessen Rezeption zu lenken, indem mögliche Vorwürfe im Voraus abgewehrt werden.
In Fontanes "Effi Briest" wird die Aufmerksamkeit des Lesers weitaus weniger auf den Ehebruch Effis mit Major Crampas gelenkt - der in ein paar Spaziergängen und einer diskret erzählten Schlittenfahrt abgehandelt wird -, im Fokus steht vielmehr Effis angstgeprägte und gespenstisch anmutende Ehe mit dem Baron von Innstetten. [...] Nach einer Hochzeitsreise nach Italien beginnt die arrangierte Ehe in dem kleinen Ort Kessin, einer Seestadt in Hinterpommern. Die Kessiner Zeit wird für Effi zur 'Unglückszeit': Es mangelt ihr an gesellschaftlichem Umgang, sie ist wegen der häufigen Abwesenheiten ihres viel beschäftigten Mannes oft allein, vereinsamt folglich und wird von Ängsten geplagt. "Drehpunkt" der Geschichte ist - wie Fontane selbst vermerkt - ein im Haus spukender Chinese, für den es im Text nur eine einzige plausible - das heißt nicht-phantastische - Erklärung gibt, nämlich die, die vom Verführer nahegelegt wird: Innstetten selbst betätige sich als disziplinierender Erzieher seiner jungen, naturhaften Frau und habe zu diesem Zweck einen "Angstapparat aus Kalkül" geschaffen, der die junge und oft allein gelassene Ehefrau auch während seiner zahlreichen beruflich bedingten Abwesenheiten im Zaum halten soll. Die folgende Lektüre will sich diesem inhaltlichen und poetologischen "Drehpunkt" des Romans über einen verdeckten Intertext annähern. Den suggestiven Formeln eines "Erziehens durch Spuk" und eines grausamen "Angstapparat[s] aus Kalkül" wird im Folgenden detailliert nachgegangen. Im Gegensatz zu den meisten der bisherigen Interpretationen sollen diese Formeln jedoch nicht dazu dienen, den "Spuk" im Zentrum eines realistischen Gesellschaftsromans zu rationalisieren und in der durch Crampas suggerierten Erklärung eines "grausamen" Innstetten zu begründen. Der phantastische Chinesenspuk soll vielmehr im Anschluss an eine Lektüre Christian Begemanns in seiner Unerklärlichkeit aufrecht erhalten bleiben. Die Formel der gespenstischen Erziehungsehe wird im Folgenden dabei auf einen Intertext zurückgeführt, der in der Verführungsepisode - verdeckt - zur Sprache kommt. Der "Angstapparat aus Kalkül" - so die hier vertretene These - ist genau genommen doppelt vorhanden, es handelt sich um Angstapparate, die die gespenstische Ehe kennzeichnen, aber auch die Verführungsgeschichte.
"Cécile" (1886) ist einer der großen Frauenromane Fontanes. Das Schicksal der Titelfigur, die die Unbarmherzigkeit gesellschaftlichen Drucks in den Selbstmord treibt, ist nicht nur menschlich anrührend, sondern kann als scharfe Kritik an Moralvorstellungen und Zwängen in einer Gesellschaft gelesen werden, die tiefe innere Gräben durch rigide Konvention überspielt. Ein zweiteiliger Aufbau an den Schauplätzen Thale im Harz, wo in der Atmosphäre der Sommerfrische kleine Transgressionen durchgehen mögen, und dem steiferen Berlin, eine sukzessive Entfaltung der Vorgeschichte Céciles und ihres Mannes St. Arnaud, die sich ihrem jungen Verehrer Gordon-Leslie als "Roman im Roman" enthüllt, und intrikate, schillernd ambivalente Anspielungs- und Motivkomplexe kennzeichnen den Text. Einer dieser Anspielungskomplexe ist den Kommentatoren bisher entgangen: der Verweis auf die Mörder Wallensteins in der Geschichte und in Schillers Wallenstein-Drama, besonders in dessen drittem Teil Wallensteins Tod, welchen die Namen des einen und der militärische Rang des anderen männlichen Protagonisten enthalten. Dem Verweiskomplex, den diese Signale öffnen, kommt eine zentrale textstrukturierende und hermeneutische Funktion zu. Den Verästelungen dieses Motivs nachzugehen kann dazu beitragen, die Verankerung des Erzählten in zeitgenössischen Diskursen nachzuzeichnen und das Wissen um Fontanes Strategie der wechselseitigen asymmetrischen, polyvalenten und oft widersprüchlichen Verspiegelung von Fiktion, Geschichtsdiskurs und der (eben im Diskurs konstruierten) Geschichte selbst um ein signifikantes Detail zu erweitern.
Das 19. Jahrhundert, die Epoche des Historismus, ist zugleich eine Epoche des Sammelns. Raritätenkabinette, Kunst- und Wunderkammern der dynastischen Gesellschaft werden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in bürgerliche Museen umgewandelt. Neben Kunstmuseen entstehen kulturgeschichtliche, naturwissenschaftliche und technische Sammlungen. Hunderte von Museen werden in dieser Zeit in Deutschland gegründet. Die monarchischen, klerikalen und wissenschaftlichen Bibliotheken werden um kommunale, öffentlich zugängliche ergänzt. Man spricht von der Demokratisierung des Sammelns, das jetzt auch in privaten bürgerlichen Kreisen eine Liebhaberei wird. Während nationale und regionale Literaturkompendien positivistisch die schriftliche Kultur akkumulieren und Sammlungen volksliterarischer Quellen die deutsche Vergangenheit auferstehen lassen, bringen Materialbesessenheit und wissenschaftliche Spezialisierung langfristige Projekte hervor: etwa die Monumenta Germaniae Historica, die von Freiherr von Stein initiierte Sammlung wesentlicher Quellen des deutschen Mittelalters oder das von Jacob und Wilhelm Grimm begonnene Deutsche Wörterbuch. Programmatisch äußert Jacob Grimm 1813: "das Sammeln und Vervielfältigen thut vor allem andern noth." 60 Jahre später beklagt Friedrich Nietzsche, dass "die antiquarische Historie […] in dem Augenblicke [entartet], in dem das frische Leben der Gegenwart sie nicht mehr beseelt und begeistert." Er spricht von dem "widrige[n] Schauspiel einer blinden Sammelwuth, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen." Sammelwut und Sammelnotwendigkeit - in der Spannung zwischen diesen beiden Polen gerät die positivistische Sammeltätigkeit in den Werken zahlreicher Autoren des 19. Jahrhunderts zum literarischen Thema. Hat Goethe ein ungebrochen positives Verhältnis zum Sammeln, so sieht es Theodor Fontane eher ambivalent. In dem vorliegenden Aufsatz möchte ich zeigen, wie der Sammler Fontane in der ihm eigenen heiter-ernsten Mischung, oft ironisch gefärbt, mit dem ihm am Herzen liegenden Thema umgeht.
Der Beitrag macht Polyglossie als wesentliche Komponente der kunstvoll literarisch gestalteten Redevielfalt deutlich, die allgemein als Kennzeichen von Fontanes Gesellschaftsromanen gilt. Polyglotte Rede umfasst in Fontanes Texten fremdsprachige Elemente, Dialekt und Soziolekt und betont so die soziale Funktion von Sprache. An konkreten Textbeispielen, insbesondere aus den Romanen Irrungen, Wirrungen, Frau Jenny Treibel und Quitt, wird gezeigt, wie variabel Fontane Sprachenvielfalt einsetzt: als Polyphonie der sozialen Stimmen und als Spiegel einer komplexen modernen Realität, die in vielfältige soziale, kulturelle und geographische Teilräume zerfallen ist.
Ermuntert durch die zahlreichen "Finessen", die Fontane in seinen Romanen hinterlassen hat, läuft die Interpretation also grundsätzlich Gefahr, den Fundus der Prätexte ständig zu erweitern und intertextuelle Bezüge zu unterstellen, die womöglich gar keine sind. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist die methodische Absicherung durch den Analyseaspekt der 'Markierung' intertextueller Verweise im Text also ebenso geboten wie schwierig einzulösen.
Im Falle der Bibel als Prätext dagegen scheint der intertextualitätsanalytische Befund zunächst eindeutig und unstrittig zu sein: Fast durchgängig finden wir in den Romanen Fontanes biblische Zitate und Anspielungen. Das ist bruchstückhaft schon erforscht worden, gemessen an den übrigen Prätexten wie literarischen Klassikern jedoch in auffällig zurückhaltender Weise, was exemplarisch an der Monographie von Plett Die Kunst der Allusion deutlich wird, in der Bibelbezüge nur am Rande behandelt werden. Die wissenschaftsgeschichtlichen Gründe für diese auffällige Zurückhaltung gilt es noch zu reflektieren und dabei die Frage zu stellen, inwieweit das Forschungsfeld der Bibelallusionen von der germanistischen Literaturwissenschaft als der Theologie zugehörig erklärt und aus diesem Grund gemieden wurde.
Es lassen sich also zwei Desiderate in der Fontane-Forschung ausfindig machen: Methodisch fehlt bislang eine angemessene Operationalisierung von intertextualitätstheoretischen Konzepten für Fontanes Texte. Zum anderen steht eine systematische Herausarbeitung von Bibelbezügen aus seinem Werk noch aus.
Rezension zu Theodor Fontane und Wilhelm Wolfsohn - eine interkulturelle Beziehung. Briefe, Dokumente, Reflexionen. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen u. Itta Shedletzky. Bearb. von Hanna Delf von Wolzogen, Christine Hehle u. Ingolf Schwan. Tübingen: Mohr Siebeck, 2006. XXVI, 548 S. (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts. 71).
The Melusines that appear in Fontane’s texts [...] must be read as part of history of citations and refigurations, a history that then revives and flourishes in diluted form around the turn of the century with the trivial myth of the femme fatale. The new context for Fontane’s Melusine is the social construction of the feminine in the context of the conflict over the equality and/or the difference of the sexes, and the currency of certain clichéd versions of this construction. [...] In this essay, I will examine the function that the Melusine figure — as the recasting and rewriting of a myth — assumes in realist texts and, specifically, in the texts of Fontane.
Der Blick auf Dichterruhm und Dichterverehrung im 19. Jahrhundert kann leicht in Vergessenheit geraten lassen, daß das immerwährende Hauptproblem dichterischer Existenz für die meisten der damals lebenden Autoren ein ganz anderes gewesen ist: die Bezahlung, das Geld. Während die Dichter des 18. Jahrhunderts ihren Lebensunterhalt noch weitgehend aus Familienbesitz oder ihrer mäzenatischen Versorgung durch die Höfe bestreiten konnten - alles andere wäre wegen des noch nicht gegebenen Urheberrechtsschutzes auch ausgeschlossen gewesen -, sind die des 19. Jahrhunderts zunehmend auf die Einnahmen aus ihren Werken angewiesen, und hier zeigte sich, daß auf die Gunst des Publikums noch viel weniger Verlaß war als vormals auf die Gunst der Mäzene. Auch Theodor Fontane hat sich so zeitlebens weniger um sein Ansehen als um sein Einkommen sorgen müssen, und je länger je mehr interessierte ihn dieses Ansehen überhaupt nur noch unter dem Gesichtspunkt, ob es ihm auch etwas eintrug.
Ein See, ein Wald, ein Dorf und ein Herrenhaus: tiefste Provinz. Ein Schloß im Norden der Grafschaft Ruppin. "Alles still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit, wird es an ebendieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sichs auch hier, und einWasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe. Das wissen alle, die den Stechlin umwohnen ..." Fontanes gleichnamiger großer Roman thematisiert die Wechselwirkung von Weltgeschehen und Region. Und es ist nicht nur das uralte Kommunikationsmedium der Natur in Gestalt des Sees, sondern als neuestes Medium die Telegraphie, die den "Ort" (See, Wald, Dorf und Schloß) mit der Welt verbindet.
Ich werde im Folgenden zeigen, daß Fontane in "Effi Briest" mittels der Raumgestaltung eine Topographie des Fremden entwirft, die mit dem Verlauf und den Krisen der dargestellten Ehe korrespondiert. Der Roman projiziert die Ehekonflikte des Paares Effi–Innstetten auf den dargestellten Raum. Er tut dies über den Gegensatz von "Natur" und "Kultur", der als kulturgeschichtliches Ordnungs- und Denkmuster die Geschlechterrollen gleichermaßen wie die Topographie strukturiert. In diesem Vorgehen gerät Fontane der Romanraum zum "Ort der Zivilisationsarbeit". Und eben darin gelangt jenes "versteckt und gefährlich Politische" zum Ausdruck, das Fontane so sehr interessierte.
Fontane, ja gewiß - aber muss es Effi Briest sein? Bietet nicht Irrungen Wirrungen die wahrere, Frau Jenny Treibel die deftigere, L'Adultera die erfreulichere Geschichte? Doch Effi Briest kennt jeder, kann jedenfalls jeder nennen, und weil Bekanntheit immer auch motiviert und diesen Roman nicht zu kennen auch wiederum zu wenig wäre, kann ruhig mit ihm der Anfang gemacht werden.
Die Familie hatte sich bemüht, alle Spuren zu beseitigen, aber heraus kam es doch. "Denke Dir", Titelso lautete ein lange unterdrückter Brief Theodor Fontanes vom 1. März 1849 an seinen Freund Bernhard von Lepel, "Enthüllungen No II; zum zweiten Male unglückseliger Vater eines illegitimen Sprößlings". Und: "Meine Kinder fressen mir die Haare vom Kopf, eh die Welt weiß, daß ich überhaupt welche habe." Mit der Veröffentlichung 1960 wußte es also die Welt, und die Vermutungen gingen auch sofort in eine bestimmte Richtung. Da die Hiobsbotschaft Fontane als ‘Aktenstück aus Dresden’ erreicht hatte, nahm man an, daß dann nur beide Kinder aus ein und derselben Verbindung stammen konnten. Zu Dresden hatte er seit 1843, dem Ende seines Volontariats in der Salomonis-Apotheke, eigentlich keine Verbindung mehr - sollte dann nicht allein ein solches dort schon bestehendes Verhältnis zu einem weiteren Kind daselbst geführt haben?
Manche mögen noch immer für einen Scherz halten, was der knapp dreißigjährige und damals noch unverheiratete Theodor Fontane am 1. März 1849 an einen seiner Freunde schrieb, einen Scherz, weil es zu seiner sonstigen Redlichkeit und Umsicht so gar nicht zu passen scheint. "Denke Dir", schrieb er an den zwei Jahre älteren Bernhard von Lepel, 'Enthüllungen No II'; zum zweiten Male unglückseliger Vater eines illegitimen Sprößlings. Abgesehn von dem moralischen Katzenjammer, ruf ich auch aus: "Kann ich Dukaten aus der Erde stampfen usw." Meine Kinder fressen mir die Haare vom Kopf, eh die Welt weiß, daß ich überhaupt welche habe. O horrible, o horrible, o most horrible! ruft Hamlets Geist und ich mit ihm. Das betreffende interessante Aktenstück (ein Brief aus Dresden) werd' ich Dir am Sonntage vorlegen, vorausgesetzt, daß Du für die Erzeugnisse meines penes nur halb so viel Interesse hast wie für die meiner Feder.
Meine Lektüre, die Canettis "Die gerettete Zunge" und Fontanes "Meine Kinderjahre" nebeneinanderstellt und gegeneinander führt, will nachweisen, daß beide Texte durch ein gemeinsames Bezugssystem definiert sind, durch das sie bedingt und hervorgebracht werden, das in ihnen aber auch mimetisch dargestellt ist und sich selbst thematisch wird. Die Koordinaten dieses Bezugssystems sind der Tod einerseits, die Kunst, genauer die Wirkungsmöglichkeiten der eigenen Dichterexistenz, andererseits. Beide Sujets stehen bei Fontane und bei Canetti in einem Ausschließungs- und einem Bedingungsverhältnis: der Tod, der allem Dichten ein Ende macht, ist gleichzeitig das, was den Schriftsteller dazu veranlaßt, gegen ihn anschreibend Leben in die Literatur zu retten - und damit auch, das ist der dialektische Umschlag: als Leben zu zerstören. Dieses Schreiben gegen den Tod, das Beschreiben des Todes und die Inszenierung des eigenen Dichtertums als Annihilation der Todesgefahr finden sich mit signifikanten Kongruenzen und ebenso signifikanten Inkongruenzen bei Fontane und Canetti. Versucht werden soll eine Annäherung an die beiden autobiographischen Texte durch eine Rekonstruktion der Schreibsituation von "Meine Kinderjahre" und "Die gerettete Zunge".
Wenn Effi Briest in den letzten zwei Jahrzehnten in unseren Schulen fast zur Pflichtlektüre geworden ist, so hängt das aufs engste damit zusammen, daß dieser Roman heute allgemein als gesellschaftskritisch verstanden wird, Effis Schicksal also als ein Beispiel dafür gilt, wie ein natürlich veranlagter, rein seinen Empfindungen folgender Mensch an bestimmten gesellschaftlichen Konventionen scheitert und ihnen schließlich zum Opfer fällt. Effi sei es um nichts als um ein ,schlichtes und schönes Leben' gegangen, lautet etwa ein in diesem Sinne paradigmatisch gewordenes Urteil von Lukacs, die Gesellschaft jedoch habe diesen ihren Anspruch einfach ,zerstampft'. Oder man denke an die immer wieder als besonders werkgetreu gelobte Verfilmung des Romans durch Faßbinder, in der Effi, regelmäßig ganz in Weiß, von lauter deformierten Gesellschaftswesen umgeben ist, die nicht ruhen, bis sie dieses einzige unverdorbene Geschöpf zugrunde gerichtet haben. Daß hinter solchen Deutungen stets auch die Absicht steht, heutige gesellschaftliche Verhältnisse zu kennzeichnen und zu kritisieren, versteht sich von selbst, soll hier aber nicht weiter beachtet werden, zumal natürlich auch zweifelhaft ist, daß ausgerechnet der Fall Effi Briest zur Bestimmung heutiger gesellschaftlicher Mißstände viel beitragen kann. Zunächst stellt sich die Frage nach der Plausibilitat jener Deutungen selbst, denn erst einmal sind sie es, die sich bei der Behandlung des Romans bewähren müssen.