Gerold Scholz:Vortrag vom 9.7 92"Kind und Sache. Pädagogisch-psychologische Grundlagen eines fächerintegrierenden Studiums des Lernbereiches Sachunterricht"Sehr geehrte Damen und Herren,Ich setze mich in meinem Vortrag mit der Gegenüberstellung von Kindorientierung und Wissenschaftsorientierung auseinander. Ich will im ersten, längeren Teil zeigen, wie sich wissenschaftliche Wahrnehmung und kindliche Wahrnehmung zueinander verhalten. Im zweiten Teil werde ich einige Konsequenzen aus den Ergebnissen dieser Gegenüberstellung für das Studium des Sachunterrichts ziehen. Ich erinnere zunächst nur knapp an die Kontroverse. Aus der vielfältigen Kritik an der Heimatkunde - ihrem volkstümelndem Bildungsansatz - formulierte der Bildungsrat 1970: "Eine für den Unterricht im Primarbereich neue Akzentuierung ist die prinzipielle wissenschaftliche Orientierung der Lerninhalte und Lernprozesse". Zehn Jahre später schrieb die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder: "Wissenschaftsorientierung wird vor allem als ein kontinuierlicher Prozeß verstanden, in dem spontane Erfahrungen, Vermutungen und Meinungen der Schüler allmählich in methodisch überprüfbare und gesicherte Erkenntnisse übergeführt werden." Seitdem beschäftigt die Frage, wie dieser allmähliche Übergang zu bewerkstelligen sei; beziehungsweise: ob ein solch gleitender Übergang überhaupt möglich ist. Meine Position ist: Kindliche und wissenschaftliche Wahrnehmung sind derart unterschiedlich, daß ein Wechsel der Wahrnehmungsweisen sich aus einem qualitativen Sprung ergibt, der wiederum eine Summe von Erfahrungen voraussetzt. Ein kindorientierter Sachunterricht, der Wissenschaftlichkeit als Methode versteht - bahnt - so meine These - diesen qualitativen Sprung an. Die empirische Grundlage meiner Darstellung bilden eine dreijährige Untersuchung zu der Frage: "Was und wie Kinder voneinander lernen" und eine Langzeitstudie zum Sachunterricht vom 1. bis zum 4. Schuljahr. Die beobachtete Klasse kommt nach den Sommerferien in das 4. Schuljahr. Die eigentliche Auswertung beginnt erst dann. Von daher spreche ich hier noch undifferenziert von "Kind" und meine damit Grundschulkinder. Eine Differenzierung in Jungen und Mädchen ist mir zur Zeit nicht möglich. Soweit meine Einleitung. Ich beginne mit dem Hauptteil meines Vortrages. Die Welt begegnet uns heute - vordergründig formuliert - in zwei Weisen: als Phänomen und als Text. Dies ist keine wissenschaftlich begründbare Aussage, sondern eine Hilfskonstruktion, mit der sich darstellen läßt, inwiefern sich die Wahrnehmung von Welt durch Kinder und gebildete Erwachsene unterscheidet. Text meint zunächst: Das, was über die Welt aufgeschrieben ist. Der Vorgang des Aufschreibens ist verbunden mit dem der Ordnung. Insofern ist Wissenschaft Teil des Textbegriffes, als sie an dem Nachweis der Ordnung von Welt orientiert ist. "Text" weist auch auf die Distanz hin zwischen dem Aufgeschriebenen und dem, wovon das Aufgeschriebene berichtet. Phänomene begegnen - wiederum vordergründig formuliert - als natürliche, technische und soziale Phänomene. Ich sage noch einmal: die Aufteilung von Phänomen und Text ist eine Hilfskonstruktion. Denn Phänomene lassen sich immer nur kulturbedingt wahrnehmen. Um etwa zu verstehen, wie Kinder Welt auffassen, ist neben ihrer Beobachtung eine Reflexion der eigenen Wahrnehmung notwendig. Tatsächlich ist in einer entwickelten Industriegesellschaft die Differenzierung zwischen Phänomen und Text sehr schwer. Ich habe gesagt, das Phänomene uns als natürliche, soziale oder technische Phänomene begegnen können. Wenn Sie als Beispiel einen Wald nehmen, so wird deutlich, daß hier alle drei Faktoren zusammenspielen und das ausmachen, was wir als Wald wahrnehmen können. Das als Natur verstehbare Wachstum der Bäume, der Einfluß der Forstwirtschaft als Technik der Forstwissenschaft und der Einfluß der sozialen Bedingungen: Etwa die Gestaltung des Waldes als Naherholungsgebiet. In einer technisch gemachten Umwelt sind die Phänomene selbst Ausdruck von Technik, oder wie ich sagen möchte: tragen Textcharakter. Traditionelle Wahrnehmungsformen tragen nicht mehr. Einem Computer etwa kann man nicht mehr ansehen, wie er arbeitet. Vor allem die Militärtechnologie hat die Regel "groß ist stark" außer Kraft gesetzt. Und so weiter. Zum Verständnis unserer Welt ist das Wissen, d.h. der Verweis auf Texte notwendig geworden. Zum Problem für das Verstehen wird für Kinder, daß wir Erwachsenen gelernt haben, die Welt aus der Perspektive des Textes wahrzunehmen. Ich erkläre dies an einem Beispiel. In jedem neuzeitlichen Lexikon werden Sie unter dem Stichwort "Wasser" einen Satz finden, der ungefähr so lautet: "Wasser, H2O, ist eine durchsichtige, geruchlose Flüssigkeit." Jeder wird dem zustimmen. Aber: Alles Wasser, das Sie in der Natur finden können, riecht und ist selten durchsichtig. Der Lexikonsatz meint aber nicht das Wasser des Baches oder Flusses, sondern ein naturwissenschaftliches Konstrukt, das mit der Methodologie der Naturwissenschaften von anderen Flüssigkeiten abgegrenzt wird. Der Lexikonsatz meint dies naturwissenschaftlich definierte Wasser. Dagegen ist nichts zu sagen. Das Problem besteht darin, daß die Differenz zwischen dem Wasser als Phänomen und dem Wasser, über das eine (wissenschaftliche) Aussage gemacht wird, das diese Differenz unterschlagen wird. Nun können Grundschulkinder in der Regel zwar am Ende des ersten Schuljahres lesen, aber die Welt aus der Textperspektive heraus verstehen können sie nicht. Sie werden dies vielmehr im Laufe ihrer Grundschuljahre und ich denke darüberhinaus erst lernen müssen. Sie werden dabei eine Revolution im menschlichen Denken nachvollziehen müssen, für die die erwachsenen Wissenschaftler mehrere Jahrhunderte gebraucht haben. Erst seit dem 18./19. Jahrhundert orientieren sich wissenschaftliche Texte allgemein an dem, was wir heute unter Wissenschaftlichkeit verstehen. Ich versuche diesen Sprung vom vorwissenschaftlichen zum wissenschaftlichen Denken an Galilei zu verdeutlichen. Galilei gilt mit der Einführung des Experiments als Begründer der modernen Naturwissenschaft. Übersehen wird dabei leicht, daß seine Experimente von den Vorannahmen getragen waren, daß die Welt eine Ordnung hat, die sich mathematisch beschreiben läßt. Erst auf dieser Grundlage konnte er die Meßfehler bei seinen Experimenten nicht der Natur zuschreiben, sondern der anordnung seiner Experimente. Galilei hat die Existenz einer Welt im Sinne eines geordneten Systems vorausgesetzt. Seine Begründung war übrigens Religiös: Gott konnte nur eine schöne Welt geschaffen haben und die Schönheit drückte sich in einer klaren Ordnung der Welt aus. Wenn wissenschaftliches Verständnis heißt zu wissen, daß diese Welt eine Ordnung hat und wie die Ordnung zu beschreiben ist, dann können Kinder über dieses Wissen nicht verfügen. Wenn man sie dazu bringt, die Ergebnisse der Texte zu lernen, so lehrt man sie an etwas zu glauben, was sie selbst nicht nachprüfen können. Ein achtjähriger der sagt, Wasser ist eine durchsichtige und geruchlose Flüssigkeit, weiß nicht, sondern glaubt. Ich habe die Unterteilung in Text und Phänomen auch als didaktische Hilfe eingeführt, weil ich Sie sensibilisieren wollte für die andere Wahrnehmungsweise von Kindern. Kinder nehmen - in diesem Sinne - Phänomene wahr und nicht Texte. Sie nehmen diese Phänomene nicht naiv wahr. Vielmehr versuchen sie, wie Erwachsene auch, aber eben anders, die Phänomene zu verstehen. Es ist Allgemeingut geworden zu sagen, daß Kinder ihre "Umwelt nicht nach den Ordnungsgesichtspunkten der Fachwissenschaft sehen und erfahren" - so die KMK, daß sie Gegenstände in ihrer Komplexität wahrnehmen und begreifen usw. Ich will dies in einigen Punkten erweitern und konkretisieren.
Kinder müssen Erfahrungen machen können. Sie benötigen dazu Lerngegenstände, die es ihnen ermöglichen, eine Vielfalt von Umgangsweisen mit dem Gegenstand auszuprobieren. Ich kann mir an dieser Stelle nicht versagen, von Robert zu erzählen. Robert bekam die Aufgabe mit einer Batterie eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen. Unglücklicherweise erhielt er dazu einen kleinen schwarzen Plastikkasten von CVK. Oben läßt sich eine Birne einschrauben. Daneben sind Metallspangen. Es hat nach vielen Versuchen nicht funktioniert. Und Robert schraubte den Kasten auf, weil er das Geheimnis des Stromes darin suchte. Es war dann furchtbar schwer, den Kasten wieder zusammenzuschrauben. Es geht also darum, Kindern mit den Gegenständen, seien dies natürliche, soziale oder technische, nicht bereits die Gebrauchsanweisung mitzugeben, mit der Aufforderung, sich danach zu richten. Farbig markierte Magnete sind ein anderes Beispiel für diese didaktische Unsitte. Kinder - und auch hier folge ich Martin Wagenschein - sind bei der Durchführung ihrer Experimente und der Bildung ihrer Theorien im Rahmen ihrer Theorien anzuleiten und herauszufordern. In der Übung des Infragestellens von Erklärungen sehe ich eine Übung des Nachdenkens und eine Voraussetzung für wissenschaftliches Denken. Ich unterscheide mich von Martin Wagenschein im folgenden Punkt: Ich sehe nicht, daß eine an sein Ende getriebenes Nachdenken innerhalb der Methoden kindlichen Denkens notwendig und logisch zu einem wissenschaftlichen Denken führt. Die Theorien der Kinder sind in sich hermetisch und richtig, solange sie auf Erfahrungen beruhen. Es gibt aus der Welt des Kindes heraus auch keine Notwendigkeit, die vorhandenen Theorien grundsätzlich in Frage zu stellen. Denn alles läßt sich mit ihnen befriedigend erklären. Der Problemdruck, die eigene Erklärung als nicht zureichend zu empfinden, ergibt sich aus dem Wissen der Kinder, daß Erwachsene andere Erklärungen haben und dem Bemühen, diese verstehen zu wollen. Zwischen kindlicher Theorie und denen der Erwachsenen gibt es also eine Art Konkurrenz - und damit, wenn man erwachsen werden will, und das wollen alle Kinder auch - die Aufforderung, sich deren Kategorien anzueignen. Für Grundschullehrerinnen bedeutet dies keine leichte Aufgabe. Sie müssen zweierlei aushalten: Einmal innerhalb kindlicher Wahrnehmungs- und Verstehensweisen zu argumentieren und zum zweiten auch im Rahmen dieser Diskussion die Tatsache, daß Erwachsene anders darüber denken, präsent halten - ohne dieses Denken aufzuoktroieren. Lehrer für den Sachunterricht benötigen daher zwei gleichrangige Qualifikationen, die sie auch noch miteinander verschränken können sollten: Sie müssen erstens etwas über Kinder wissen und deren Weltsicht. Sie sollten sich mit Kindern intensiv beschäftigt haben und die Fähigkeit besitzen, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt von Kindern hineinzuversetzen. Sie benötigen zweitens ein grundlegendes Wissen über wissenschaftliche Denkweisen und Methoden. Wenn man unterstellen darf, daß der Schulunterricht der meisten Studierenden zum großen Teil im Lernen von Texten bestand - Wagenschein gibt dafür viele Beispiele - so wird das Studium die Aufgabe übernehmen müssen, auch dem Studierenden eine Begegnung mit komplexen Phämonen zu ermöglichen und von ihm erwarten, daß er seine Alltagstheorien an diesen Phänomenen abarbeitet. Die Erfahrung aus dieser Abarbeitung kann sensibel machen für den Prozeß, den Kinder durchführen und scheint mir Voraussetzung zu sein für das Verstehen wissenschaftlicher Methodik. Wenn man einmal die Textperspektive durchbricht, so wird deutlich, daß auch Erwachsene sehr wohl einen Zugang zu Phänomenen besitzen. Die Gegenstände naturwissenschaftlicher Analyse sind uns vielfach als Bilder vorhanden, in denen alte Beziehungen zwischen Mensch und Naturphänomenen aufbewahrt sind. Ein solches Studium kann exemplarisch sein, d.h. an ausgewählten Beispielen die Grundfragen einer Fachwissenschaft behandeln. Seminarthemen könnten sein: Das Experiment, der Mond, Spiel, Wachstum, Umwandlungsprozesse, Moral usw.. Ein wichtiges Hilfsmittel dabei ist die Kenntnis der Geschichte einer Wissenschaft, nicht als Technikgeschichte oder Fortschrittsgeschichte, sondern als Fundus all der Denkmöglichkeiten, die Menschen bereits gedacht haben. Verstehen schließlich läßt sich die Geschichte einer Fachwissenschaft auch nur, wenn man eine Perspektive einnimmt, die die Fachwissenschaft als Versuch einer Lösung für ein allgemeineres Problem versteht. Themenbeispiele: Der Begriff der Natur, Fortbewegungsmittel, Bewässerungssysteme, Utopie, Gerechtigkeit und Demokratie usw. Der Sachunterricht in der Schule als integriertes Fach und nicht als Addition von Geschichte, Physik, Chemie, Geographie, Biologie und so weiter bedarf eines fächerübergreifenden Studiums. Das heißt vor allem: eine Verschränkung von naturwissenschaftlichen mit sozial- gesellschaftswissenschaftlichen und kulturell-ästhetischen Gesichtspunkten zu gewährleisten. Diese Verschränkung scheint mir dann gegeben, wenn man von einem Phänomen ausgeht. Dies schließt eine exemplarische Spezialisierung oder Grundlagenvorlesungen nicht aus. Es geht mir hier um die Akzentsetzung. Schließlich wird es darauf ankommen, bereits im Studium erfahren zu können, wie Kinder mit bestimmten Gegenständen und Themen umgehen, genauer gesagt: wie sich das Verhältnis zwischen den eigenen Vorstellungen und denen der Kinder gestaltet. Ich halte Lernwerkstätten für einen dazu außerordentlich nützlichen Beitrag. In einer Lernwerkstatt können Studenten Gegenständen und Fragen des Sachunterrichts begegnen und sie können dort mit Kindern arbeitend deren Weltsicht kennenlernen. Ich komme zum Schluß. Im Götz von Berlichingen läßt Goethe den alten Goetz zu seinem Sohn sagen. Ich zitiere sinngemäß: Als ich so alt war wie du, wußte ich nicht die Namen, die du mir alle nennst, aber ich kannte die Orte. Es ist Aufgabe des Sachunterrichts Ort und Namen zusammenzubringen. Voraussetzung dafür ist, daß die Kinder die Orte kennen und die Lehrer auch die Namen wissen. Der Übergang - nicht "zu methodisch überpüfbaren und gesicherten Erkenntnissen" - wie die KMK schreibt, sondern zu wissenschaftlichem Wissen ist insofern ein Bruch, als er eine andere Perspektive einzunehmen verlangt. Und er ist dann gleitend, wenn es dem Lehrer oder der Lehrerin gelingt, das Kind aus der Infragestellung seiner Erfahrungen heraus in die Denkweise der modernen Text-Wissenschaften zu führen. Das gilt meines Erachtens im Kern auch für Studierende und Hochschullehrer. Ich danke Ihnen. |
|