"Musik in Passagen" : Walter Benjamin und die Musik in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts

  • In einer fast beiläufig formulierten Bemerkung zur Methode seiner Passagenarbeit spricht Benjamin von der "Notwendigkeit, während vieler Jahre scharf auf jedes zufällige Zitat, jede flüchtige Erwähnung eines Buches hinzuhören" (GS V, 587). Dass – wie in nicht wenigen Prosaminiaturen der Berliner Kindheit – auch für die aufwendige Zusammenstellung der Exzerpte eine ohrenfällige Metapher zur Anwendung gelangt, unterstreicht die Notwendigkeit, sich mit der Bedeutung musikalisch-akustischer Impressionen für seine Vermittlung von Traum, Mythos, Bild und Warenwelt zu befassen. Das bisherige Desinteresse an einem solchen Versuch teilt die kaum mehr überschaubare Benjamin-Exegese mit der musikologischen Literatur, deren Zurückhaltung indessen recht einfach zu erklären ist: Die aus ihrer Sicht für eine musikgeschichtliche Kontextualisierung des Dioramas oder die ästhetischen Konsequenzen des 'Chocks' in Frage kommenden Komponisten werden in der Passagenarbeit fast sämtlich übergangen. Als die intellektuellen Residuen der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts kompilierender Flaneur und Chiffonnier ist Benjamin nur bis in die vom Boulevard Haussmann verdrängte Passage de l'Opéra gelangt, deren vom allmählichen Verfall geprägte Atmosphäre schon Aragon zu den subjektiv-surrealistischen Visionen seines Paysan de Paris inspirierte. Was sich innerhalb der Pariser Musiktheater ereignete, findet mit einer Ausnahme sein Interesse hingegen ebenso wenig, wie die Musikforschung die sich in den Bühnenwerken Aubers, Meyerbeers oder Halevys manifestierende "Verstädterung der Oper" ohne eine nennenswerte Auseinandersetzung mit dem Passagenprojekt untersuchte. Und während dessen 1935 verfasstes Exposé die Namen Offenbach und Wagner immerhin im Kontext der ironischen Utopie des Weltausstellungstaumels oder Baudelaires mit dem Gesamtkunstwerk assoziierter Flucht vor dem gesellschaftlichen Dasein der Künste8 erwähnt, fehlt der gerade für die musikalische Umsetzung der von Benjamin als zentrale Erkenntnisquelle erachteten Dialektik von "Traum" und "Erwachen" (vgl. z. B. 490–510, 579–580) unverzichtbare Hector Berlioz. Hier verbirgt sich – denkt man an Werke wie die Symphonie Fantastique, Lelio oder Harold en Italie – eine auch von der Berlioz-Literatur noch gänzlich unbeachtete Konstellation. Benjamins Einbindung eines kompositorischen Zeitgenossen in eine divergente Gedankenstränge zusammenführende Metapher oder ein "dialektisches Bild" erfordert demgegenüber eine präzise Kontextualisierung: So erscheinen in einer der mythologisierenden Eisenbahnepisoden Orpheus, Eurydike und Hermes auf dem Bahnsteig, wo eine sich aus dem aufgetürmten Gepäck formende Kofferkrypta die zum Melodram geronnene antike Urgeschichte christlich sublimiert (512).

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Metadaten
Author:Tobias Robert Klein
URN:urn:nbn:de:hebis:30:3-385412
ISBN:978-3-7705-5343-3
Parent Title (German):Klang und Musik bei Walter Benjamin / Tobias Robert Klein in Verbindung mit Asmus Trautsch
Publisher:Wilhelm Fink
Place of publication:Paderborn
Editor:Tobias Robert Klein
Contributor(s):Asmus Trautsch
Document Type:Part of a Book
Language:German
Year of Completion:2013
Year of first Publication:2013
Publishing Institution:Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
Release Date:2015/11/24
GND Keyword:Musik; Paris; Benjamin, Walter; Das Passagen-Werk
Page Number:11
First Page:117
Last Page:127
HeBIS-PPN:381258548
Dewey Decimal Classification:8 Literatur / 80 Literatur, Rhetorik, Literaturwissenschaft / 800 Literatur und Rhetorik
Sammlungen:Germanistik / GiNDok
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