BDSL-Klassifikation: 19.00.00 1990 bis zur Gegenwart > 19.09.00 Stoffe. Motive. Themen
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Den wissenschaftlichen Historismus seit Leopold von Ranke und den ästhetischen Historismus des klassischen historischen Romans seit Walter Scott, der bis heute etwa im Wenderoman von Uwe Tellkamp seine Fortsetzung findet, scheint eher ein Verwandtschafts- als ein Transformationsverhältnis zu verbinden. Etablierte sich der historische Roman gerade dadurch als Gattung, dass er an der Geschichtswissenschaft und ihrem Wahrheitskriterium Maß nehmend Ebenbürtigkeit reklamierte, relativiert die postmoderne Historiografieforschung umgekehrt den Gültigkeitsanspruch der wissenschaftlich ermittelten Sinnhaftigkeit der Geschichte als Produkt narrativer Verfahren ihrer Darstellung. Die Transformation der Geschichtswissenschaft in den historischen Roman, so die These dieses Aufsatzes, betrifft weniger die Erzählverfahren als vielmehr die Sinndeutung: Die abstrakten Sinnzusammenhänge, die die Wissenschaft konstruiert, übersetzt der Roman zurück in konkreten Sinn, der der Geschichte die Aura von Subjektgemäßheit und Zustimmungswürdigkeit verleiht.
Die Vergangenheitsbewältigung der Erfahrung von Krieg und Diktatur im 20. Jahrhundert in Deutschland ist ein zentrales Thema auch in der jüngsten Literatur und hat Anlass für verschiedene Studien gegeben. Im vorliegenden Beitrag wird eine vergleichende Analyse der Vergangenheitsbewältigung in zeitgenössischen Romanen der deutschen Literatur angestrebt, die die Figur des Nationalsozialisten und die Schuldfrage in den Mittelpunkt stellt. In diesem Zusammenhang wird u.a. folgenden Fragen nachzugehen sein: in welcher Täter-/Opferrolle erscheinen überzeugte Nazis und andere Deutsche? Handelt es sich um authentische oder um stereotypisierte Figuren? In welcher Hinsicht werden diese Texte heute, mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, den Lesererwartungen gerecht bzw. verändern den Blick auf die dunkle Vergangenheit? Im Vergleich von deutschen Romanen des 21. Jahrhunderts soll versucht werden, die Gemeinsamkeiten der Aufarbeitung einer problematischen Vergangenheit in literarischer Form darzulegen, die Frage nach der Schuld an den Verbrechen, die in der Zeit des Nationalsozialismus verübt wurden. Dabei spielen die Begriffe Gedächtnis und Erinnerung eine wichtige Rolle, da dieses Forschungsfeld von großer Bedeutung sowohl in der Kultur- als auch in der Literaturwissenschaft ist. Die Debatten über die historische Vergangenheit Deutschlands erfordern einen kritischen Blick auf die Theorie der Erinnerungskultur und des kollektiven Gedächtnisses. Zu hinterfragen ist, wie diese Vergangenheit von der Kriegsgeneration und den nachfolgenden Generationen wahrgenommen wird. Diese Literatur entsteht also als ein bedeutsames Medium, das die Auseinandersetzung über Aufarbeitung von Vergangenheit und Schuld ermöglicht. Aus der Perspektive von vier Romanen der deutschsprachigen zeitgenössischen Literatur wird hier versucht, verschiedene Darstellungen dieser Thematik zu präsentieren. Der vorliegende Beitrag soll Wege für künftige, vertiefende Diskussionen öffnen und Interesse für diese Literatur wecken, um die ständige Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart besser analysieren und verstehen zu können. Die ausgewählten Romane, die hier vorgestellt werden, sind Günter Grass, "Im Krebsgang" (2002), Uwe Timm, "Am Beispiel meines Bruders" (2001), "Spione" von Marcel Beyer (2000) und "Der Vorleser" (1995) von Bernhard Schlink.
Die Entscheidung, "Flüchtling" zum Wort des Jahres 2015 zu erklären, bewirkte zweierlei: Sie rief Flucht und Vertreibung in das kulturelle Bewusstsein zurück und rückte ihre medialen Repräsentationsformen in das Blickfeld der Migrationsdiskurse. Der literarische Diskurs der Migration interessiert sich für ästhetische Darstellungsformen von Migrationsformen. Er hinterfragt festgefahrene Vorstellungsmuster und problematisiert die bedeutungskonstruierenden und -konstituierenden Schemata der Migration, zu denen auch die erzwungenen Formen Flucht und Vertreibung zählen. Der literaturwissenschaftliche Diskurs geht der Frage nach Figurationen des Flüchtlings nach und untersucht, in welchen kulturellen Bedeutungszusammenhängen Flüchtlingsfiguren verortet werden, an welchen poetischen Mitteln diese Verortung erprobt wird und welche Erkenntnisse aus dem literarischen Diskurs des Flüchtlings gewonnen werden können. Dieser Diskurs verlöre aber an Wirkung, würde er jene begriffliche Signifikanz nicht auch in ästhetischer Hinsicht begründen. Zugleich gilt es die Wechselwirkung des Literarischen und Gesellschaftlichen im methodischen Vorgehen zu berücksichtigen. Ohne die Wechselwirkung an dieser Stelle historisch vertiefen zu können, sollen die Semantiken, die der öffentlich-politische Diskurs dem Flüchtlingsthema bisher zugeschrieben hat, herangezogen werden, denn in diesen Semantiken lässt sich eine Symbolik erkennen, die Aufschlüsse über das Verständnis des Kulturellen nach einer Definition ex negativo geben kann: Symptomatisch ist die dreifache Annahme, Flüchtlinge betrachteten identitätsstiftende Kriterien der aufnehmenden Gesellschaft nicht als verbindlich, sie teilten deren Geschichte nicht und könnten daher auch nicht an deren Gedächtnishorizont teilhaben; dieses Verständnis erfasst den Flüchtling nicht als Phänomen kultureller und globaler Prozesse, sondern verortet ihn an den Grenzen des Eigenen im Sinne einer Erscheinung außerhalb des eigenkulturellen Raumes.
Vom 20. bis 22. September 2017 fand an der Philologischen Fakultät der Universität des Baskenlandes die nunmehr dritte internationale Fachtagung zu literarischen Repräsentationen von Heimat statt. Unter dem Motto "Unheimliche Heimaträume" widmeten sich die Referentinnen und Referenten mehrheitlich der deutschsprachigen Literatur seit 1918. Dennoch gab es auch dieses Mal eine Sektion zur baskischsprachigen Literatur.
Benjamin Hein beschäftigt sich im Beitrag "Über die Dethematisierung der Judenverfolgung und des Holocaust in der Populärliteratur der Nachwendezeit" mit den gegenwärtigen literarischen Aufarbeitungstendenzen der NS-Vergangenheit. Er untersucht, wie das Fortwirken eines Authentizitätsanspruchs und eines damit verbundenen 'Bildverbots' in der Schrifsteller-Generation der Nachgeborenen sowie der dritten Generation eine Aussparung der Opferperspektive zeitigt, die eine brisante Leerstelle produziere.
Mit dem Beitrag von Lis Hansen zu den "Verdammte[n] Dinge[n] - Tabu und Müll in der Literatur" wenden wir uns im Anschluss der Betrachtung von Tabus und ihrer Überschreitungen in der Literatur zu. Hansen begreift Müll dabei im Sinne von Mary Douglas als Medium der Ordnungsstiftung und weist dem ordnungstiftenden Akt des Entsorgens mit Kristevas Abjekt-Begriff identitätsstiftende Funktion zu. Damit sind Müllprodukte jedoch auch fortwährend eingebunden in einen Kreislauf von Bedeutungsverlust und Sinnstiftung. Anhand verschiedener Beispiele der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zeigt sie, wie die ausrangierten, erneut aufgefundenen Dinge für ihre Finder das Potential bereithalten, Lebensgeschichten zu erzählen und Sinnverlust in Sinnproduktion verwandeln können. Dabei setzt die Möglichkeit eines neuen Sinnarrangements aus dem Verworfenen poetisches Potential im Sinne eines semantischen Spiels frei, so dass dem Begriff Recycling hier eine neue, gleichsam poetisch gewendete Funktion zukommen kann.
Dem Beobachter der literarischen Szene in Deutschland fällt früher oder später auf, dass Alexander von Humboldt - von einem Vorgriff um 1980 abgesehen - im ersten Dezennium des 21. Jahrhunderts zu einer Hauptgestalt literarischer Fiktion geworden ist. Wie ist die Ikonisierung des Forschungsreisenden und Universalgelehrten im deutschen Roman zu erklären? Was fasziniert, was provoziert die Autoren an diesem Mann, an diesem Leben? Welche Motive, welche subjektiven Haltungen, welche substantiellen Gehalte lassen sich bei der Lektüre dieser Romane erschließen? Welche stilistischen Differenzierungen haben Humboldts Diktion in seinem eigenen Bericht über seine berühmte Forschungsreise und seine distanzierte Haltung gegenüber dem human factor bei Autoren der Gegenwart herausgefordert? Kaum einem Autor geht es lediglich um eine fiktionalisierte Biographie oder um eine populärwissenschaftliche Aufbereitung von Humboldts Forschungen mit literarischen Mitteln. In einer Zeit, in der auch die Wissenschaftsgeschichte ihre Narrative kreiert, wird bei den Schriftstellern der Lebensstoff des Gelehrten und Reisenden zum Material poetischer Transformation. Es sind die Autoren, die Schwerpunkte setzen, Konfigurationen erfinden, Obsessionen und Idiosynkrasien artikulieren. Besonderes Interesse verdienen in den deutschen Romanen die Figurenkonstellationen, in die Humboldt versetzt wird: Humboldt und sein Diener Seifert, Humboldt und sein Freund und Begleiter Aimé Bonpland, Humboldt mit Goethe und anderen, Humboldt und Gauß. Auch im internationalen Kontext betrachtet rückt in etwa zeitgleich entstandenen Romanen Humboldts Leben ins Zentrum, wo es noch freier behandelt wird: als Gegenstand einer modernen wissenschaftlichen Forschungsreise, als Graphic Novel, als Muster für eine Parallel-Biographie. Da nicht vorausgesetzt werden kann, dass die zu besprechenden Werke allgemein bekannt sind, soll eine differenzierte Bestandsaufnahme, in der auch ein geschärfter Blick aufs Detail gerichtet wird, den Leser in die Lage versetzen, den Vergleich der verschiedenen Annäherungen an Alexander von Humboldt besser beurteilen zu können.