BDSL-Klassifikation: 03.00.00 Literaturwissenschaft > 03.05.00 Editorik
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Claude Haas untersucht die Goethe-Kommentierung Heinrich Düntzers im späten 19. Jahrhundert, die konsequent gegen das säkulare Selbstverständnis der eigenen Disziplin verstößt - und von dieser damit wiederum als verachteter Außenseiter verstoßen wird. Düntzer unterläuft die Sakralisierung der Dichtung, indem er dem Dichter immer wieder im Namen einer - etwa sachlichen - Wahrheit widerspricht und diese Wahrheit noch dazu katholisch grundiert (und mit Spitzen gegen protestantische Goethe-Ausleger versieht). Denn Wahrheit ist dabei in Düntzers Augen erstens nicht schriftlich kodiert und gleicht zweitens strukturell der theologischen Figur des "deus absconditus", sodass sie gerade in dieser Abwesenheit 'sakralisiert' wird. Die 'katholisierenden' Kommentare Düntzers zu Goethes Iphigenie auf Tauris und Faust II erklären Literatur selbst gleichsam zu Religion und zeigen damit gewissermaßen die Kehrseite des Versuches, nicht mehr die Heilige Schrift, sondern den Kanon der Klassiker ins Zentrum der Textkultur zu stellen.
In der Moderne verändert sich der Umgang mit heiligen Texten und damit auch die traditionelle Praxis des Kommentars. Einerseits werden solche Texte nun auch wissenschaftlich und kritisch kommentiert, andererseits leben religiöse Kommentarformen auch in säkularen Kontexten fort: etwa in der Dichtung, der Philosophie oder der Philologie. Der Kommentar war lange der Königsweg der Auseinandersetzung mit klassischen, kanonischen und als "heilig" verstandenen Texten. Weil das Verständnis von Schriftlichkeit entscheidend davon geprägt ist, wie man Texte kommentiert, ist die Geschichte des Kommentars zentral, um die Entstehung der modernen säkularen Textkultur zu verstehen. Der Band fragt, wie die Kommentierung religiöser Texte unter den Bedingungen der Säkularisierung noch möglich ist. Er beleuchtet Denkfiguren und Textpraktiken, mit denen säkulare Texte sakralisiert werden und wie jene Verschiebungen unser Verständnis von Kommentar verändern.