BDSL-Klassifikation: 13.00.00 Goethezeit > 13.14.00 Zu einzelnen Autoren
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Eine formgeschichtliche Betrachtung kann zeigen, daß in Hebels "Rheinländischem Hausfreund" die narratologische Beziehung zwischen Kalendermann und Leser sich nur scheinbar harmlos und vertraulich darstellt, im Text sich aber als simulierte Nähe aus Distanz und Fremdheit herstellt. Auf vergleichbare Weise wird eine in den Kalendern simulierte Mündlichkeit beschreibbar als Produkt einer um 1800 sich durchsetzenden dominanten Schriftlichkeit. Die formgeschichtliche Analyse der Kalenderfolge kann eine im Schatzkästlein nicht mehr ersichtliche Korrespondenz von Beschreibungen des Kosmos und politischen "Weltbegebenheiten" rekonstruieren und damit eine bislang behauptete statische Geschichtsauffassung widerlegen. Schließlich vermag die formale Analyse einer raffinierten Verschränkung von Satire und Camouflage die in Hebels Reise nach Paris eingeschriebene Distanz sowohl zu den Nationalisten wie zu den regierenden Monarchien herauszuarbeiten.
Anfang Juli 1797 hat Schiller das von ihm für den nächsten Almanach zur Publikation vorgesehene Gedicht "Nadowessische Totenklage" an drei Freunde zur Beurteilung geschickt, an Wilhelm von Humboldt, [...] an Körner in Dresden und an Goethe in Weimar. [...] Als Grund für diese Art von Netzwerkbildung lässt sich ein Orientierungsnotstand bezeichnen. Da Schiller unentwegt poetisches Neuland betreten wollte, war er neben theoretischer Reflexion auf die bestätigend-kritische Absicherung durch das Urteil seiner Freunde angewiesen. Schiller überraschte seine Freunde immer wieder mit neuartigen poetischen Versuchen. Auch dieses Mal im Fall der "Nadowessischen Totenklage" hat Goethe sofort erkannt und anerkannt, dass hiermit der "Kreis der poetischen Gegenstände" erweitert worden sei.
Manchmal lässtt sich schon am Zugriff auf das Material die Differenz einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten zu einer geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft ablesen. Die Beschäftigung mit Johann Peter Hebels Kalendergeschichten dürfte eine solche Wahlmöglichkeit eröffnen. Da bietet sich nämlich das berühmte "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes" an, das 1811 im sogenannten 'Klassikerverlag' Cotta mit seinen von Hebel selbst aus den Kalendern 1803 bis 1810 ausgewählten hundertsiebenundzwanzig Lesestücken erschien. Da existiert aber auch ein Faksimiledruck des "Rheinländische[n] Hausfreundes", also der "Neue Calender" von 1808-1815 und 1819. In diesem Nachdruck finden sich nicht nur die dreißig nicht ins "Schatzkästlein" aufgenommenen Kalenderbeitrage vor 1811 und dann natürlich alle in den Kalendern nach dem Druck des "Schatzkästleins" erschienenen Beitrage von 1812-15 und 1819. Man hat die Meinung vertreten, in der von Hebel selbst fürs "Schatzkästlein" getroffenen Auswahl sei "der 'ganze' Erzähler Hebel präsent", denn gegenüber den Schatzkästleintexten stellten "die später entstandenen Kalenderbeitrige" "keine entscheidenden Neuerungen mehr" dar.' Eine kulturwissenschaftlich interessierte Forschung richtet freilich ihr Augenmerk nicht allein auf die Kalendergeschichten, sondern genauso auf das im "Schatzkästlein" ausgesparte Kalenderspezifische, z.B. die "Wetter- und Bauernregeln", die "Tax-Ordnungen", die verschiedenartigen Kalenderordnungen der Juden, der evangelischen und katholischen Christen.
Die "lyrische Operette" 'Semele' erscheint zum ersten Mal in der von Schiller anonym herausgegebenen Lyriksammlung 'Anthologie auf das Jahr 1782'. [...] Im Falle der Ovidschen Vorlage handelt es sich - zumal in der der Zeit um 1780 - um ein brisantes Thema, nämlich um die "Götterwollust" des Menschen. [...] Schiller [...] behält das brisante Problem bei, exponiert und steigert es sogar, um es erst danach im Menschheitlichen aufzuheben.
Goethes "Märchen" schließt das novellistische Erzählen in den "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" in einem - wie Goethe es selbst prononciert betont - "Übersprung" ab. Die "Unterhaltungen" setzen ein mit der Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit von Erzählen angesichts politischer Debatte, Parteienstreit, Räsonnement und subjektiver Impressionen. [...] Dieses Paradox, der "Übersprung" vom Unmöglichen zum Möglichen, entspricht exaakt Goethes Märchendefinition in den "Maximen und Reflexionen".
Die romantischen Schriftsteller haben in einer gleich bleibenden polemischen Stoßrichtung, nämlich in Bezug auf Schillers ironielose Idealisierung, rhetorische Sentimentalität und "sentenzenreiche" Manier dessen Darstellungsweise scharf, ja überscharf herauspräpariert. Sie haben dabei Eigenheiten Schillers treffsicher karikiert; aber auch entscheidende ästhetische Innovationen übersehen und abgedunkelt.
Diderots "Le neveu de Rameau" gilt heute als einer der explosivsten Texte des 18. Jahrhunderts. Mitten im Spätabsolutismus und mitten im Herz der Aufklärung war ein Text in Manier des radikalen Zynismus eines Diogenes entstanden. Der zynische Protest hatte sich einst in der griechischen Antike gegen die Polis, eine substantialistische Philosophie und den universalistischen Anspruch eines Staates gerichtet. Nun, inmitten der modernen Widrigkeiten und Widerstände der großen Stadt Paris und ihren kulturellen "Verkehrsformen", kämpft Rameaus Neffe als "bedürftiger Mensch" um soziale Anerkennung. Es ist eine zynisch-animalische Selbstbehauptung nach der Art des Diogenes mit allen Schrecken und aller Willkür von Selbst- und Gesellschaftsentblößungen.
[...] der Chor ist einerseits in seiner dramatischen Funktion gleichsam im Dienst seines jeweiligen Herrn Partei; – er ist andererseits, von Herkunft und Tradition her gebunden, episch betrachtend und urteilend ausgerichtet. Man hat Schillers Tragödie viel zu sehr menschheitsgeschichtlich abstrakt interpretiert; stattdessen ist sein dramatisches Stück kulturgeschichtlich präzis "geerdet". Sein Rückgriff auf die formale Simplizität antiker Tragödienelemente ist nicht historistisch gedacht, sondern experimentell. Aus heutiger Sichtweise kann dieser Rückgriff begrifflich beschrieben werden als "Komplexitätsreduktion" zum Zwecke einer "Komplexitätssteigerung".
Die Herzoginwitwe Anna Amalia in Weimar hat mit der Gründung des „Tiefurter Journal“ 1781 die Tradition der höfischen Maskerade ins Literarische übertragen. Das Journal mit seiner handschriftlich in maximal 20 Exemplaren verbreiteten Auflage ist auf Exklusivität bedacht. Beabsichtigt ist eine kleine, künstlerisch und schriftstellerisch interessierte Gruppe von Adligen und Bürgern abzugrenzen gegen die Hofgesellschaft; zugleich soll allerdings innerhalb dieses Kreises eine möglichst hohe Urbanität und Liberalität zugelassen werden. Diese Doppelstrategie - größtmögliche Abdichtung nach Außen bei größtmöglicher Liberalität nach Innen - schuf eine kleine kurzlebige Utopie, auf die Goethe in der Folgezeit ein Leben lang sich beziehen sollte. Voraussetzung für diesen Freiraum nach Innen und nach Außen war das Ausnutzen aller Möglichkeiten und Schattierungen der Maskerade. Der These dieses Aufsatzes zufolge ist Goethe einer der raffiniertesten Vexierkünstler seiner Zeit. Goethes Poetik des „offenbaren Geheimnisses“ korrespondiert eine Kulturpoetik der Maskierung.
Das Folgende ist in vier Abschnitte gegliedert: 1. Rekurs auf Kants Ornamentästhetik - Gradationen der „Zierde“ 2. Erinnern und Löschen - Wechselreiten von Scherzen und Verrätseln 3. Märchen und Rätsel - geselliges Spiel und klassizistische Lektüreübung 4. Unterhaltung und Gespräch - drei Geselligkeitskonzepte und ihre Auflösung in philostratischer Choreographie