Komparatistik online 2015 Heft 2 : Helden, ambivalente Protagonisten, nicht-menschliche Agenzien ; Zur Figurendarstellung in umweltbezogener Literatur
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Seit der weitgehenden Rehabilitierung des in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ideologisch befrachteten Begriffs "Heimat" in den siebziger Jahren hat diese als Ort einer möglichen Vereinigung des Ichs mit der Natur als Fokus für Debatten über die Mensch-Natur-Beziehung gedient. Bisher ist aber den Parallelen zwischen Schilderungen des Beheimatetseins und posthumanistischen Vorstellungen der "Intra-aktion" zwischen menschlichen Subjekten und der Materie nicht nachgegangen worden. In diesem Aufsatzwerden Begriffe und Argumente aus Karen Barads Essay Agentieller Realismus (englisches Original 2003) und Jane Bennetts Buch Vibrant Matter (2010) zusammengefasst, um anhand von ihnen über Heimat in posthumanistischer Sicht nachzudenken. Jenny Erpenbecks Darstellung von Heimat im Roman "Heimsuchung"
(2008) dient dabei als Bezugstext. Es wird gezeigt, wie Erpenbeck den Dingen besondere Aufmerksamkeit widmet. Einerseits betont sie dadurch die Agens der Natur und Momente der Passivität im menschlichen Leben auf eine Weise, die der gegenseitigen Konstruktion von Mensch und Materie bei Barad und Bennett nahekommt. Andererseits praktiziert sie eine auch von Bennett empfohlene Schreibstrategie, indem sie Natur und Heimat in der Figur des Gärtners anthropomorphisiert. Dadurch wird das herkömmliche Szenario des aktiven, handelnden Helden in einer Umgebung leblos-passiver Materie im posthumanistischen Sinne unterbunden.
Ausgehend von der Beobachtung, dass ökologische Fragen in Comics eine zunehmende Rolle spielen, liefert der Beitrag einen systematisierenden Einblick in den Variantenreichtum graphischer Umwelt- und Klimawandelliteratur und untersucht, auf welche Art und Weise Helden hier inszeniert werden. Dabei wird erkennbar, dass die Kritik an einer globalen Umweltkrise nicht nur im Rahmen der Handlung, sondern insbesondere durch erzählerische Mittel und Aspekte der Figurendarstellung vermittelt wird.
Das Werk Rolf Dieter Brinkmanns ist stark geprägt von einer Abscheu gegenüber Zivilisation, was es nahe legt, ihn auch als einen Autor zu lesen, der sich gegen die Tradition anthropozentrischen Denkens wendet. Seine Radikalität erschöpft sich nicht darin, dass er den Menschen allein auf seine triebhaft-animalische Existenz reduziert, sondern drückt sich auch in experimentellen Schreibverfahren aus. In seinen Text-Bild-Collagen wie in seiner Lyrik hebt er durch eine stark visuell orientierte Wahrnehmung der Welt den materiellen Charakter von Sprache hervor. Mit seinem Wunsch nach Sprachlosigkeit entwirft Brinkmann eine "ökologische Ästhetik", die mit dem menschlichen Hegemonialanspruch bricht.
Der eingetopfte Held : kulturökologische Relektüre des Romans "Ein ungeratener Sohn" von Renate Rasp
(2015)
In dem heute fast vergessenen Roman von Renate Rasp, Ein ungeratener Sohn, wird in der Form einer bitterbösen Satire gezeigt, was Erziehung anrichten kann. Eine bürgerliche Kleinfamilie beschließt, dass aus dem Sohn Kuno ein Baum werden soll. Der Transformationsprozess zur vegetabilen Lebensform durchläuft verschiedene Stadien vom Abhacken der Hände und Verschließen der Sinne bis zum Eintopfen, muss jedoch am Ende scheitern. Die traditionelle Lesart dechiffriert den Text als radikale Kritik am Zusammenhang von Bildung, Erziehung und Herrschaft. Unter kulturökologischer Prämisse gelesen, tritt im Beitrag klar hervor, wie sich der Mensch-Natur-Herrschaftsdiskurs in diesem Roman entfaltet.
"Que d'eau! Que d'eau!" : narrative Strategien literarischer Überflutungen bei Puschkin und Zola
(2015)
Nicht erst in der Literatur der Gegenwart lassen sich Beispiele finden, in denen Naturphänomene und nicht-menschliche Agenzien zu Protagonisten oder sogar zu Erzählinstanzen eines literarischen Textes werden. Gerade das Wasser (in Form von Flüssen oder des Meeres) scheint prädestiniert dafür, innerhalb der Diegese wie auch der Erzählsituation zur handlungsbestimmenden Instanz zu werden und damit den Menschen in die Passivität zu drängen – und teilweise sogar existentiell zu gefährden. Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Überschwemmungen, die programmatisch die Macht der Natur bei gleichzeitiger Machtlosigkeit von Mensch und Zivilisation spiegeln. Zwei literarische Beispiele aus dem 19. Jahrhundert sollen exemplarisch aufzeigen, mit welchen narrativen Mitteln das Wasser auf inhaltlich-motivischer und formal-erzählerischer Ebene den Text "überflutet": Alexander Puschkins Poem "Der eherne Reiter" (1833) und Émile Zolas Erzählung "L'Inondation" (1875).
Metamorphosen des Helden : menschliche und nicht-menschliche Akteure in der amerikanischen Literatur
(2015)
Der Beitrag stellt die Frage nach dem Verhältnis von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren in der Klima- und Umweltliteratur in einen größeren literaturgeschichtlichen Zusammenhang. Er zeigt, dass einerseits nicht-menschliche Akteure bereits in klassischen Texten der Literatur eine wichtige Rolle spielen und dass andererseits die Betonung nicht-menschlicher Agenzien in der zeitgenössischen Klima- und Umweltliteratur nicht ohne die Präsenz eines in Sprache, Narration, Figurengestaltung und Leserkommunikation manifesten menschlichen Agens auskommt.
Die Literatur, die kulturelle Modelle und zeitgeschichtliche Bestandsaufnahmen besser versprachlichen kann, als wissenschaftliche Statistiken und Datenreihen dies vermögen, reagiert in fiktionalen Texten längst auch auf den globalen Umwelt und Klimawandel. Dessen vielfältige Bedrohungen und Herausforderungen verwendet sie sowohl als Ausgangspunkt und Hintergrundfolie wie auch als zentralen Gegenstand der narrativen Figurendarstellung. Dies zeigt sich verstärkt in einer Zeit, in der Naturwissenschaftler Anfang des 21. Jahrhunderts erstmals die tiefgreifenden Auswirkungen menschlichen Handelns auf geophysikalische Prozesse der Erde und Erdatmosphäre auch stratigraphisch nachzuweisen suchen und das Zeitalter des Anthropozäns ausrufen. Die neue planetarische Perspektive auf die globale Umweltkrise, eine großskalige Zeitdimension und der Fokus auf eine enge Wechselbeziehung zwischen Natur und Kultur, wie in der Anthropozän-Debatte diskutiert, werden auch von den Literatur- und Kulturwissenschaften aufgegriffen. Insbesondere der Forschungsansatz des Ecocriticism widmet sich den Zusammenhängen von Literatur und Umwelt, indem er beispielsweise Mensch-Natur-Verhältnisse in literarischen Texten untersucht. Gerade bei dieser Perspektive wäre es, so denkt man, naheliegend, die Analyse der Figuren in den Mittelpunkt zu rücken. Wenn wir uns aber die Forschung ansehen, geht es auch bei der Frage nach Mensch-Natur-Verhältnissen meist um größere, übergreifende Themen wie Anthropozentrismus, prometheische Technik und menschliche Schuld an der globalen Umweltkrise.
So ist es bemerkenswert, dass in der Forschung des Ecocriticism die Figurenbetrachtung und narratologische Analyse bislang tatsächlich eine eher untergeordnete Rolle spielt; vielmehr dominiert vor allem der Blick auf Themen und Diskurse: Apokalyptische Szenarien und Dystopien, Risikonarrative, die Rettung des Planeten bzw. die Rettung der Menschheit, aber auch neue Utopien und ein Revival der "small-is-beautiful"-Philosophie (E. F. Schumacher) sind die großen wiederkehrenden Themen. Obgleich sie durch Figuren transportiert werden, richtet sich das Augenmerk nur selten auf die spezifische Darstellung und Funktion der eigentlichen Handlungsträger. Eher werden die Themen mit Bezug auf neu entstandene Genres wie Klimawandelroman, Ökothriller oder Eco-Graphic-Novels verhandelt, wobei Fragen der Figurendarstellung erneut sekundär bleiben. Allgemein ist Umweltliteratur, folgen wir Lawrence Buell, durch mindestens vier Merkmale gekennzeichnet: Erstens wird in ihr deutlich, dass die Darstellung der nicht-menschlichen Umwelt nicht nur zur Rahmung der Handlung dient, sondern Menschheitsgeschichte in Naturgeschichte inbegriffen ist; zweitens wird das menschliche Interesse nicht als das einzig legitime Interesse verstanden; drittens betrachtet sie die menschliche Verantwortung für die Umwelt als Teil der umweltethischen Orientierung eines literarischen Textes; und schließlich, viertens, geht es um die Betrachtung von Natur und Umwelt "als etwas im Wandel Begriffenes" – "as a process" –, das zumindest implizit im Text deutlich wird. Mit Axel Goodbody ist hinzuzufügen, dass Umweltliteratur "unsere Beziehung zur Natur kritisch beleuchtet".