Weimarer Beiträge 61.2015
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Ein Rückblick auf die literarischen Hinterlassenschaften von Alfred Andersch könnte helfen, das Politische der Literatur als das Andere der Politik zu begreifen. In unserer Zeit der vermischten Verhältnisse in Kultur, Wissenschaft und Politik haben adversative Konstruktionen wie die einer U- und E-Literatur, ebenso die deklamatorische Gegenüberstellung von autonomer und engagierter Literatur keine Orientierungskraft mehr. Mit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und erst recht nach der Wendezeit der neunziger Jahre beginnt eine Zeit der Revision und Reflexion der Institution Literatur. Zu beobachten ist eine Reorganisation der literarischen Tätigkeit im Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit, eine literarische Produktivität, die sich zu behaupten weiß: mit dem, was sie zu sagen hat, auch und gerade dann, wenn sie den Anspruch hat, politisch zu sprechen. Diese Revision in eigener Sache, findet sich in Anderschs Texten vorgezeichnet, persönlich und gesellschaftlich bedingt und eingeschränkt, aber doch vielsagend in dem bei diesem Autor stets aktuellen Bemühen eines "Umschreiben[s] (re-writing) der kleinen Kultur-Nachrichten" aus dem Unmaß an Informationen, punktuell und strukturell komponiert, "verwertet und verwortet" (Arno Schmidt). So könnte das Politische als ein mit der Literatur mögliches Denken und Schreiben erschlossen werden: öffentlich und gemeinschaftlich zu wirken und zugleich in eigener Sache.
Im Zentrum der vorliegenden Studie steht Benjamins Konzeption der Politik der "Entstaltung". Dabei soll gezeigt werden, dass diese vor allem einer "Gesellschaft des Spektakels" Paroli bietet, in welcher alles, selbst die Politik sich als Zurschaustellung und Aufführung inszeniert. Die Politik der "Entstaltung" zielt hingegen darauf ab, mit der gesellschaftlichen Inszenierung und Repräsentierbarkeit radikal zu brechen und jenseits dieser eine Politik des Nicht-Repräsentierbaren als wirkliche Demokratie zu ermöglichen. Sie setzt dort an, wo eine konstitutive Lücke in der Gesellschaft sichtbar wird. Sie ist in erster Linie nichts anderes als die Sichtbarmachung und Zurschaustellung einer solchen konstitutiven Lücke in der gesellschaftlichen Ordnung. Die Lücke ist das Moment, in dem die gesellschaftliche Repräsentation und Darstellung, das heißt die Mimesis endet und die Performanz als das radikal Undarstellbare ansetzt. Diese Lücke heißt bei Benjamin im Anschluss an Brecht "Zustand". Die Politik der Entstaltung hält daher an "Zuständen" (GS II, 521) fest, die noch inhaltsleer sind und als Orte des Übergangs fungieren.
Die vorliegende Studie verortet den Begriff der Entstaltung im Kontext der Theorien der Gestalt bei Goethe, Mach, Ehrenfels und in der Gestaltpsychologie. Benjamins Begriff der Entstaltung ist demnach als ein antimetaphysisches Gegenkonzept zur Gestalt aufzufassen. Diese Studie führt den Gegensatz von Gestalt und Entstaltung auf die Divergenz zwischen Goethe und der Romantik zurück. Sie verfolgt die These, dass die Phantasie als "Entstaltung des Gestalteten" (GS VI, 114) in Benjamins Konzeption der Politik eine wesentliche Rolle spielt.