Weimarer Beiträge 60.2014
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Jugend und Welt : zwei Jugend-Jahrbücher, herausgegeben von Rudolf Arnheim und Edith Jacobsohn
(2014)
1928 und 1929 erschienen zwei Jahrbücher für Kinder und Jugendliche unter dem Titel 'Jugend und Welt', herausgegeben von Rudolf Arnheim und, unter ihrem Geburtsnamen E. L. Schiffer, von Edith Jacobsohn; zu den Herausgebern zählte im ersten Jahrgang zudem noch Cläre With, die vor allem durch Beschreibungen ferner Länder und während der Nazi-Jahre als Schriftleiterin der Zeitschrift 'Koralle' bekannt wurde. Ausgeliefert wurden die Bücher, wie die beiden Rezensionen in der Weltbühne zeigen, offenbar schon Ende 1927 und 1928, damit sie noch in den Weihnachtsverkauf kommen konnten. Kinder- und Jugendliteratur wurden sehr lange als eine Art niedriger und dem klassischen Kanon nicht zugehörige Literatur angesehen. Fast könnte man sagen, sie sei als eine Art Gebrauchsliteratur angesehen worden, wurden die Bücher doch von den Kindern oft bemalt, wenig pfleglich behandelt und später sehr oft einfach weggeworfen. Nur selten fanden diese Bücher den Weg in eine öffentliche Bibliothek, auf dem Antiquariatsmarkt waren dagegen gut erhaltene Exemplare für Liebhaber sehr teuer - was auch für die beiden Bände 'Jugend und Welt' gilt. Dennoch überrascht es, dass sie in das außerordentlich umfangreiche Gesamtverzeichnis der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, das Aiga Klotz 1990 bis 2000 herausgegeben hat, nicht aufgenommen wurden. Einige Texte bekannter Personen aus Literatur und Publizistik, die hier zu finden sind, wurden inzwischen nachgedruckt oder bibliographisch erfasst, die Jahrbücher selbst aber blieben unbeachtet.
"Eigentlich können wir auf nichts verzichten, wir vertauschen nur eines mit dem andern; was ein Verzicht zu sein scheint, ist in Wirklichkeit eine Ersatz- oder Surrogatbildung." Die kühne Behauptung, mit der Sigmund Freud in seiner Abhandlung 'Der Dichter und das Phantasieren' (1908) dem Leser entgegentritt, fand er unter anderem im Rauchen bestätigt. Es sei ein Ersatz für die Onanie, den Prototyp aller Süchte, so erklärte er, der Raucher par excellence, der bereits in jungen Jahren nikotinabhängig war und es bis zum Ende seines Lebens bleiben sollte - und dies, obgleich er im Alter von 67 Jahren, aller Wahrscheinlichkeit nach seines exzessiven Tabakkonsums wegen, an Gaumenkrebs erkrankte. Infolgedessen musste er sich zahlreichen, zum Teil schweren Operationen unterziehen, bei denen eine Resektion des größeren Teils des rechten Oberkiefers, eines beträchtlichen Teils des Unterkiefers, des rechten weichen Gaumens sowie der Backen- und Zungenschleimhaut vorgenommen wurde. Seitdem musste Freud eine Kieferprothese tragen, die für ihn zu einer niemals versiegenden Quelle von Schmerzen und anderem Ungemach wurde.
Angesichts seiner leidigen Erfahrungen mit dem "Ungeheuer" dürfte kein allzu großer Zweifel daran bestehen, dass Freud sehr genau wusste, was er unter einer Prothese zu verstehen hatte - und zwar das, was auch die landläufige Meinung in ihr erkennt: einen künstlichen Ersatz, der an das unwiederbringlich verloren gegangene Ersetzte nicht im Mindestens heranreicht, es durch seine Defizienz ihm gegenüber jedoch stetig präsent hält und somit gleichsam zum Anwesend-Abwesenden werden lässt. Dass der Prothese eine auf Ergänzung, Erweiterung oder gar Verbesserung des Bestehenden abzielende Qualität innewohnen könnte - immerhin geht der Begriff nicht zuletzt auf das griechische prósthesis ("das Hinzufügen") zurück -, bleibt hierbei komplett außen vor. Und doch fällt, wenn ebendiese Qualität zur Sprache kommt bzw. vom so genannten prosthetic impulse die Rede ist, mit schöner Regelmäßigkeit der Name Freuds, was sich einer Passage, oder vielleicht sollte man besser sagen: einer Lesart einer Passage aus dessen 1930 erschienenem Spätwerk 'Das Unbehagen in der Kultur' verdankt, in welcher der mit seinen technischen "Hilfsorgane[n]" ausgestattete Mensch als "eine Art Prothesengott" tituliert wird.
Engel : Figuren der Sprache
(2014)
Engel sprechen. Sie sind, in allen ihren Erscheinungsformen und in beinahe allen Religionen, stets An- und Verkündiger, Vermittler und Boten. Somit besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen Engelfiguren und den Problemen der Vermittlung und der Übertragung, der Relationalität und der Medialität, die die Sprache ausmachen.
Deshalb möchte ich im Folgenden verschiedene Engelfiguren als Figuren der Sprache betrachten. Dafür werde ich in drei Schritten vorgehen und anhand verschiedener theoretischer und literarischer Texte untersuchen, wie die Engelfiguren in ihnen jeweils spezifische Probleme der Sprache verkörpern. Zunächst soll unter Rückgriff auf Michel de Certeaus Essay 'Le parler angélique' (1985) anhand einer Verkündigungsszene aus dem neutestamentlichen Evangelium nach Matthäus deutlich gemacht werden, dass sich die Rede des Engels als Figuration des Sprechaktes selbst lesen lässt. Sodann werde ich die Tradition des angelus interpres, des Deute-Engels, anhand des biblischen Prophetenbuches Sacharja und in der apokryphen Metatron-Sage im sog. Hebräischen Henochbuch umreißen.
Abschließend soll ausgehend von Michel Serres' philosophisch-literarischem Werk 'La légende des anges' (1993) dargestellt werden, dass die Engelrede auch im Wortsinn als Sprach-Figur verstanden werden kann, nämlich als die rhetorische Figur der Prosopopöie, und dass sie als solche zutiefst literarisch ist.
August von Platen notiert 1816 nach der Lektüre von John Miltons Paradise Lost (1667) in das Memorandum meines Lebens, dass ihm Milton "[a]m glücklichsten […] in seinen eigenen Erfindungen [erscheint], […] weniger interessant ist es mir, wo er nur die Bibel nacherzählt." Die in Platens Tagebucheintrag zu lesende Kritik an Miltons Epos ist rein-ästhetischer Natur. Die Differenz zwischen 'eigenen Erfindungen' und der Nacherzählung der Bibel betrifft die Heilige Poesie selbst aber freilich tiefgreifender. Hier führt das Spannungsverhältnis zwischen Poiesis und Nacherzählung zu einem komplexen Legitimationsbedürfnis, ob und wieweit das mythische Wort Gottes, von dem die Heilige Schrift zeugt, in der Heiligen Poesie ausgeführt werden darf.
Meiner These zufolge ist das in 'Paradise Lost' zu findende Sujet des Sündenfalls für die Problemstellung der Heiligen Poesie im Allgemeinen exemplarisch. Es fällt auf, dass sich das an der Heiligen Poesie abzulesende Spannungsverhältnis zwischen dem autoritativen Wort Gottes und der poetischen Freiheit strukturanalog im Sündenfall der Genesis widerspiegelt. Denn so, wie die anthropologischen Überlegungen der Genesis und ihre im 18. Jahrhundert frequente Bearbeitung in der Aufklärungsphilosophie den Menschen zwischen Gehorsam und Freiheit situieren, so verortet sich offenbar auch die Heilige Poesie zwischen den Fronten der religiösen Heteronomie und der poetischen Autonomie.
In seinem überaus einflussreichen mehrbändigen Standardwerk mit dem schlichten Titel Empfindsamkeit von 1974 ging Gerhard Sauder davon aus, dass "die Empfindsamkeit eine spezifisch bürgerliche Tendenz [habe] und im Zusammenhang mit der Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert zu sehen sei." Mit dieser Definition orientierte sich Sauder an der alten These Fritz Brüggemanns vom "Anbruch der Gefühlskultur in den fünfziger Jahren" des 18. Jahrhunderts, im Zuge deren "der bürgerliche Tugendbegriff mit dem sentimentalen Gefühl durchsetzt" werde. Dass diese These einer genuin bürgerlichen Gefühlskultur problematisch ist, verdeutlicht ein Blick auf die Kategorie der Zärtlichkeit, die in beiden Studien eine zentrale Funktion innehat. Sie kennzeichnet bei Sauder eine erste Phase der Empfindsamkeit bzw. die "erstmals deutlich zutage tretende empfindsame Tendenz", wobei Sauder als "akzeptable Datierung" dieser ersten Phase einer zärtlichen Empfindsamkeit im Anschluss an Brüggemann "das Jahrzehnt 1740-50" vorschlug.
Dank neuerer französischer Studien zur Geschichte der Liebesehe (mariage amoureux) im Frankreich des frühen 16. und 17. Jahrhunderts, wie sie insbesondere die Historiker Jean-Louis Flandrin und in der Folge Maurice Daumas vorlegten, wissen wir heute um die Problematik dieser für die Forschung zum 18. Jahrhundert äußerst einflussreichen Datierungen Sauders. Flandrin untersuchte die Positivierung der innerehelichen Sexualität zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die sich um diese Zeit zunehmend von der Augusteischen Gnaden- und Sündenlehre zu lösen und zu emanzipieren begann. Im Anschluss an Flandrin entwickelte Daumas seine Genealogie einer tendresse amoureuse, der Entstehung von durch zärtliche Liebe geprägten ehelichen Verbindungen zwischen den Geschlechtern, die er auf den gleichen Zeitraum datierte. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts fokussieren Abhandlungen über die Ehe also weniger auf die Vorschriften sexueller Praktiken als vielmehr die emotionale Beziehung zwischen Mann und Frau. Verschiedene Faktoren verbessern das Bild der Ehe, die insbesondere gegen Ende der Herrschaft von Louis XIII. (1601-1643) zunehmend zu einer "Liebe als Passion" im Sinne einer Liebesehe wird, also unter das Vorzeichen der Zärtlichkeit rückt.
Der Mediävist Peter Wapnewski hatte seine Hörer, seine Leser des unvergleichlichen Glanzes der Dichtung zur Zeit der Staufer versichert, hatte nach der Schändung der deutschen Kultur durch die Nationalsozialisten wieder die Herkunft, das Werden, die Schönheit der ersten deutschen Sprache gegenwärtig gemacht. Wollten die Deutschen ihr Land wiederaufbauen, so sollten sie ihre Sprache in der Dichtung gereinigt als Anspruch an ihr eigenes Leben wiederfinden. Das Thomas Mann verbundene Wort vom "Adel des Geistes" bewahrte Wapnewski, hanseatisch geprägt auch er durch seine Jugend in Kiel, 1922 dort geboren. Der zwölf Jahre jüngere Karlheinz Barck, in Quedlinburg aufgewachsen, den Harz im Rücken, maß als Romanist den Sprachraum aus, den Baudelaire, den Lautréamont und Rimbaud vor und nach der Pariser Commune gewonnen hatten, um dieses Potential, das die Surrealisten zur Welt machten, als einen Handlungsraum in der geschlossenen DDR zu begreifen und einzusetzen: Rimbauds Aufforderung zur "Entgrenzung aller Sinne" folgend.
Was sie beide über die in ihren Texten und Büchern vermittelte Freude an ihren Entdeckungen hinaus auszeichnete, war ihr Einsatz für die anderen, die Vermittlung, das Interesse an der Auseinandersetzung. Sie verliehen zwei in Berlin neu gegründeten akademischen Instituten die spezifische Prägung durch ihr jeweils eigenes Vermögen, Geistes- wie Naturwissenschaftler und Künstler zusammenzuführen. Mit dem Wirken an diesen Instituten erfüllte sich ihre Lebensaufgabe.
Anfangen
(2014)
En arche en ho logos, im Anfang war der Logos (Joh 1,1); darüber kann man streiten, insofern es Theologie ist, sagte man aber, es seien die Logiken (oder doch logoi) in den Anfängen, in den methodisch je neuen Versuchen gelegen, so beschriebe man die Morgenröten des Intellekts, die vielleicht auch in präsumptiver Summa und der Spannung das ergeben, was man den Logos nennen könnte. Man beginnt also so: etwa mit einem Wort, das noch ungewiss ist, oder einem Zitat …
Tatsächlich mag es dies sein, was uns Gedichte bis heute bedeutsam macht. In ihnen beginnt etwas, drückt man es so sachlich wie möglich aus, so generieren sie wohl Methoden. Mit einem unsäglichen Wort der Gegenwartspädagogik könnte man sie vorwissenschaftlich heißen.
Wissenschaft verfügt über Methodik, sie setzt sich einem Risiko aus, wenn sie eine neue erfindet, so gewiss auch ist, dass erst die neue Methode - die neue Frage - einen neuen Respons hervorrufen kann. Dieses Vortasten aber ist in Zeiten des Drittmittelfinanzierens und Evaluierens bedroht; und damit womöglich die Forschung nur mehr ein um Perfektibilität ringendes Sich-Wiederholen. Einzig das Kühne in den Versprechen zu Beginn einzelner Projekte erinnert vage an die kühnen Erwartungen der Naturpoesie, als deren Erben man dereinst folglich manche Projektmittelanträge vielleicht entdecken wird …
Wer freiwillig Umwege geht, versucht den Raum nicht zu dominieren oder schnellstmöglich von Punkt A nach Punkt B zu durchqueren; vielmehr geht er spielerisch und lustvoll auf die Landschaft ein, lässt sich von ihr leiten, indem er sich dem Eros ihrer Tiefe und Weite ausliefert. Der Umweg zwingt zur Langsamkeit. Er verführt den Leib stärker zur Genauigkeit der Wahrnehmung und zur Konkretheit der Erfahrung. Wer ihn eilend auf dem kürzesten Weg zu durchqueren versucht, sieht den Raum hingegen bloß als ein abstraktes Hindernis, das es zu überwinden gilt. Während die direkte Bewegung von Punkt A nach Punkt B eine endliche Strecke definiert, entwirft der Umweg einen reversiblen, unabschließbaren und prinzipiell unendlichen Raum. Die Umwegigkeit spielt mit dem Raum, bricht ihn ironisch, sie verzichtet auf die Strenge und Ernsthaftigkeit der geraden Linie und des direkten Weges.
Zu den zahlreichen kritischen Intellektuellen, die im 20. Jahrhundert den Essay als kritisches Instrument erprobt haben, gehört – neben Robert Musil, Heinrich Mann, Jean-Paul Sartre, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse - auch Peter Weiss. Seine berichterstattende Prosa, die 1968 und 1971 in zwei Bänden erschien, nannte Weiss "Rapporte". Die Rapporte-Bände wurden offensichtlich auf Initiative des Autors veröffentlicht, was einem Hinweis auf einen verschollenen Brief des Autors an seinen Verleger Siegfried Unseld zu entnehmen ist. Die Rapporte umfassen nicht nur Essays, sondern auch Reden, politische Stellungnahmen und offene Briefe. Der erste Band enthält neun kürzere Texte, die 1960 bis 1965 in literarischen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht wurden. Der zweite Band mit seinen dreizehn Pamphleten zur aktuellen Tagespolitik hat einen ausgesprochen politischen Charakter. Die Notizbücher, die in zwei Teilen veröffentlicht wurden, bieten eine Art Fortsetzung der Rapporte, aber in verkürzter Form. Eine Sammlung essayistischer Arbeiten liegt mit Rekonvaleszenz vor, einem Buch, das während eines Krankenhausaufenthaltes nach dem ersten Herzinfarkt 1970 entstand. Darin äußert sich Weiss zur Tagespolitik, Kunst und Literatur, aber auch zu spezifisch schwedischen Phänomenen, etwa dem Niederreißen der alten Bausubstanz Stockholms. Auch das erzählerische Werk des Autors, vor allem 'Die Ästhetik des Widerstands' (1975-1981), trägt ausgeprägt essayistische Züge. So wurde in der Sekundärliteratur etwa bezweifelt, dass es sich bei Weiss' Magnum Opus um einen Roman handele. Vielmehr entziehe sich 'Die Ästhetik des Widerstands' jeglicher Gattungsbestimmung; dieses Werk sei ein essayistisches Gebilde: "Die Gattungsbezeichnung 'Roman' wird diesem nicht gerecht, handelt es sich doch kaum um Figurenkonstellation, Charakterentwicklung, Handlungsstrukturen, sondern eher um Abhandlung, Essay, Traktat, um kunsttheoretische, politische und wissenschaftliche Überlegungen mehr als um erzählerische Ausfabulierung eines Gesellschaftspanoramas oder eines individuellen Konflikts." Nun ist aber gerade das essayistische Werk des Autors in der Weiss-Forschung eher stiefmütterlich behandelt worden.
In der vorhandenen Sekundärliteratur zu Georg Lukács' "vormarxistischem" Frühwerk findet man allzu oft Interpretationen, die - wie Christian Schneider einmal treffend notierte - "einsinnig auf den Zügen von Lukács' theoretischer Physiognomik" insistieren, "die eine lineare Konstruktion des Gesamtbilds erlauben". Manchmal zeitigte zwar diese Forschungslinie wichtige Befunde - aus heutiger Sicht muss sie aber als unangemessen betrachtet werden, da sie den Fokus der Interpretation verengte: Unabhängig davon, von welcher ideologischen Warte aus Lukács' marxistische Wende Ende 1918 positiv oder negativ beurteilt wurde, suchte man aus dem Frühwerk hauptsächlich diejenigen Elemente heraus, die seine Entwicklung zum späteren marxistischen Werk dem Anschein nach verständlich machten. Gleichwohl kann man vielleicht nach dem Ende des Kalten Krieges ohne Vorentscheidungen an die frühen Texte Lukács' herangehen; man kann zumindest versuchen, sie neu zu verstehen, was sich eventuell von Vorteil auch für ein neues Verständnis seiner späteren intellektuellen Entwicklung erweisen könnte. Das Frühwerk Lukács' ist geprägt von einer inneren Verbindung zwischen einer starken kulturkritischen Empfindlichkeit und einem lebhaften literaturwissenschaftlichen Interesse. Lukács' Hauptidee ist einfach: Er diagnostiziert eine grundlegende Problematik der modernen Kultur, deren Widerspiegelungen an den modernen literarischen Formen "abgelesen" werden können. Letztere sind von derselben romantischen "Frivolität" wie das relativistische Zeitalter charakterisiert, in dem sie erscheinen. Diese Entsprechung zwischen der Problematik der modernen literarischen Formen und der modernen Sozial- und Kulturstrukturen war schon Lukács' Leitidee in seinem Erstlingswerk 'Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas'. In seinem zweiten Buch 'Die Seele und die Formen' - das neben der Theorie des Romans von 1916 zu den berühmtesten seines Frühwerks zählt -, versuchte er dann durch eine "metaphysische Vertiefung" die weltanschaulichen Kriterien seiner Kulturkritik der Moderne essayistisch zu untermauern. Im Folgenden möchte ich mich auf diesen Essayband konzentrieren, um - gestützt auf die Interpretationslinie, die ich anderswo umrissen habe - eine neue, umfassende Lektüre dieses Werks vorzuschlagen.