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Hoffmann unterschätzt und disqualifiziert hier - natürlich auch im Interesse der Aufwertung eigener künstlerisch-kritischer Produktion - die Beliebtheit des spät- und popularaufklärerischen Genres der Blindenheilung, das die handfest-praktische Gegenseite des hochambitionierten und spätestens seit Diderot auch philosophisch prominenten Phänomens darstellt. Als „hochbesetzte Technik des 17./18. Jahrhunderts“ oder gar als „Urszene der Aufklärung“ verbindet das Starstechen den Gewinn des Augenlichts mit dem potentiellen Verlust anderer, ersatzweise erworbener, oft aber auch stärker als normal ausdifferenzierter Fähigkeiten. So folgt zumindest auf die literarisierte Blindenheilung regelmäßig der Wunsch nach erneuter Blindheit m – oder der Abbruch der Narration, „als bedeute das Tageslicht das Ende der Fiktion“. Peter Utz belegte diesen Konnex bereits 1990 mit Beispielen von Jean Paul über Goethe bis zu Bonaventuras Nachtwachen, machte aber auch auf den Rat von dessen Erzählerinstanz aufmerksam, die mögliche Fortsetzung der Geschichte „als Material für trivialromantische Verwertung“ zu nutzen. Hoffmann hingegen entwertet – wahrscheinlich wider besseres Wissen – das philosophische wie narratologische Problempotential der Blindenheilung, indem er probehalber eine Reihe anderer Varianten durchspielt, vom Arterienverschluss (,Aneurisma') über den Wundbrand bis hin zur geglückten Amputation.
Als der spanische Bürgerkrieg 1939 nach drei langen Jahren endet, sieht sich der siegreiche Francisco Franco einem nicht unerheblichen Problem gegenüber: Es gilt, die zersplitterte und traumatisierte Nation auf Basis einer gemeinsamen Grundlage neuerlich zu vereinen. Zugleich benötigt der durch einen Putsch zustande gekommene 'neue Staat' auch nach Ende des als Kreuzzug betitelten Bürgerkriegs dringend eine Legitimationsgrundlage. Dies versucht man u. a. durch Geschichtstransformationen zu erreichen, die das Franco-Regime als legitimen Nachfolger frühneuzeitlicher Monarchien inszenieren. Daneben soll der Gesellschaft besonders in den 50er Jahren der langsam (wieder) entstehende Konsumkapitalismus schmackhaft gemacht werden: Der Spanier ist aufgefordert, die dargebotenen Güter zu genießen und sich so als dem Franquismus gleichsam 'genüsslich unterworfenes' Subjekt zu konstituieren. In den beiden hier beleuchteten Filmen dieser Epoche werden, wie zu zeigen wird, sowohl die franquistischen Geschichtstransformationen in ihrem fiktiven Charakter entlarvt als auch das staatliche Mandat des 'Genießens' unterhöhlt, indem jenes Genießen als ebenso substanzarm ausgewiesen wird wie die mit ihm einhergehende Politik.
Die junghegelsche Bewegung bildete, indem sie sich als Partei darstellte, eine wichtige Neuerung in der Geschichte der Auffassungen und der Praktiken der Philosophie. Während eine traditionelle Auffassung der Philosophie Parteilichkeit als Symptom fehlender Allgemeinheit ablehnt und sie deshalb als für die Philosophie ungeeignet betrachtet, verteidigten als Erste die Junghegelianer eine Auffassung der Philosophie als Parteinahme. Bei ihnen bedeutet Philosophie ein in den Kämpfen seiner Zeit engagiertes Lager und nicht eine über dieselben hinausragende Stellung. Weit davon entfernt, als ein Fehler zu gelten, wird Parteilichkeit bei den Junghegelianern zum Beleg für die Wirklichkeit der Philosophie oder für ihre Fähigkeit, ihre eigene Zeit zu begreifen und auf sie zu wirken. Diese Umwandlung entspricht der im Vormärz stattfindenden Veränderung eines Diskursregimes der Kritik und impliziert einen Bruch mit dem Diskursregime des in der nahen Vergangenheit liegenden sogenannten Jahrhunderts 'der Kritik' oder der Aufklärung. [...] Die Entwicklung einer Kritik agonistischer Natur konnte, so scheint es, nur in der dem Vormärz zugrunde liegenden Situation seine geschichtliche Bedingung finden, nämlich in der Erfahrung des revolutionären Ereignisses und seiner Repression. In diesem neuen Erfahrungsfeld bietet die junghegelsche Definition der Kritik als Partei die Gelegenheit einer doppelten Verwandlung der Philosophie, nämlich deren Form und deren Inhalt. Die Absicht dieses Aufsatzes ist es, das Paradigma, die Begründung und die Folgen dieser parteilichen Kritik bei einigen zentralen Figuren der junghegelschen Bewegung zu erläutern.
Kritik, Polemik und Ästhetik beim frühen Nicolai: "Milton" und die "Briefe über den itzigen Zustand"
(2008)
Nicolais „Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften“ […] erklären den bislang herrschenden kritischen Parteien, Leipzig und der Schweiz, selbstbewußt den Krieg. Sie ergreifen einen neuen Ton in der kunsttheoretischen Diskussion, sie entwickeln teilweise neue kritische Positionen und eine neue, kämpferische Theorie der Kritik. […] Grundpositionen seiner Kritik entwickelt er dabei bereits in der meist stiefmütterlich behandelten Abhandlung zu Milton von 1753, was auch für eine relative konzeptionelle Unabhängigkeit der in den „Briefen“ entwickelten Positionen von Lessing spricht. Auf der anderen Seite aber spricht manches dafür, daß Nicolai und Lessing sich zur Zeit der Abfassung der Briefe bereits kannten. Nicolai, so die These des folgenden Beitrags, entwickelt im „Milton“ und in den „Briefen“ ein eigenes kritisches Profil. Aber der Gestus der „Briefe“, ihr beachtliches Selbstbewußtsein, wird durch die Bekanntschaft mit Lessing plausibler. Nicolai mußte sich nicht als alleinigen Streiter gegen die etablierten Parteien des deutschen kritischen Feldes begreifen. Die Briefe sind von dem Bewußtsein getragen, mit anderen eine gemeinsame ›Berliner‹ Sache gegen die Leipziger und die Schweizer Kritik führen zu können. Insofern bilden sie den Beginn der publizistischen Offensive dieser Berliner Aufklärung.
Webschau April 2011
(2011)
Das alljährliche Großereignis in der deutschen Internet-Welt ist die re:publica. Wir berichten unten über das Echo auf die Berliner Konferenz. Zu den für #pb21 interessanten Inhalten wird es eine Extra-Ausgabe der Webschau geben.
Eine der wohl wichtigsten Nachrichten von der diesjährigen re:publica ist, dass eine Bürgerrechtsorganisation für das Netz gegründet wurde. Der "Spiegel" findet, dass es höchste Zeit dafür ist: Mehrere spiegelonline-Autoren formulieren Forderungen an die Initiative "Digitale Gesellschaft". Doch es gibt auch deutliche Kritik. Mehr dazu am Ende dieser Webschau.
Der Beitrag skizziert ausgehend von einem merklichen Aufschwung neuerer Anthropozentrismus-kritischer Theorieansätze damit einhergehende Anschlussfragen, die einen eventuellen Modifikationsbedarf zugrunde liegender Prämissen, Möglichkeiten funktionaler Ausdifferenzierung und Klassifikation sowie das Verhältnis zu 'etablierten' Literaturtheorien in den Blick nehmen.
Aufgrund ihrer Fundierung im europäischen Naturrechtsdenken, ihrer Verstrickung mit der Geschichte des Kolonialismus und des Vorwurfs ihrer Funktionalisierung für eine westliche Interessenpolitik sind Menschenrechte als universeller normativer Maßstab weltweit umstritten. Im vorliegenden Beitrag sollen mit Martha C. Nussbaum und Gayatri Chakravorty Spivak die Menschenrechtskritik und die alternativen Menschenrechtskonzeptionen zweier feministischer Theoretikerinnen diskutiert werden, die je unterschiedliche Antworten auf den normativen Status der Menschenrechte und ihre politische Umsetzung in der postkolonialen Welt geben.
Der 1801 als Sohn eines Zuchthaus- und Leihbankverwalters in der fürstlichen Kleinresidenz Lippe-Detmold geborene Dramatiker Christian Dietrich Grabbe (1801-1836), neben Georg Büchner der heute unbestritten wichtigste Wegbereiter des modernen Dramas im frühen 19. Jahrhundert, als Visionär des Medienzeitalters und luzider Geschichtskritiker aber in seiner Zeit eben auch lediglich einer der vielen Autoren, die "ein Publikum nur in der Zukunft" (Bourdieu) haben sollten, bietet mit seinem ostentativ nach außen getragenen Antiklassizismus ein frühes Beispiel für die Positionierungskämpfe, die das sich herausbildende literarische Feld bestimmen und als solche überhaupt erst durch die Ausdifferenzierung des Literaturmarktes möglich wurden. Mit Grabbe, dem seine bürgerliche Existenz als Militärrichter (Auditeur) nicht genügte und der hinausstrebte in die Welt des Theaters, dem er in seiner Zeit aber als unspielbar galt, richten die folgenden Ausführungen die Aufmerksamkeit auf den Vormärz als historisch gesehen relativ offene Phase der Modernisierung, die sich im Rückblick als "Suchbewegung des Experimentierens" zwischen zwei relativ stabilen Literatursystemen darstellt: nämlich desjenigen der Goethezeit (das um 1830 relativ abrupt zusammenbricht) und dem des Realismus (in dem sich das System um 1850 restabilisiert). Die Klassifikationskämpfe, die nach Bourdieu das literarische Feld strukturieren, treten in dieser "'Labor'-Zeit", in der konträre Diskursformationen (Klassik, Romantik, Biedermeier, Vormärz) neben- und gegeneinander bestehen, besonders anschaulich zutage.
In der letzten Dekade hat sich die Diskursforschung im Anschluss an Michel FOUCAULT im deutschsprachigen Raum interdisziplinär beständig weiterentwickelt. Sie ist dabei, sich im Rahmen qualitativer Sozialforschung – wie auch an sprachwissenschaftlichen Verfahren orientiert – zu etablieren.
Auf der internationalen und interdisziplinären Tagung "Sprache – Macht – Wissen" vom 10.-12.Oktober 2007 in Augsburg wurde der aktuelle Stand von Diskurstheorie und -analyse eruiert und diskutiert. Der Tagungsessay soll einen Einblick in die derzeitige Diskussion geben. Wir zeichnen zunächst die Fragestellungen und Zielsetzungen der Tagung nach. Es folgt eine knappe Zusammenfassung der gehaltenen Vorträge. Im Laufe der Tagung kristallisierten sich verschiedene Schwerpunkte heraus, die wiederholt aufgegriffen und diskutiert wurden: das Verhältnis von Diskursanalyse und Kritik, das Verhältnis von Subjekt(ivität) und Diskurs, das Verhältnis von Macht, Diskurs und Dispositiv sowie das Verhältnis von Diskursanalyse und Visualität. Mit der Systematisierung dieser vier Punkte nehmen wir eine kritische Betrachtung der "Ergebnisse" der Tagung vor. Abschließend verweisen wir auf zwei aktuelle Netzwerkinitiativen zur interdisziplinären Diskursforschung, die während der Tagung vorgestellt wurden.
Annette von Droste-Hülshoff schreibt ihre 1842 erschienene Novelle "Die Judenbuche" in einer Zeit fortdauernden Wandels religiöser Anschauungen. Der Übergang eines sozial verbindlichen Christentums im Ancien Régime zu einer privaten und konfessionell liberalen Religion in der säkularisierten bürgerlichen Gesellschaft spiegelt sich in der Haltung der katholischen Schriftstellerin. Diese oszilliert zwischen theoretischer Glaubenstoleranz und effektiver Parteilichkeit, aufgeklärter Religiosität und unkritischem Fideismus, zwischen religiösen Skrupeln und intuitiver Frömmigkeit. [...] "Die Judenbuche" ist der romantische Versuch, "das Reich Gottes zu realisieren". Ihr Realismus ist ein metaphysischer, theologischer. Damit erhebt sich der Text selbst zum eschatologisch-soteriologischen Medium. Die Inbesitznahme des Geistes durch den Buchstaben wird im Dazwischen der 'Blicke' (Auge um Auge), die die beiden Lektüreweisen sind, gewendet. Das 'Angeblicktwerden' durch den unverständlichen Text fordert eine 'Erwiderung des Blicks', die die tote Schrift 'lebendig': verstehbar und anschlussfähig macht. Hierfür steht die physiologisierte Pneumatologie Droste-Hülshoffs ein, die sie im "Geistlichen Jahr" entwirft. Das Reich Gottes entsteht durch die Interaktion zwischen Text und Leser in die Zukunft hinein. Als andauernder Prozess bewerkstelligt die Transkription den Ausstieg aus der katastrophischen Zeit der "Judenbuche" in die Heilsgeschichte, sie wendet als qualifizierter 'Kairos' den verhängnisvollen 'Chronos' zum erfüllten 'Eschaton'. Wenn diese Übertragung gelänge, würde die Schrift tatsächlich zum "Wort, das stets verständlich mir".