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"Wirklich notwendig scheint nur das Vergangene, daran eben nicht mehr zu rütteln ist. Aber ist denn das Vergangene wirklich notwendig?" – so fragt Georg Lukács in seiner "Metaphysik der Tragödie", mit der die Essay-Sammlung 'Die Seele und die Formen' (1911) zu ihrem Abschluss kommt. Man kann Blochs 'Geist der Utopie' (1918) als den Versuch ansehen, eine breit angelegte negative Antwort auf diese Frage zu geben: Nein, das Vergangene ist keineswegs wirklich notwendig. Denn im Mittelpunkt von Blochs schwungvoll-pathetischen Überlegungen steht die Entdeckung eines Vermögens, dem es gelingt, die im Vergangenen schlummernde Zukunft zu befreien. Um diese ganz besondere Erfahrung zu bezeichnen, erfindet Bloch einen spezifischen Terminus: 'Eingedenken'. Hiermit führt er ein Konzept ein, das im deutsch-jüdischen Denken des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen wird, die noch nicht angemessen beleuchtet wurde.
Es ist eine alte Debatte. Auf der einen Seite steht die althergebrachte Maxime, alles, was wert ist, gesagt zu werden, müsse in jeder Sprache gesagt werden können - umso mehr dann, wenn es sich um die Wissenschaft handelt, die den Anspruch erhebt, universelle Wahrheiten zu erfassen. Demgegenüber steht ein immer wieder anzutreffender Gedanke, dessen wohl inspirierteste Formulierung von Wilhelm von Humboldt stammt, nämlich, dass die Verschiedenheit der Sprachen nicht nur eine von „Schällen und Zeichen“, sondern eine der „Weltansichten selbst“ sei. Thema dieses Vortrags ist die Frage, wo die Wahrheit zwischen diesen scheinbaren Gegensätzen liegt.
Von der nackten Wahrheit zur rätselhaften Wahrheit des Strumpfes : Walter Benjamins Bilddenken
(2015)
Mit der Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Wahrheit findet sich in Benjamins frühen erkenntnistheoretischen Überlegungen eine Entsprechung zu den beiden Seiten der Sprache. Unter 'Erkenntnis' versteht er in diesem Zusammenhang durch Begriffe mitteilbare Sachverhalte, welche den Bereich propositionalen Wissens bilden und in der Semantik der Sprache aufgehen. Erkenntnisse können prädikativ erfasst und verbal vermittelt werden. Von der Wahrheit könne es hingegen kein Wissen geben. Da die Wahrheit weder in Begriffen darstellbar noch durch Aussagen mitteilbar ist, ist ihre Darstellung auf die symbolische Seite der Sprache verwiesen. Folgerichtig findet sich für diese Vorstellung von Wahrheit in Benjamins Schriften kein Begriff, sondern ein 'Bild', nämlich das des Strumpfes - vermutlich nicht zufällig. Denn dieser steht als ein Kleidungsstück exemplarisch für den Zusammenhang von Funktion und Symbol in der menschlichen Kultur.
Für die These von der Priorität der Sprache gegenüber dem Denken ist in der deutschen Philosophie das Schlagwort von der Nichthintergehbarkeit der Sprache geprägt worden. Danach gibt es kein kognitives Bewußtsein, das nicht sprachlich strukturiert ist. Der auf Humboldt und Weisgerber zurückgreifenden Ansicht Karl-Otto Apels, daß die jeweilige Muttersprache als ein Apriori der Weltanschauung fungiert, hält die Erlanger Schule entgegen, daß nur das Sprachvermögen als solches, nicht die einzelne Umgangssprache unhintergehbar ist. Das Sprachvermögen wird dabei als intersubjektiv verläßliches Unterscheidungsvermögen und als Fähigkeit zur Prädikation expliziert. Wider die Erlanger Konzeption wird auf perzeptiven Unterscheidungen insistiert, die sich im Verhalten des Wahrnehmenden am zuverlässigsten äußern und die nachweislich sprachlichen Erfassungen der Erfahrungswelt vorangehen, sowie auf der genetisch wie struktural belegbaren Priorität von nichtprädikativen sprachlicllen Äußerungen (Vokativ, Ipnerativ, Modifikation) gegenüber eigentlich prädikativen Äußerungen. Auch der für die Erlanger so fundamentale Dialog entpuppt sich bei einer genetischen Analyse als ein mehrstufiges, in vorangehenden sprachlichen Formen fundiertes Phänomen. Zum Verhältnis von Sprache und Erkenntnis wird in Auswertung von vergessen gegangenen Ansätzen bei Locke und Leibniz eine Kompromiß-These vorgelegt. Relativ einfache Phänomene lassen sich sprachlos erfassen und gliedern, komplexere 'Gedankengänge ' sind sprachlich (semiotisch) vermittelt und entsprechend (von einem Grundstock universaler Gesetzmäßigkeiten abgesehen) auch je nach Sprachsystem anders determiniert. Bezüglich der vorsprachlichen Unterscheidungen lassen sich eine pragmatische Position, nach der jede Unterscheidung kontextbedingt ist, und eine eigentlich kognitive Position, nach der aus strukturalen Gründen nicht alle Unterscheidungsmöglichkeiten gleichwertig sind, auseinanderhalten. Für die zweite Position wird Seilers (1976) Hierarchie der möglichen Determinatoren eines Nomens angeführt. Orientieren sich konstruktivistisch-logische Theorien der Sprache primär am Kriterium der Einfachheit, so rekonstruktivistisch-phänomenologische Theorien am Kriterium der psychologischen Adäquatheit (gegenüber dem tatsächlichen Kode von Sprecher und Hörer); indem sie ohylo-, onto- und aktualgenetische Daten des Sprachprozesses von vorneherein mit in Betracht ziehen.
Von Canguilhem zu Haraway
(2013)
Vor dem Hintergrund der Geschichte des physikalischen Objektivitätsbegriffs zieht die Physikerin und Epistemologin Françoise Balibar in ihrem Beitrag "Von Canguilhem zu Haraway" einen Vergleich der unterschiedlichen Konzepte der Objektivität von Haraways situiertem Wissen und Canguilhems regionaler Epistemologie. Dabei erinnert sie daran, dass Objektivität im physikalischen Sinn nicht, wie Haraway unterstelle, auf eine repräsentationale Identität der Objekte ziele, sondern dass das Objekt der Physik durch die Beziehungen generiert werde, die sich zwischen Tatsachen herstellen.
Vom Vitalen zum Sozialen : Überlegungen zu einem politischen Wissen im Anschluss an Canguilhem
(2013)
Muhle geht von der Frage nach dem Verhältnis des Begriffs des Lebens und der sozialen Normen aus, das Canguilhem als eines der Mimesis des Vitalen durch das Soziale beschreibt und führt daran anschließend ihre Annahme aus, nach der Foucault aus dieser Verhältnisbestimmung von Vitalem und Sozialem einen entscheidenden Impuls für die Ausformulierung seiner Biopolitik gewonnen habe.
Universum, All, Kosmos
(2022)
Historisch gesehen ist 'Universum' ein einfaches Wort. Es stammt aus dem antiken Latein, wurde dort von Cicero gebraucht, verbreitete sich mittels des altfranzösischen 'univers' über die meisten europäischen Sprachen und fand Eingang in den modernen Wissenschaftsdiskurs offenbar mit dem offiziellen Titel "Über das Universum" der sogenannten "Kosmos-Vorlesungen", die Alexander von Humboldt im akademischen Jahr 1827/1828 an der Berliner Singakademie hielt. Die Semantik von 'Universum' hingegen, welche auf den ersten Blick ähnlich unterkomplex aussehen mag und in der Tat über zwei Jahrtausende konstant geblieben ist, konfrontiert uns mit zahlreichen Unschärfen und mit einer elementaren philosophischen Herausforderung. [...] Wie jede menschliche Kultur, so verfügt auch unsere Gegenwart über spezifische Konzepte und Bilder vom maximalen Ganzen. Einige von ihnen, vor allem solche, die in globaler Kommunikation zirkulieren, aus den Perspektiven ihrer historischen Besonderheit und ihrer epistemologischen Funktionen zu beschreiben, nehme ich mir für diesen Text vor. Epistemologisch, also auf die Strukturen von Wissen bezogen, ist der Blickwinkel, weil solche Prämissen und Bilder des maximalen Ganzen den Stellen wert von erstaunlich selten explizit werdenden Vorzeichen für individuelle Akte der Erfahrung und der Wissensbildung haben; historisch werde ich nicht im Sinn einer geschichtlichen Dokumentation verfahren, sondern mit der Bemühung, vor dem Hintergrund intellektueller Vergangenheiten eine These über die Spezifik jener epistemologischen Vorzeichen im frühen 21. Jahrhundert zu formulieren.
In ihrem Beitrag geht Karin Harrasser unter dem Titel "Treue zum Problem" der Frage nach, ob und wie sich das Konzept des situierten Wissens von Donna Haraway mit dem Konzept der Kosmopolitik von Isabelle Stengers verbinden lasse. Treue zum Problem wird dabei zum Begriff für eine Erkenntnishaltung, in der theoretische und wissenschaftliche Problemstellungen aus konkreten Anlässen und Situationen generiert werden. Wie man sich das konkret vorzustellen hat, führt Harrasser am Beispiel des Films von Werner Herzog vor: "Wo die grünen Ameisen träumen".
"Post-truth" is a failed concept, both epistemically and politically because its simplification of the relationship between truth and politics cripples our understanding and encourages authoritarianism. This makes the diagnosis of our "post-truth era" as dangerous to democratic politics as relativism with its premature disregard for truth. In order to take the step beyond relativ- ism and "post-truth", we must conceptualise the relationship between truth and politics differently by starting from a "non-sovereign" understanding of truth.
Mit dem wachsenden Interesse für die Vorgänge des Lebendigen im 19. Jahrhundert rückten auch subjektive Erfahrungen in den Bereich lebenswissenschaftlicher Forschung. Damit wurde nicht zuletzt die Frage nach der adäquaten Perspektive virulent, von der aus sich ein Wissen über diese Innerlichkeiten generieren ließe. Das Buch nimmt in drei Fallstudien das neurologische Selbstexperiment Henry Heads, Jacques-Joseph Moreau de Tours' psychiatrische Versuche, den Wahnsinn mit Haschisch zu modellieren, und Benjamin Paul Bloods philosophisch ambitionierten Lachgaskonsum in den Blick, deren Protagonisten sich allesamt dafür entschieden die Innenperspektive einzunehmen und an sich selbst zu experimentieren.