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Humboldt hat von früh an in unmißverständlicher Klarheit gesagt, was er wollte. Nämlich die Mannigfaltigkeit, die unabsehbaren Ketten, die ungeheure Verstreutheit, die überwältigende Heterogenität der Naturerscheinungen zu einer qualitativen Totalität, zu einer Idee und zu einem Ganzen zusammenzufassen, das auch noch anschaulich sein soll. Dieses Konzept liegt schon den "Ansichten der Natur" von 1808 zugrunde, ist aber viel älter und geht auf die 90er Jahre zurück. Es hat sich auch im letzten Werk, dem "Kosmos", nicht geändert. Im Konzeptuellen herrscht bei Humboldt eine eigentümliche Entwicklungslosigkeit. Dieser 'Wille zum Ganzen' ist das nunc stans in dem sonst so überaus bewegten Leben Humboldts, in dessen Verlauf er häufig genug die realen Ziele zu ändern gezwungen war, ohne doch seine Grund-Idee aus dem Auge zu verlieren. ...
Mit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine ist die Osteuropaforschung, die in der Öffentlichkeit jahrzehntelang eine eher marginale Rolle spielte, ins Rampenlicht gerückt. Osteuropawissenschaftler:innen analysieren das laufende Kriegsgeschehen, erläutern vorangegangene Entwicklungen, informieren über die russische Imperialgeschichte und das lange Ringen der Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken um Unabhängigkeit. Kurz: Sie vermitteln komplexes Wissen über Politik und Geschichte, Sprache und Kultur eines Raums, der von jahrhundertelangen Grenzverschiebungen, vielsprachigen und multireligiösen Bevölkerungen und generationsübergreifenden Gewalterfahrungen gekennzeichnet ist. Aufgrund der medialen Berichterstattung infolge des Kriegs ist die Ukraine zwar keine Terra incognita mehr. Doch es bedarf weiterhin der Wissensvermittlung in die breitere Öffentlichkeit, damit sie und andere ehemalige sow jetische Länder als eigenständige Akteure und Subjekte der eigenen und europäischen Geschichte und nicht immer nur in Bezug auf Russland wahrgenommen werden.
Das folgende Papier ist im Kontext der Vorarbeiten für das neue Portal www.digitale-lehre-germanistik.de entstanden. Neben pragmatischen Überlegungen, wie sich die Mitglieder der ger-manistischen Fachgemeinschaft in der aktuellen Situation bei der Aufgabe der Digitalisierung der Lehre gegenseitig solidarisch unterstützen können, gab es in der Diskussion zwischen gut zwei Dutzend in- und ausländischen Germanist*innen einen breiten Konsens, dass der Prozess selbst einige Fragen aufwirft, die bei aller gebotenen Eile nicht übersehen werden sollten. Diese Fragen stellen sich nicht nur im Kontext der Germanistik, sondern sind naturgemäß auch für ein breiteres Spektrum anderer Fächer relevant.
Als Lehrbeauftragte des Instituts für Deutsche Sprache und Literatur I habe ich eine Blockveranstaltung zu dem Thema "Was nun? – Literatur der Zwischenkriegszeit 1918–1933" an der Universität zu Köln abgehalten. In diesem Beitrag stelle ich drei Arbeitsaufgaben für dieses Proseminar vor, die Studierende niedriger Semester "abholen" und auf die Voraussetzung eines erfolgreichen (Lehramts-)Studiums vorbereiten sollen. Ziel der vorgestellten Arbeitsaufgaben ist es, den Studierenden eine selbstreflexive Haltung als akademische Schlüsselkompetenz zu vermitteln und ihnen zusätzlich zu verdeutlichen, wie ihre Sprachkompetenz auf akademische Leistungen einwirkt: der Erwerb von Bildungssprache wird neben literaturwissenschaftlichen Grundlagen als ein Lernziel der Veranstaltung präsentiert. Der Erfahrungsbericht ist repräsentativ für Lehrende, die vor den pandemiebedingten Einschränkungen digitale Methoden minimal genutzt haben und begrenzte technische Mittel zur Verfügung haben. Ich präsentiere Arbeitsaufgaben für eine digitale Lehrumgebung, die sich lediglich auf die Software Zoom und andere gängige, leicht zugängliche Software und Programme beschränkt. Es stehen daher nicht die digitalen Mittel im Vordergrund, sondern der Erwerb von Schlüsselkompetenzen während einer online-Veranstaltung.
Hans-Georg Soldat rezensiert für NDR 3/Radio 3 Christa Wolfs 2002 erschiene Erzählung "Leibhaftig": In Bruchstücken nur erfährt die Ich-Erzählerin und mit ihr der Leser jene Vergangenheit, in der langsam und sicher ihr Glaube an "gesellschaftlichen Fortschritt" schwand, damit einhergehend das Vertrauen in die Menschen, die sie zunehmend als Opportunisten kennen lernt.
Das Spiel erscheint bei Wiemer als jenes Element in der Geschichte des Wissens, das die Birfurkation des Wissens in Kulturwissenschaften auf der einen und Naturwissenschaften auf der anderen Seite unablässig befragt. Der beste Beweis dafür ist die Irritation und Faszination, welche spielende Maschinen, wie etwa im Fall des Computerschachs oder lebendige Automaten wie das Computerspiel "Game of Life", in beiden Wissenskulturen auslösen. Zugleich jedoch weist Wiemer auch darauf hin, dass der Begriff des Spiels mit der Spaltung des Wissens in Kultur- und Naturwissenschaften selbst eine Spaltung erfuhr, ja, dass er, wie er am Beispiel der Spieletheorie von Johan Huizinga verdeutlicht, selbst zur Begründung des Begriffs der Kultur herangezogen wurde, wodurch das "kulturalistische Spielverständnis" doppelt untermauert wurde. In einem Durchgang durch die Philosophiegeschichte des Spiels stellt Wiemer dar, dass im 20. Jahrhundert eine Traditionslinie wiederauflebte, die dem kulturalistischen, auf das Bewusstsein und den Menschen bezogenen Spielverständnis unter Bezugnahme auf Heraklit und vermittelt über Heidegger einen kosmologischen Begriff des Spiels gegenüberstellte. So sieht Eugen Fink das Spiel als kosmisches Gleichnis, wenn es ohne Spieler gedacht wird. Diesen kosmologischen Spielbegriff sucht Wiemer in der Folge für die mögliche Beantwortung der Frage nach der Schwierigkeit fruchtbar zu machen, spielende Maschinen zu denken.
In diesem Essay erzählt Loïc Wacquant, wie er zum Ethnographen wurde; wie er zufällig mit dem Chicagoer Box-Klub, dem Gym, in Berührung kam, der zur Hauptbühne und zugleich zum Hauptdarsteller seiner Ethnographie des Berufsboxens im schwarz-amerikanischen Ghetto wurde; und wie er dazu kam, das Buch "Leben für den Ring" zu schreiben, das auf diesen Erkenntnissen und Beobachtungen beruht, indem es Pierre Bourdieus Signalkonzept des Habitus sowohl methodologisch anwendet als auch empirisch weiterentwickelt. Er stellt auch einige biographische, intellektuelle und analytische Verbindungen zwischen diesem Forschungsprojekt über eine plebejische körperliche Fertigkeit, dem zugrunde liegenden theoretischen Rahmen und der makrokomparativen Studie über städtische Randgesellschaften, aus der es eher zufällig entstanden ist, her. Er zeigt auf, wie die praktischen Bedingungen der Feldforschung ihn dazu führten, das Ghetto nicht als Instrument ethno-rassischer Dominanz, sondern als deren Ausdruck zu verstehen. Damit wurde das Ghetto vom soziologischen Problem zu einer hervorragenden Möglichkeit für seine sozialwissenschaftliche Untersuchung. Mit diesem Artikel argumentiert er für die Feldforschung als ein Instrument für die theoretische Konstruktion, für die Wucht körperlicher Erfahrung und die Notwendigkeit epistemischer Reflexion, und ebenso betont er, dass die Textsorten und Stile der Ethnographie erweitert werden müssen, um den "Sturm und Drang" des sozialen Handelns, wie er konstruiert und gelebt wird, besser zu verstehen.
Der 1994 erschienene Roman 'Unter dem Namen Norma' ist sofort als wichtiger Beitrag zur sogenannten Wendeliteratur verstanden worden. Nun ist der Begriff 'Wendeliteratur' vor allem ein - notwendigerweise vereinfachendes - Hilfsmittel der Literaturgeschichtsschreibung der frühen neunziger Jahre. Wirklich interessante literarische Werke lassen sich damit nicht einfangen. So wird auch die vorliegende Analyse zeigen, daß eine Reduktion auf die Wende-Thematik Burmeisters Roman keineswegs gerecht wird. Zugleich wird aber deutlich werden, daß der formale und thematische Reichtum dieses Romans tatsächlich seinen Bezugspunkt findet in den politischen und gesellschaftlichen Geschehnissen, die mit der Wende von 1989/1990 (und danach) verbunden sind. Im Zentrum der Analyse stehen Fragen, die für jede literarische (wie übrigens auch wissenschaftlich-historiographische) Repräsentation gelten: Wie sehr konstituiert die Form der Darstellung das Dargestellte? Wie lassen sich falsche Ideologisierungen und Vereinfachungen vermeiden? Das sind Grundfragen der modernen Literatur - Fragen, mit denen sich Brigitte Burmeister ausführlich befaßt hat und die in Unter dem Namen Norma eine entscheidende Rolle spielen.
Ich möchte dabei konkret vor allem zwei Dinge herausarbeiten, die in den bisherigen Analysen meines Erachtens unterbeleuchtet geblieben sind: erstens den Zusammenhang der selbstreflexiven Erzählweise Burmeisters mit der Frage nach einer möglichen Identität als Ex-DDR-Bewohner und zweitens den Zusammenhang der Fragen von Liebe und Freundschaft mit der Problematik des deutsch-deutschen Verhältnisses nach der Wende. Es soll gezeigt werden, wie es Brigitte Burmeister gelingt, innerliterarische Reflexion, individuell-psychologische Probleme und die politische Wende-Thematik zu einer Einheit zu machen.
Rezension zu Peter Brandes: Goethes "Faust". Poetik der Gabe und Selbstreflexion der Dichtung, München (Wilhelm Fink) 2003. 298 Seiten.
Wenn eine Dissertation über Goethes Faust als Untersuchung der Selbstreflexion der Dichtung angelegt ist, drängt sich die Versuchung auf, die Selbstreflexivität noch weiterzuführen und die auf Goethes "Geben und Nehmen" berechneten Ausführungen in der Einleitung auf die vorgelegte Arbeit selbst zu beziehen, denn auch die Begabung des Faust-Dissertanten zeigt sich nicht zuletzt in der Fähigkeit, sich andere Texte "einzuverleiben und für sich fruchtbar zu machen" (9 f.).
Dagmar Leupold, Lyrikerin, Prosaistin, promovierte Komparatistin und Übersetzerin aus dem Italienischen, hat in den neunziger Jahren insbesondere durch drei Romane - Edmond: Geschichte einer Sehnsucht (1992), Federgewicht (1995) und Ende der Saison (1999) - auf sich aufmerksam gemacht. Darüber hinaus erschienen von ihr bisher zwei Gedichtbände - Wie Treibholz (1988) und Die Lust der Frauen auf Seite 13 (1994) - sowie der Band Destillate (1996), der Kurzprosa und Lyrik versammelt. Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit den Romanen, also mit einer Gattung, die schon oft und nun in der Postmoderne erneut totgesagt wurde, andererseits jedoch lebendiger denn je erscheint, vielleicht gar "zum eigentlichen Medium dessen geworden [ist], was unter dem Begriff 'Postmoderne' subsumierbar wäre". Wenn Leupolds Romane der Postmoderne zugerechnet werden, dann ist dieser oft als Passepartout missbrauchte Begriff kritisch auf seine Brauchbarkeit für die Beschreibung zeitgenössischer Prosa zu prüfen. Die Postmoderne-Debatten, die Forschung und Feuilleton seit Mitte der achtziger Jahre in Deutschland führen, sollen nicht aufgerollt, einige ihrer konstruktivsten Erkenntnisse aber einbezogen werden.