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Trotz der Annäherung der Begriffe 'Geschichte' und 'Evolution' unter dem Vorzeichen einer semantischen Verschiebung kulturellen Kapitals haben sich bis in die Gegenwart auch begriffliche Differenzen erhalten. So gibt es neben der unbekümmerten Anwendung von 'Geschichte' und 'Evolution' auf alle sich in der Zeit verändernden Dinge auch Versuche, die Begriffe terminologisch stark zu machen und in der Folge dessen 'Evolution' für den Bereich der Natur und 'Geschichte' für den der Kultur zu reservieren. Der Beitrag liefert eine historische Rekonstruktion dieser Entwicklung. Am Anfang stehen dabei einige quantitative sprachwissenschaftliche Beobachtungen zur Entwicklung der Häufigkeit der Begriffe in verschiedenen Textgattungen und zur gegenwärtigen Semantik durch einen Vergleich der häufigsten Genitivattribute. Im zweiten Abschnitt wird die Veränderung des Ausdrucks 'Geschichte' untersucht, zunächst in seiner terminologischen Bedeutung in den Geschichtswissenschaften, dann in seiner Ausweitung auf Gegenstände der Natur. Der dritte Abschnitt liefert eine analoge Untersuchung zu 'Evolution', ausgehend von den Naturwissenschaften und in der Ausweitung auf kulturelle Phänomene. Im vierten Abschnitt wird eine Verbindung der beiden Begriffe näher betrachtet, die im Sinne einer semantischen Verschränkung wirksam ist und sich unter anderem daraus ergibt, dass das Wort 'Evolution' eine teleologische Konnotation hat, die bei 'Geschichte' nicht vorliegt. Der fünfte Abschnitt schließlich beleuchtet die wissenschaftliche Stellung der Begriffe in der Gegenwart und erwägt die Aussichten ihrer terminologischen Differenzierung.
Diversität: Bemerkungen zur Begriffsgeschichte der Diversität ausgehend von drei Sammelbänden
(2019)
Auffallend an der Geschichte des Begriffs der Diversität ist die Spannung zwischen der sehr langen Geschichte seines Gebrauchs und seinem dementsprechend sehr weiten Anwendungsbereich einerseits und der spezifischen Signalwirkung in der politisch-sozialen Sprache seit den 1980er Jahren andererseits. Bis zu dieser Zeit erscheint der Ausdruck in den großen deutschsprachigen Enzyklopädien meist nur mit einer kurzen Erläuterung seiner Bedeutung als "Verschiedenheit". Bereits in der Antike fungiert dieses Wort allerdings - ebenso wie die in seinem semantischen Umfeld stehenden Ausdrücke 'ποικiλία' und 'varietas' - als ein Wertbegriff, und zwar vor allem im Kontext der Ästhetik. Das Bunt-Schillernde, das die primäre Bedeutung von 'poikilia' im Griechischen ist, wird von Platon zwar noch abgelehnt, weil es etwas Oberflächliches sei, das nur für Kinder und Frauen Unterhaltung biete und von dem Eigentlichen, das in die Tiefe geht, ablenke. Später, besonders in der römischen Antike, avanciert die Darstellung von Vielfalt aber zu einem zentralen Prinzip der Ästhetik (so dass die Vielfalt ein "römisches Prinzip" genannt wurde). Erklärt wird dies mit politischen und kulturellen Entwicklungen wie der Verfasstheit des römischen Reiches als ein Vielvölkerstaat, der den vielfältigen Sinnenfreuden nicht abgeneigten römischen Alltagskultur (der Oberschicht) und nicht zuletzt dem Polytheismus. Auch in den christlichen Kontext wird die Vorliebe für Vielfalt übernommen und der eine Gott über die Vielfalt der Erscheinungen seiner Welt gepriesen. Dieser Hintergrund des Begriffsfeldes bildete eine Bedingung für die Konjunktur des Ausdrucks Diversität am Ende des 20. Jahrhunderts. Falko Schmieder beleuchtet anhand von drei in den letzten Jahren erschienenen Sammelbänden, wie diese Konjunktur sich entfaltete.
Distanz
(2012)
'Distanz' ist ein interdisziplinärer Begriff. Anders als wissenschaftliche Allgemeinbegriffe wie 'System', 'Form' oder 'Interaktion' haben interdisziplinäre Begriffe spezielle Bedeutungen in den Wissenschaften, in denen sie erscheinen. Sie sind Begriffe mit theoretischem Gewicht, mit deren Hilfe für eine Disziplin zentrale Verhältnisse zum Ausdruck gebracht werden können. Dies gilt für 'Distanz' gewiss. Kaum eine Theorie der sozialen Beziehungen, des ästhetischen Produzierens und Konsumierens oder der Sonderstellung des Menschen unter den Lebewesen, die ohne diesen Begriff auskommen könnte. Und doch sind es jeweils andere Aspekte und Schwerpunkte, die in den verschiedenen Disziplinen in dem Begriff gesetzt sind.
Weil 'Distanz' in verschiedenen Disziplinen nicht nur spezifische Verhältnisse auf den Begriff bringt, sondern grundsätzliche Aspekte des Ansatzes der Disziplinen betrifft, kann er als ein multipler Grundlegungsbegriff verstanden werden.
Biologen gehören in den Schriften Erich Rothackers zu den viel zitierten Autoren. Darunter befinden sich die Hauptvertreter des Holismus in Deutschland, der Begründer der biologischen Systemtheorie, sowie die Väter der Philosophischen Anthropologie und der Vergleichenden Verhaltensforschung. Auffallend ist allerdings das Fehlen von Evolutionsbiologen. Es erscheint kaum ein Bezug auf Darwin oder Haeckel, geschweige denn auf die zeitgenössischen Gründerväter der Synthetischen Theorie der Evolution, und daneben auch nicht auf experimentell in der Genetik oder Entwicklungsbiologie verankerte Biologen. Kennzeichnend für die Biologierezeption Rothackers ist eine auf Individuen zentrierte Sicht biologischer Theorien. Die großen Revolutionen der Biologie in der Genetik und Evolutionsbiologie, die auf anderen Untersuchungsebenen beruhen, nämlich der subindividuellen Ebene der Gene und der supraindividuellen Ebene der Populationen, kommen damit nicht in den Blick.
Organismus
(2022)
'Organismus' ist eine Form des Ganzen, in der Vielfalt mit Einheit zusammengedacht werden kann. Der Begriff bezeichnet sowohl ein abstraktes Prinzip als auch konkrete, in der sinnlichen Anschauung erfahrbare und der kausalen Analyse zugängliche Gegenstände. Daher wurde er zu einem der zentralen Modelle von Ganzheit, vor allem in den empirisch orientierten Naturwissenschaften. Zu einem eigenen Typ der Ganzheitsform wird der Organismus nicht, weil er eine bestimmte Gestalt im Räumlichen bezeichnen würde - die Morphologie von Organismen ist bekanntlich überaus vielfältig -, sondern weil er ein bestimmtes Muster der Abhängigkeit von kausalen Relationen auf den Begriff bringt. Dementsprechend werden Organismen als 'dynamische' oder 'funktionale' Ganzheiten bezeichnet und gelten geradezu als das Paradigma dieser Ganzheitsform: Sie sind "das eindringlichste Beispiel einer dynamisch geordneten Ganzheit" oder auch "das Paradebeispiel einer strukturell-funktionalen Ganzheit".
Biodiversität
(2017)
'Biodiversität' ist ein Schlüsselbegriff unserer Zeit, auf dem Forschungsprogramme, ethische Debatten zum Mensch-Natur-Verhältnis und politische Aktivitäten basieren. In der öffentlichen und politischen Kommunikation funktioniert der Begriff offenbar gut. Er transportiert Achtung und Verantwortung für die Natur, Toleranz gegenüber dem Fremden, Freude an der Heterogenität und Mannigfaltigkeit. Biodiversität steht parallel zur kulturellen Vielfalt und passt in unsere durch Pluralismen geprägte Gegenwart. Denn der Begriff drückt nicht nur Enthierarchisierung und Pluralisierung der Perspektiven aus, Verzicht auf eine übergreifende, durchgängig gültige Ordnung und den Eigensinn und Eigenwert jedes einzelnen, auch nichtmenschlichen Wesens. Er steht auch für das Zusammenführen von wissenschaftlichen mit ethischen, ästhetischen und ökonomischen Aspekten eines Gegenstands und für die Hoffnung auf den letztlich harmonischen Zusammenklang des vielstimmigen Mit- und Gegeneinanders.
Fremdwörter haben einen hohen epistemischen Stellenwert, denn sie lenken die Aufmerksamkeit auf die unhintergehbare Sprachlichkeit, Kulturgebundenheit und Historizität des Wissens. Ziel des Bandes ist es, begriffs- und übersetzungsgeschichtliche Aspekte der Zirkulation von Begriffen zwischen den Sprachen zusammenzuführen. 52 Fallstudien beschäftigen sich mit Wörtern, die in andere Sprachen gewandert sind und sich dort - aus ganz unterschiedlichen Gründen - festgesetzt haben.
Diversität - und mehr noch das englische 'diversity' - ist ein Zauberwort, das für die verschiedensten Anliegen verwendet werden kann: vom bloßen Lobpreis der Vielfalt über den Appell bis hin zur regulativen Idee globalen politischen Handelns. Der Anthropologe Steven Vertovec sieht in diesem Wort Potential für ein "organizing concept" der Sozial- und Lebenswissenschaften. In der Tat ist Diversität nicht nur ein Bezugspunkt verschiedener Wissenschaften. Auch Körperschaften wie Schule und Universität regeln Chancengleichheit und Zugang im Namen von Diversität, und Unternehmen betreiben ein sogenanntes Diversitätsmanagement, bei dem heterogene Belegschaften zu einer wirtschaftlichen Ressource funktionalisiert werden. Vermutlich ist es gerade der vielfachen Adressierbarkeit geschuldet, dass wir es bei 'Diversität' mit einem politisch hochgradig überformten, theoretisch jedoch weithin unterbestimmten Begriff zu tun haben.
"There is grandeur in this view of life", so beginnt der letzte Satz von Charles Darwins "On the Origin of Species". In der ersten Auflage verzichtete Darwin noch auf einen Bezug zu Gott. Ab der zweiten Auflage von 1860 fügte er ihn dann allerdings doch ein. Großartig und erhaben ist die Ansicht aber doch vielleicht gerade ohne Gott. Darauf jedenfalls scheint Raoul Schrotts "Erste Erde Epos" hinauszulaufen. Es ist eine von den Naturwissenschaften beeindruckte Erzählung, die diese nicht als nüchtern und seelenlos inszeniert, sondern die Bedeutsamkeit naturwissenschaftlichen Wissens für uns feiert, indem sie neue Formen und sprachliche Bilder für dieses Wissens sucht. Das Ergebnis ist eine eigene dichterische Verzauberung der Welt durch naturwissenschaftliches Wissen und zugleich eine Verzauberung der Naturwissenschaften. "Reenchanting Science, Wiederverzauberung der Naturwissenschaft" - auf diese Formel ließe sich das Programm Schrotts bringen.