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Insel und Archipel
(2022)
Das theoretische Denken bedient sich bekanntlich häufig räumlicher Metaphern, wie etwa Reinhart Koselleck mit Bezug auf die Repräsentation von Zeitverhältnissen zu betonen pflegte. Darüber hinaus reicht ein Denkmodus, den der italienische Philosoph Massimo Cacciari einmal als "Geo-Philosophie" bezeichnet hat. Dieser Modus setzt dort ein, wo die Eigenarten und Kontingenzen der Gestalt der Erdoberfläche nicht mehr allein als metaphorische Sinnressourcen willkürlich genutzt werden, sondern selbst über Form und Richtung des Gedankens Gewalt gewinnen. Obwohl nicht der Erfinder eines solchen Denkens, ist Carl Schmitt doch sein bekanntester Vertreter, und er ist auch derjenige, der in der Dichotomie von Land und Meer die nachhaltigste Ressource erschlossen hat, vermittels derer man mit der Planetenoberfläche philosophieren kann. [...] Der Insel kommt in dieser Konstellation ein besonderer Status zu. Sie ist das nicht mit den Landmassen zusammenhängende Gebiet, dessen Daseinsbedingung das Meer ist. [...] Festzuhalten ist, dass die Geo-Philosophie, insofern es ihr um Figuren der Ordnung geht, früher oder später stets auf normative Sprache zurückgreift. Archipele sind immer schon normative Räume, in denen es um unübersichtliche, voneinander getrennte und doch aufeinander bezogene Normen und Werte geht. Die wechselseitige Bezogenheit, das Mitsein, stiftet die Einheit des Archipels als spezifischer 'Form des Ganzen'. Diese Form dient nicht allein dazu, jeweils ein spezifisches Gefüge von Normen und Werten abzubilden, sondern erlaubt auch eine philosophische Untersuchung der Natur solcher Gefüge.
The present article proposes a re-reading of what "inclusion" into the sphere of the historical actually means in modern European historical discourse. It argues that this re-reading permits challenging a powerful, but problematic norm of ontological homogeneity as something to be achieved in and by historical discourse. At least some of the more conceptually profound challenges that accounts of "deep history" - of very distant pasts - pose to historical discourse have to do with pursuits of this norm. Historical theory has the potential of responding to some of these challenges and actually reverting them back at the practice of accounting for deep times in historical writing. The argument proceeds, in a first step, by analyzing the ties between modern European mortuary cultures and historical writing. In a second step, the history of humanitarian moralities is brought to bear on the analysis, in order to make visible, thirdly, the fractured presences of deep time in modern-era and contemporary historical writing. The fractures in question emerge, the article argues, from the ontological heterogeneity of historical knowledge. So in the end, a position beyond ontological homogeneity is adumbrated.
Die verfügbaren theoretischen und kulturhistorischen Untersuchungen über das Lesen zeigen kaum Neigung, sich mit dem Problem der Abgrenzung wissenschaftlichen Wissens von anderen Wissensbeständen zu beschäftigen; vielleicht, weil es so selbstverständlich scheint, dass die Fähigkeit zu lesen keine Domäne bildet, die exklusives Eigentum einer Wissenschaft sein könnte. Da jedoch viele geisteswissenschaftliche Disziplinen der Vorstellung verhaftet bleiben, dass sie über besondere Methoden des Lesens verfügen, die ansonsten unerreichbares Wissen hervorbringen, klafft hier eine epistemologische Lücke.
Seuchenjahr
(2021)
"Theorie" spricht gerne im Präsens. Allein, es handelt sich um ein unechtes Präsens, das über der Zeit zu stehen beansprucht. Die Ausnahmesituation der Pandemie lädt dazu ein, dieses Präsens zu überdenken und die unvermeidlichen Bindungen der Theorie an gegenwärtiges Geschehen sichtbar zu machen. Durch die klaustrophobische Situation des Lockdown ist eine unheimliche Korrelation von Theorie und Phobie kenntlich geworden. Beide suchen nachträgliche Bestätigung durch die Wirklichkeit. Durch diese Parallele wird auch der Lockdown, in dem das kulturtheoretische Denken ohnehin feststeckte, für sich selbst sichtbar wie in einem Spiegel. Unter dem Stichwort einer "Geschehensethik" erstellen Henning Trüpers Betrachtungen eine Inventur der Probleme und Lektionen, denen sich insbesondere die Theorie der Moral und verwandter Gebiete in der Schule der Pandemie ausgesetzt sehen.
Der wichtigste Vermittler Lukians im deutschen Sprachraum im 18. Jahrhundert, Christoph Martin Wieland, machte die Stadt Abdera in seiner Geschichte der Abderiten zum Schilda der Antike. Und mit Bezug auf diese sublimierten Schwankerzählungen allzu menschlicher Irrsale eines Gemeinwesens von Dummköpfen bildete Kant einige Jahre später wiederum den Begriff des "Abderitismus". Damit bezeichnete er diejenige Auffassung des Gangs der Weltgeschichte, der zufolge in den menschlichen Angelegenheiten bloß ein Auf und Ab vergeblicher Bemühungen und bodenloser Torheiten zu beobachten sei. Kant hielt diese Vorstellung für moralisch unerträglich. Die "zum Besseren fortschreitende" Struktur des historischen Geschehens sollte zur Abwehr des Abderitismus regelrecht bewiesen werden. Vom Tragödienfieber zur Geschichtsphilosophie: sobald der Faden einer Trope einmal angesetzt ist, spinnt sie sich von selbst weiter. Die "Daseinsmetapher" (Hans Blumenberg) der Ansteckung lässt uns nicht los und wird auch die gegenwärtige Pandemie weiterhin begleiten.
Dass die Zeit kontinuierlich verläuft, dass ihre Unterteilung stets ein bloßer Akt der Willkür ist, dass bei jeder Veränderung, gleich wie tief der Einschnitt erscheint, vieles auch unverändert bleibt - diese und ähnliche Annahmen gehören zu den kaum verrückbaren geschichtswissenschaftlichen Grundüberzeugungen, denen gegenüber sich jede kulturwissenschaftliche Frage nach Diskontinuitäten oder Brüchen im historischen Geschehen von vornherein im Nachteil befindet. Um diesen Nachteil auszugleichen, bietet es sich an, eine Art Umgehungsmanöver zu veranstalten, indem man sich darüber Gedanken macht, wie sich historische Akteure zum Problem des Bruchs mit der Vergangenheit verhalten.
This article explores some of the moral meanings vested in the concept of historicization. With the help of a discussion of Jules Michelet's notions about the "duty of the historian" - to rescue the dead from oblivion - it becomes possible to flesh out these moral meanings and to insert them into a series of historical contexts. These contexts comprise the cultural history of humanitarian morality in the eighteenth and nineteenth centuries; and the intellectual and cultural histories of ideas of immortality, memory, forgetting, and the valorization of the human life. The resulting meaning of historicization is that of a humanitarianism for the dead, with all the ambiguities this position entails.
This article develops a novel reading of the threefold division of modes of historicization in Nietzsche's "Uses and Disadvantages of History for Life". It argues that Nietzsche's stance is closely matched, and indirectly responds, to specific features of the argument for progress in human history that Kant presents in "Conflict of the Faculties". Kant had hit upon interest, boredom, publicity, and forgetting as systematic problems for the philosophy of history, and Nietzsche's thought on history takes up these concerns. I argue that Nietzsche's reaction to these Kantian problems prompted him to subtly dissociate historicization and historicity. This manoeuver allowed him to counter the conceptual challenges Kant had established and to align his notions on history with those on ethical normativity in lived life, embracing what he elsewhere rejected as a “"moral ontology."
Als 2008 die Finanzkrise eskalierte, vollzog sich eine irritierende Veränderung in der Semantik von 'Rettung'. Während nämlich einerseits unbedingte Imperative der Rettung finanzieller und fiskalischer Institutionen aufkamen, 'whatever it takes', wurde andererseits der Rettungsimperativ für Menschen in Seenot immer problematischer. Insbesondere im Kontext von Flucht und Migration im Mittelmeerraum begannen Regierungen, humanitäre Rettungsbemühungen zu kriminalisieren, während sie doch zugleich unterlassene Hilfeleistungen ebenfalls strafrechtlich verfolgten. Über lange Zeit hatten Schiffbrüchige im öffentlichen Diskurs die Stelle als privilegierte Zielobjekte unbedingter Rettungsimperative besetzt, die sogar das Risiko eines Selbstopfers in Kauf zu nehmen verlangten. Nun schien es, als sei diese Stelle umbesetzt worden. Dass eine solche Umbesetzung aber überhaupt möglich war, warf nicht zuletzt die Frage danach auf, wie es eigentlich um die Geschichtlichkeit derartiger Imperative insgesamt bestellt ist. Diesem Problemzusammenhang geht das Forschungsprojekt "Archipelagische Imperative.Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800" nach, indem es unter anderem untersucht, wie die Schiffbrüchigen überhaupt dazu gekommen waren, die fragliche Stelle zu besetzen.
'Aktivismus' wird heute kontextabhängig in vielen Bedeutungen verwendet: als deskriptive Bestimmung, positiver Identifikationsbegriff, Begriff der polemischen Abwertung oder Zielscheibe jargonkritischen Spotts. Im Kern des Begriffs behauptet sich aber stets die individuelle Partizipation am kollektiven gesellschaftlichen Handeln, insbesondere an der Politik. Meist wird als Aktivismus die emphatische Teilnahme an sozialen Bewegungen emanzipatorischer Art bezeichnet. Es geht dabei häufig um marginalisierte Gruppen und Anliegen. Forderungen nach Ermächtigung und Gleichberechtigung sowie die Herausstellung besonderer Schutzbedürftigkeit stehen im Zentrum. [...] Bedeutungskonstituierende Kriterien für 'Aktivismus' wären demnach erstens politische Partizipation jenseits einer bloß passiven, handlungsfernen Zustimmung oder Ablehnung sowie zweitens das Vorhandensein eines kollektiven Handlungsmusters, das im Hinblick auf Rechte und deren Beschränkungen lesbar ist. Der Begriff setzt drittens ein Grundverständnis von Asymmetrien innerhalb der politischen Partizipation voraus. [...] Allerdings erlegen diese drei Kriterien den historischen Konstellationen eine allzu große Einfachheit auf.