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L'occhio, che tutto vede ...
(1996)
Ohne Drittmittel für seine Forschung kommt kaum noch ein Wissenschaftler aus. Immer mehr kostbarer Zeit verbringen Forscher damit, endlose Anträge auszufüllen. Antragsprosa ist längst eine Wissenschaft für sich. Der Jurist Rainer Maria Kiesow hat seine Form des "exzellenten Anschreibens" gefunden – eine Glosse mit spitzer Feder geschrieben.
Der Kreis des Wissens kann schon lange nicht mehr geschlossen werden. Zur Zeit der Aufklärung und im wissenschaftsverrückten 19. Jahrhundert schien das noch möglich zu sein, jedenfalls glaubte man fest daran, und die Enzyklopädien und Dictionnaires encyclopédiques kamen massenhaft von der Druckerpresse auf die Welt. Im 20. Jahrhundert ging die diktionnarische Produktion zwar unvermindert weiter, doch war das Ganze der Welt, auch partikularer Welten, unfassbar geworden. Die vielen Weltteile zersetzten die Einheit des Wissens. Das Alphabet der Enzyklopädie, die Fragmente der Information, die Teilchen des Ganzen, zerstörten den Kreis des Wissens, also die Möglichkeit der Enzyklopädie. ...
"Nun stand er nackt da." Bloßes, entblößtes, reines Leben. Das alte Gerichtsverfahren überzeugte nicht mehr. Der Offizier, der die Urteile vollstreckt hatte, die der hergebrachten Prozedur entsprungen waren, erkannte, dass es nun Zeit war, das Ende des Verfahrens selbst zu vollstrecken.Mit Hilfe der Maschine, die er so liebte und die den Verurteilten die Urteile auf den Leib, den nackten Leib, geschrieben hatte. Es war, wie es immer gewesen war. Der Offizier hörte sich die Angaben an und fällte sofort das Urteil. Weitere Nachforschungen, gar Vorladungen, Befragungen hätten die Sache nur kompliziert. Lüge hätte sich an Lüge gereiht und am Ende wäre nur Verwirrung entstanden. Dabei war alles sehr einfach. "Die Schuld ist immer zweifellos." Jedenfalls hatte dieser Grundsatz, nach dem der Offizier entschied, unter dem alten Kommandanten uneingeschränkte Gültigkeit gehabt. Der Kommandant hatte die Urteilsarten in einer Mappe mit eigenen Handzeichnungen – er war Soldat, Richter, Konstrukteur, Chemiker und Zeichner – aufbewahrt. Die Verurteilten kannten ihr Urteil nie. Es wurde ihnen nicht verkündet. Wozu auch? Sie erfuhren es auf ihrem Leib. ...
"Sie wissen, was man manchmal zur Rechtfertigung der Henker sagt: man müsse sich wohl oder übel dazu entschließen, einen Menschen zu foltern, wenn seine Geständnisse Hunderten das Leben retten." Für Jean-Paul Sartre war die Rettungsfolter am 6. März 1958, als er diesen Satz schrieb, eine "Heuchelei". Zwei Wochen zuvor war "La Question" von Henri Alleg, dem Herausgeber des Alger Républicain, der einzigen freien Tageszeitung Algeriens, in den Éditions de Minuit erschienen: der vielleicht aufregendste, weil auf eigener Erfahrung beruhende und doch so kühl erzählte, Bericht über die Praxis in den französischen Folterkellern Nordafrikas. Sartre griff zur Feder und schrieb über die Folter im Zeitalter der Zivilisation, des 20. Jahrhunderts, das schon in seiner Mitte massenhaft Folterungen gesehen hatte, das die Folter zur Raserei werden ließ, das den Folterknecht in einen Sisyphos verwandelte, der immer wieder zur Tortur zurückkehren muss, in einem Jahrhundert, in dem die Folter endlich ihren Grund gefunden hat: sich selbst. Die letzten Jahrzehnte sahen, wie die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die Globalisierung des Schmerzes der Gefolterten – der unterworfenen Untermenschen der Moderne. In dieser weltweiten Orgie der Qual – nicht nur dokumentiert in den Berichten von Amnesty International – geht es kaum um die Rettung von Menschen, um das Erzwingen von Geständnissen, um das Aufdecken einer Wahrheit. Es geht um die totale Herrschaft von Menschen über Menschen (Jan Philipp Reemtsma), um das Zusammenhalten der Gesellschaft durch die Drohung mit körperlicher Gewalt (Adorno), um den Blutkitt zwischen den Menschen, der diese beisammen hält, um die "Ich-Ausdehnung" der Peiniger (Lutz Ellrich). Die Folter des 20. Jahrhunderts – ob in Chile, in Indonesien oder im Deutschen Reich – kommt ohne Recht aus, interessiert sich nicht für in Körpern eingeschlossene Wahrheiten und feiert Feste der Angst. ...
Es ist wirklich nicht zum Lachen: ernsthaft aussehende Männer, bärtig, dunkel. Fundamentalisten nennt man sie, im Westen, und eine fundamentale Anspruchshaltung haben sie in der Tat. Der Mitgründer der Islamischen Heilsfront, der "Großinquisitor" oder auch "algerischer Savonarola" genannte Ali Benhadj, hat es nach seiner Entlassung aus langjähriger Haft in Algier klar gesagt: "Da wir ein muselmanisches Volk sind, kann es bei uns keinen Widerspruch geben wie im Westen. Der Koran ist die höchste Referenz … Die Leute des Buches – die Christen und die Juden – dürfen in der muselmanischen Gesellschaft ihre Religion praktizieren. Aber wir sind gegen diejenigen unter ihnen, die sich unter Ausnutzung der Schwäche der Unwissenden in Kämpfer verwandeln und Muslime konvertieren … Das sind Spione und Geheimagenten" (Interview Le Monde vom 4. April 2006). Widerspruch zwecklos. Ali Benhadj trägt keinen Bart. ...
Wozu Rechtsgeschichte?
(2003)
Es ist kaum noch zu ertragen. Immer wieder diese alten Fragen. Warum Aufklärung? Was können wir wissen? Wozu sollen wir das oder jenes wissen? Turfanforschung – schon das Sujet ist dem Normalsterblichen ein Rätsel. Ägyptologie – hier verspricht der Gegenstand wenigstens eine vorstellbare und noch heute erlebbare Exotik. Zwei Wochen Nilfahrt. Aber das alte Schreiben und Denken und Musizieren der Turkmenen? Wer will das kennen lernen? Wem mögen die Kenntnisse über die Turkmenenkultur nutzen? Dann doch lieber gleich Kulturwissenschaft tout court. Das kommt an. Also etwa die Kultur des Riechens, von der Toilette über das Parfum zu den Gerüchen der Städte. Damals und heute. Da kann, zu welchem Behufe auch immer, jeder mitriechen – auch der kultivierte Steuerzahler, der die Kulturwissenschaft bezahlt. Die ebenso zahlenden unkultivierten Bürger interessieren nicht weiter. Oder das sagenhafte Gehör der Wüstenspringmaus. Das ist Grundlagenforschung, bei der sich immerhin ahnen lässt, es könnte à la longue etwas dabei herauskommen, ein neues Hörgerät, nicht für Mäuse, sondern für Menschen. ...
Pourquoi Legendre?
(2006)
Das ist noch vornehm formuliert. Kommt man hierzulande auf Pierre Legendre zu sprechen, dann fallen die Kommentare von Verwaltungsrechtlern und Rechtshistorikern, also den Fachkollegen des französischen Gelehrten, drastisch aus. Vornehme Zurückhaltung wird kaum geübt, gefragt wird auch nicht, das Urteil steht fest: eine besonders spinnerte Spielart von French Theory. Man kennt das Verurteilungsspiel, meist sind Franzosen Objekte des Insults: Foucault – ein nihilistischer Phantast; Derrida – der Verderber unserer Jugend; Baudrillard – der Weltauflöser. Natürlich sind dies nicht die Urteile der modebewussten Intellektuellenschickeria, sondern des deutschen Normalprofessors, bei dem allenfalls der eher bodenständige, nachgerade empiristische Bourdieu durchgehen mag. ...
Was hält die Gesellschaft zusammen? Wie schafft man es, dass sich die Menschen nicht gegenseitig massakrieren? Wo ist der Frieden? Alte Fragen, fürwahr. Die Antworten liegen seit jeher geborgen irgendwo zwischen Selbstorganisation und Fremdorganisation, zwischen Selbstherrschaft und Fremdherrschaft, zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. Konkret: Brauchen die Menschen, um friedlich miteinander auszukommen, eine Instanz, die ihnen zeigt, wo es lang geht? Oder finden und haben die Menschen einen Grund in sich selbst, um nicht zu Mördern zu werden?
Der französische Arbeitsrechtler Alain Supiot hat nun eine Antwort auf diese Fragen gegeben, eine Antwort in einer Zeit, in der – trotz George W. Bush, Interventionsvölkerrecht und europäischem Direktivenwahn – die Teile über das Ganze, das Periphere über das Zentrale, das Internet über das Diktaphon zu triumphieren scheinen. ...