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Realismus macht sich breit in Europa. Nach mehreren Referenden mit negativem Ausgang, wiederholter Uneinigkeit in der Außen- und Erweiterungspolitik und sogar schwerwiegenden Differenzen in der wirtschaftspolitischen Kernkompetenz der EU scheint dieser Realismus noch die bessere Alternative zu einem Europaskeptizismus. Die politischen Akteure sind mittlerweile geschult darin, die wiederholten Rückschläge begrifflich zu verarbeiten und stets wieder Auswege aus den scheinbar festgefahrenen Verhandlungen zu finden. Immer neue Formelkompromisse lassen bewusst die eine oder andere Machtfrage unbeantwortet. So entstehen europarechtliche Konstruktionen, die den auf Typenklarheit bedachten Juristen Kopfzerbrechen bereiten. Stellt das neue Vertragswerk einen weiteren Schritt zu einem europäischen Bundesstaat dar? Wird nun endgültig der Boden für eine europäische Verfassung bereitet oder ist der Verfassungsbegriff nun endgültig ad acta zu legen? Das Europa der zwei Geschwindigkeiten scheint auf einen bundesstaatlich organisierten westeuropäischen Kern und einen gesamteuropäischen losen Staatenbund hinauszulaufen. ...
Eine Schlinge ist eine Schlinge. Zugleich ist sie ein markantes Symbol für den Tod durch Erhängen. Doch galt das Zeichen der Schlinge für diese grausame Tötungsart erst seit dem 18. Jahrhundert, als der spezifische Henkersknoten erfunden worden war. Zuvor wurden die zum Tode Verurteilten von einer Leiter aus mit einem Strick um den Hals an eine Leine gehängt und die Leiter dann weggestoßen. Entsprechend war das Symbol für die Strafe des Strangulierens eine Leiter. Der Kunstwissenschaftler Samuel Y. Edgerton, der in seinem wunderbaren Buch Pictures and Punishment von 1985 die Bestrafungsszenen auf Bildern als rechtshistorische Quelle erschlossen hat, schreibt in dem Sammelband Kunst als Strafe über den Nutzen, den Künstler lange Zeit aus der Todesstrafe zogen. Die Getöteten und anschließend Sezierten boten im Mittelalter und der Renaissance das beste anatomische Anschauungsmaterial für die Maler menschlicher Körper. So hat beispielsweise auch das bekannte Werk von Andreas Vesalius De fabrica corporis humani von 1543 von den Hingerichteten profitiert. ...
Das rundum gelungene Buch der Münsteraner Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger überzeugt auch deswegen, weil es ein sympathisch zu nennendes Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit aufweist. In der Einleitung, wo gerne programmatische Versprechungen erfolgen, die Autoren später im Buch nur bedingt wissenschaftlich einlösen, entfaltet Stollberg-Rilinger ihre Forschungsidee. Es heißt dort bescheiden, das Buch wolle eine "neue Perspektive" für eine "alternative Verfassungsgeschichte" öffnen, aber solle diese noch nicht selbst sein (18). Zumeist stimmen solche Sätze nicht, weil der Anspruch in der folgenden praktischen Umsetzung unterschritten wird; hier hat man eher den umgekehrten Verdacht. Denn Stollberg-Rilinger realisiert ihre theoretischen Leitlinien so umsichtig, konsequent und auch umfassend, dass bezüglich der Vormoderne damit mehr als nur Bausteine einer alternativen Verfassungsgeschichte vorliegen. ...
Endlich hat nun auch die Dissertationsliteratur ihren Rechtspluralismus. Gleich drei deutschsprachige juristische Dissertationen aus dem vergangenen Jahr tragen "Rechtspluralismus" im Titel. Das ist zwar nicht verwunderlich. Rechtspluralismus herrscht offenbar "überall" Aber es ist doch bemerkenswert. Denn die Konjunktur des Modewortes überschreitet eine neue Schwelle. Was in den 1970er Jahren fernab des juristischen Mainstreams begann, ist heute dissertationsfähig. ...
Frühjahr 1934. Vorübergehend sieht es so aus, als kehrten im deutschen Reich wieder Ruhe und Ordnung ein: Hilfspolizei und "wilde" Konzentrationslager werden aufgelöst, mit der Wirtschaft geht es bergauf und ein Nichtangriffspakt mit Polen verheißt außenpolitische Stabilität. Das neue Regime hat sich konsolidiert; nun wird die revolutionäre "Bewegung" in rechtsstaatliche Bahnen gelenkt – so sieht es jedenfalls der "Reichsjuristenführer" Dr. Hans Frank. Am 20. März tönt seine Stimme landesweit durch die Volksempfänger: "Der Staat Adolf Hitlers … ist ein Rechtsstaat." Die Macht des Nationalsozialismus verwirkliche sich "ausschließlich in den Formen des Rechts"; sie strebe nach "Rechtssicherheit", "Rechtsschnelligkeit" und "Rechtsklarheit". Kurze Zeit später scheinen Frank Bedenken zu kommen: Im Sommer protestiert er gegen die verfahrenslose Erschießung Ernst Röhms und seiner Gefolgsleute. Die Hinrichtung von Parteigenossen der ersten Stunde passt nicht zum Bild eines völkischen Rechtsstaates. Roland Freisler sieht das anders. Selbstverständlich sei der nationalsozialistische Staat ein Rechtsstaat; man müsse diesen Begriff nur richtig deuten: nicht im Sinne eines Staates der "Shylockgerechtigkeit", in dem "das Formale… zur Zwangsjacke des Lebens" wird, sondern eines Staates des "richtigen", weil aus dem gesunden Volksempfinden geschöpften Rechts: "Ihm ist … Recht alles, was dem Volke dient und frommt" – auch Terror, Verfolgung und Mord. ...
Die 18 Beiträge des Sammelbands behandeln das auch rechtshistorisch interessierende Thema der "religiösen Devianz", die zwischen schweren Delikten wie Gottlosigkeit, Hexerei oder Blasphemie und nonkonformistischen Glaubenspraktiken, Dissimulation und Eigensinn verortet wird. Dieses breite Spektrum, zu dessen einzelnen Erscheinungsformen bereits ergiebige Forschungen existieren, soll mit neueren sozialwissenschaftlichen und kriminalitätshistorischen Ansätzen, Methoden und Fragestellungen durchleuchtet werden: Nicht mehr Kirche und Staat, sondern der Herstellungsprozess religiöser Abweichung, deren Zuschreibung und die Sanktionierung/Stigmatisierung und damit die Praxis des Umgangs mit religiöser Devianz stehen im Mittelpunkt des Forschungsfeldes. Dessen Dimensionen legen die Herausgeber in der Einleitung systematisch und überzeugend dar und betonen als zentrale Forschungsleitlinien die stärkere Berücksichtigung von religiöser Pluralität, gruppenbezogener und konfessionsübergreifender Devianzen bzw. übergreifender Deliktfelder sowie das Zusammenwirken von religiösen, sozialen und rechtlichen Normen und Praktiken. Vollständigkeit kann freilich nicht erzielt werden und daher beschränkt sich der Band auf exemplarische Fallstudien zum konfessionellen Zeitalter, welche die variantenreiche religiös-konfessionelle Landschaft Europas ausreichend abdecken. ...
Die vorliegende Münchner historische Dissertation untersucht am Beispiel der letzten Generation der Reichskammergerichtsassessoren die Wahrnehmung und Verarbeitung der Auflösung des Alten Reiches und die Bewältigung dieses epochalen Umbruchs durch die ehemaligen Richter bis in die Zeit des Deutschen Bundes hinein. Es geht folglich um Auflösung und Transfer eines Rechtssystems, das Mader am Beispiel der Bewältigungsstrategien der rund 20 Kammerrichter und ihrer Nachkarrieren detailliert rekonstruiert. Zwar fällt die Kritik des Verfassers an der "Untergangsorientierung" der Forschung zu einseitig und pauschal aus – denn diese hat das Funktionieren der Reichsverfassung auch in ihrer letzten Phase differenziert herausgearbeitet. Zutreffend ist jedoch, dass Fortwirkung, Kontinuität und Transfer des Alten Reiches, seines Rechts, seiner Institutionen und seiner Funktionsträger noch stärker erforscht werden sollten. ...
"Mit dem Erscheinen des vorliegenden Registerbandes ist das 'Historische Wörterbuch der Philosophie' abgeschlossen", so Gottfried Gabriel in der Vorbemerkung. Freilich ist ein wirklich "abgeschlossenes" Lexikon nur schwer vorstellbar. Es ist eine in Stichworte gedrängte Verkürzung eines bestimmten Segments der Welt. Die Auswahl der Stichworte zeigt implizit, was eine Redaktion, aber auch eine ganze Autorengeneration "in ihrer Zeit" für wichtig hielt. Zwischen den Stichworten gibt es Leerräume, die in immer feinerer Differenzierung gefüllt werden könnten. Neue Begriffe tauchen ständig auf. Der philosophische Diskurs fließt. Nachtragsbände müssten sich anschließen, das Ganze würde im Internet als "lebendiges Lexikon" mit fortwährenden Ergänzungen sozusagen als "philosophia perennis" im Sinne von Joachim Ritter fortbestehen. Käme es zu einer zweiten Auflage, dann würde man die Feldarbeit von tausendfünfhundert Autoren nochmals aufnehmen und mit Sicherheit ergäben sich viele Verschiebungen und Ergänzungen. Mit anderen Worten: Kaum hat der Stein den Gipfel erreicht, stürzt er wieder abwärts. Lust und Verzweiflung der Lexikographen. ...
Seit Mitte der Sechzigerjahre gab es vielerorts Ringvorlesungen zum Thema Rechtsordnung und Juristen im Nationalsozialismus (Gießen, München, Tübingen, Berlin, später in Frankfurt, Kiel und Münster), kirchliche Akademien veranstalteten zahllose entsprechende Wochenenden. Auch die Richterakademien in Trier und Brandenburg nahmen sich schließlich der Thematik an. Das Leitwort war "Vergangenheitsbewältigung", meist eine solche der Zivil- und Strafjustiz, aber auch der Rechtswissenschaft und ihrer, wie man sagte, "Verstrickungen". Göttingen veranstaltete nun im Wintersemester 2006/07 zum zweiten Mal – nach Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (1989) – eine solche Ringvorlesung. ...