Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin
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In der Redeordnung des Memoriale stehen sich göttliches Wort, eigene und fremde Rede, Medium und Schreiber, Mund und Schrift, Körper und Passionen gegenüber. Unerhörter Anlass für die Abfassung dieses Memoriale ist die conversio der Angela, in der sie sich von ihrem irdischen Leben als Ehefrau und Mutter ab- und der Liebe in Gott zuwendet. Dabei ist das Memoriale, das diese Umkehr zur Darstellung bringt, nicht aus der Aktualität einer drängenden Situation geschrieben und dokumentiert deshalb keine autobiographische Unmittelbarkeit. Wie bei Augustinus ist das Schema der conversio das der Nachträglichkeit: Erst aus dieser Perspektive kann das Ganze überhaupt zur Darstellung gebracht werden. Im Unterschied zur sorgfältig narrativ ausgefeilten, autobiographische Züge tragenden Bekehrung von Augustinus ist das dabei Besondere dieser conversio, dass sie nicht von eigener Hand verfasst ist: Angela diktiert ihre Bekehrung ihrem Beichtvater, woraufhin dieser mit der Niederschrift zugleich das Gehörte ins Lateinische übersetzt. Wenn der Beichtvater das Bekenntnis direkt von ihrem Mund abschreibt, fallen Beichte und Bekenntnis zusammen, damit aber nicht das Subjekt der Rede und der Verfasser. Die von Angela leidenschaftlich erfahrene Liebe zu Gott steht im Zeichen der Autorität nicht nur der Kirche und der Patristik, sondern auch der Schrift. Angelas Rede ist die der Anderen. Das Memoriale wird im Nachzeichnen ihrer conversio aber nicht zum einfachen Ausdruck laienhafter volkssprachlicher Sakralität, sondern ist diskursive Strategie und performative Ökonomie der Sakralisierung. Die Übertragung des Gottesbegehrens Angelas in die Schrift erweist sich als Kontrafaktur und Transformation der Bibel. So sehr diese Konstellation von beichtender Konvertitin und schreibendem Beichtbruder in den historischen Moment der Entdeckung einer weiblichen spirituellen Empfänglichkeit im 13. Jahrhundert passt, so sehr findet sich hierin die Moderne wieder: mit Clemens von Brentano oder Urs von Balthasar, die von den weiblichen Lippen die göttlichen Offenbarungen ablauschen, die ihnen selbst nicht zuteil werden.
"Und Gott chillte"? : Überlegungen zu neueren Bibelprojekten aus literaturwissenschaftlicher Sicht
(2012)
Der Graben zwischen den Generationen ist nicht nur durch mangelndes Verständnis, sondern auch durch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, durch die Verweigerung zur Kommunikation unüberwindbar geworden. Dies ist nicht das Ergebnis der jüngsten Shell Jugendstudie, sondern das Szenario, das Birgit Vanderbeke in ihrem 2005 erschienenen Roman Sweet Sixteen entwirft.1 Der Protagonist, ein in die Jahre gekommener Trendforscher, versucht das Verschwinden der Jugendlichen zu ergründen, da es sich um eine neue Subkultur handeln könnte. Bei seiner Recherche stößt er auf eine Internetseite, die von einer Jugendkirche namens "Jesus Freaks" betrieben wird. [...]
Vorbild für die Jesus Freaks in Vanderbekes fiktionalem Text ist die gleichnamige Bewegung, die zu Beginn der 1990er Jahre in Hamburg gegründet wurde. Erklärtes Ziel war und ist es, den christlichen Glauben für Jugendliche – besonders solche am Rand der Gesellschaft – wieder attraktiv und ansprechend zu gestalten. Die jungen Gruppen kehrten sich radikal von der traditionellen, kirchlichen Praxis und Spiritualität ab. Wie in Vanderbekes Roman ging es nicht um eine Reformation bestehender Verhältnisse, sondern darum, eigene religiöse Formen zu finden. Dieses Bestreben umfasste konsequenterweise die kanonischen Texte der Bibel, deren Wortlaut (in der Luther- oder Elberfelder-Übersetzung) als antiquiert und alltagsfern galt. Martin Dreyer, der 1965 geborene Gründer der Jesus Freaks, startete 2004 das Volxbibel-Projekt, dessen sprachlicher Duktus im oben angeführten Zitat ironisch aufgegriffen wird. Anders als bei kommunikativen Übersetzungen der letzten fünfzig Jahre (bspw. Hoffnung für alle oder Gute Nachricht) ging es ihm nicht nur um einen zeitgemäßen und allgemeinverständlichen Sprachstil. Die Volxbibel sollte von Jugendlichen für Jugendliche ›übersetzt‹ werden, was durch ein Open-Source-Modell im Internet verwirklicht wurde.
Im Folgenden geht es um 'Bibel als Litteratur' (von lettera, Druckletter) und 'Literatur als biblischer Text', also um wechselseitige Beziehungen von Letternsatz, Bibeldruck und schöner Literatur. Zugunsten dieser Fokussierung auf ihre typographische Umsetzung bzw. Drucklegung werden sonst zentrale stilistische, rhetorische, textsorten- oder gattungsspezifische Parallelen zwischen biblischen und literarischen Texten vernachlässigt. Unter biblischen Texten sollen nicht nur Vollbibeln, sondern auch Teilausgaben verstanden werden, solange sie auf biblischem Material der jüdisch-christlichen Tradition gründen; literarische Texte seien einfach alle anderen.
Die Armenbibel bedient sich einer typologischen Interpretations- und Aufbautechnik. Dabei handelt es sich, in der bekannten Definition Friedrich Ohlys, um "eine bibelexegetische Methode. Sie besteht in der Zusammenschau zweier Geschehnisse, Einrichtungen, Personen oder Dinge, deren je eines aus dem Alten und dem Neuen Testament gegriffen und zu einem Ereignispaar derart verbunden wird, dass durch die Zuordnung zu einem spiegelnden Sichbeleuchten ein Sinnzusammenhang zwischen den beiden an den Tag gebracht wird." In der Typologie werden also Handlungen, Personen, Dinge oder Ereignisse des Neuen Testaments mit ähnlichen Erscheinungen im Alten Testament systematisch in Beziehung gesetzt – Beziehungen, die aber nach mittelalterlichem Verständnis nicht willkürlich in die Bibel hineininterpretiert sind, sondern zeigen und beweisen, dass Gott in den realen Personen und Ereignissen des Alten Testaments das Neue Testament bereits realiter angekündigt hat. Typologie findet ihrem Selbstverständnis nach, was von Gott bereits angelegt ist in der Zeit, aber nicht offensichtlich erkennbar. Bezugspunkt aller Typologie ist Christus, der als Mittler zwischen Altem und Neuem Testament, zwischen Gott und Mensch im Zentrum von Typologie steht. Das konkrete tertium comparationis eines solchen Bezugs erscheint dabei fast immer als ausgesprochen oberflächliche Ähnlichkeit. Typologie hebt diese Ähnlichkeiten aus ihrer banalen und zufälligen Immanenz heraus, indem sie sie an den Willen Gottes bindet und damit in die Transzendenz verlängert. Typologie ist deshalb auch nicht einfach eine Technik, die einen vorhandenen Text interpretiert, sondern mindestens ebenso eine Technik, einen Text durch aufeinander bezogene Ähnlichkeiten überhaupt erst herzustellen.
Judas Ischariot, hebr. יהודה אישׂ־קריות (Yəhûḏāh ʾΚ-qəriyyôt), der im Neuen Testament als einer der zwölf Nachfolger Jesu von Nazareth erscheint, die dieser persönlich als Apostel berief, ist in der europäischen Kultur- und Religionsgeschichte seit der Antike auf viele verschiedene Weisen betrachtet und dargestellt worden. Auf die vier kanonisch gewordenen Evangelien des Neuen Testaments und das apokryphe Judasevangelium folgen patristische Erklärungen und Präsentationen des Judas in der Malerei des Mittelalters und der frühen Neuzeit und schließlich eine Fülle literarischer, bildlicher und musikalischer Darstellungen in Moderne und Gegenwart.
Lesen wir diese Zeugnisse zusammen, erhebt sich uns aus der Vielzahl der Exegesen, Porträtierungen und Inszenierungen eine schillernde Gestalt, die in ihrer Widersprüchlichkeit faszinierender kaum sein kann: Der Jünger, der seinen Herrn um dreißig Silberlinge mit dem sprichwörtlich gewordenen 'Judaskuss' ausgeliefert und sich dann aus Reue über seine Tat erhängt haben soll, erscheint als stereotype Negativfigur, als Inkarnation des Bösen, als exemplarische Verkörperung des Verräters und wird zugleich in positivem oder zumindest weitaus günstigerem Licht präsentiert. Letztere Darstellungen füllen die Figur psychologisierend mit Leben, indem sie den Menschen mit Blick auf seine Tat transparent machen, ihm ein individuelles Gesicht geben und ihn individual- und sozialethisch zu rehabilitieren suchen. Sie deuten sein Handeln als notwendige Voraussetzung für die Erfüllung der Heilsgeschichte, exkulpieren es als Verzweiflungsakt eines enttäuschten Patrioten, der sich vom Messias Widerstand gegen die römischen Besatzer erwartet hatte, oder stilisieren es zur Heldentat. In jüngster Zeit wird Judas auch als der engste spirituelle Freund Jesu gehandelt. Seit 2006 mit erheblicher Medienpräsenz zu Ostern große Teile des aus dem Koptischen übersetzten Manuskripts des Judasevangeliums publiziert wurden, das bis vor kurzem als verschollen galt, konstruieren Literaten, Esoteriker und Verschwörungstheoretiker das Bild eines Vertrauten Jesu, den dieser in tiefste Geheimnisse eingeweiht habe: über Gott, die Schöpfung und darüber, wie geistliche Verwirklichung durch Hervorbringung des vollkommenen Menschen zu erreichen sei.
In der folgenden Untersuchung sollen exemplarisch an der Darstellung der biblischen Figur Batsebas die Vorteile einer wechselseitigen Lektüre des Bibeltextes und seiner literarischen Rezeptionen aufgezeigt werden. Romane, die biblische Stoffe aufnehmen – sei es in aktualisierender, kritisierender oder glorifizierender Art – zeigen aus kulturwissenschaftlicher Sicht den noch immer hohen Stellenwert der Bibel. Noch immer geht von biblischen Inhalten, Motiven oder Figuren eine literarische Faszination aus, die in unterschiedlichsten literarischen Rezeptionen ihren Niederschlag findet.
Für eine Beschäftigung mit literarischen Rezeptionen der Erzählung von 'David, Batseba und Urija' ist es meines Erachtens allerdings notwendig, zunächst einmal den Bibeltext zu lesen. Angesicht der vielen Zugänge zur Bibel und der verschiedenen Leseweisen biblischer Texte stellt sich die Frage: Wie kann die Bibel angemessen gelesen werden? Neben der historisch-kritischen Bibelauslegung stehen neuere Ansätze zur Verfügung – so auch die narrative Analyse, die als Grundlage für die folgende exegetische Untersuchung dient. Im Anschluss an diese werden mögliche Rezeptionsanschlüsse benannt, die nachfolgend exemplarisch an drei neueren Romanen verdeutlicht werden. Für die Untersuchung wurden der Roman "Batseba. Aus dem Schatten ins Licht" von James R. Shott, Stefan Heyms "König David Bericht" sowie der Roman "Bathseba" von Torgny Lindgren ausgewählt.
Als Schatzkästchen, zu dem der Schlüssel verloren sei, bezeichnet der jüdische Gelehrte des 10. Jahrhunderts Saadia Gaon das šir hašširim, das 'Hohelied'. Ein Blick auf den Forschungsstand zeigt, wie treffend die dem außergewöhnlichen biblischen Buch inhärente Problematik damit beschrieben ist. Nicht nur, dass es als erotisches Liebesgedicht ohne expliziten Gottesbezug einen besonderen Status innerhalb des biblischen Kanons einnimmt; auch der Text selbst gilt in seiner vorliegenden Form als problematisch. Was am Hohelied irritiert, ist dessen fragmentarische Struktur, weshalb es häufig als eine Art Anthologie von unabhängigen Liedern angesehen wird, die schließlich von einem Endlektor redigiert wurde und so in der nun überlieferten 'zerstückelten' Fassung zu uns gelangte. Uneinigkeit herrscht allerdings bei der Frage, wie die Grenzen zwischen jenen einzelnen Liedern überhaupt zu ziehen seien, denn trotz seiner augenfälligen Sinnbrüche zeichnet sich das Hohelied durch eine überraschende sprachlich-motivische Konsistenz aus. Eine weitere Schwierigkeit bildet die Unkenntnis des historischen Kontexts. Die jeweiligen Datierungsvarianten reichen von der salomonischen Regierungszeit – mit und ohne Salomo als tatsächlichem Verfasser – bis in die hellenistische Epoche, umfassen somit einen Zeitraum von grob 700 Jahren. Aus jener Vielzahl an miteinander konkurrierenden Theorien zu Genese und Tradierung wird schnell ersichtlich, dass sie nur bedingt zu einer Erhellung des Hohelieds beizutragen vermögen. Gegenüber einer historisch-kritischen Exegese besitzt ein literaturwissenschaftlicher Deutungsansatz den Vorteil, die Diskussion um die unlösbaren Streitfragen zu Kontextualisierung und Kanonisierung beiseitelassen zu können und stattdessen mit dem Text, wie er vorliegt, zu arbeiten. Dann aber dürfen die Brüche im Hohelied nicht als störendes Moment aufgefasst werden, welches das Verständnis lediglich behindern würde, sondern vielmehr als sinnkonstituierend und für eine Gesamtinterpretation relevant. Für Wolfgang Iser, der bezüglich diskrepanter Textmomente solcher Art von 'Unbestimmtheitsstellen' spricht, machen gerade jene die elementare Wirkungsbedingung literarischer Texte aus: "Aus der Semiotik wissen wir, daß innerhalb eines Systems das Fehlen eines Elements an sich bedeutend ist. Überträgt man diese Vorstellung auf den literarischen Text, so muß man sagen: Es charakterisiert diesen, daß er in der Regel seine Intention nicht ausformuliert. Das wichtigste Element bleibt also ungesagt. Das Hohelied wird hier somit als radikal aktualisierbarer Text vor dem Hintergrund neuerer Theoriebildung gelesen und so von seiner ästhetischen Struktur her beleuchtet, wobei auch anachronistisch anmutende Kategorien wie sie unter anderem die Psychoanalyse bereitstellt als Lektürehilfe herangezogen werden. Der Fokus liegt insbesondere auf der Frage, wie Passagen, die in einem als Loblied auf die Liebe ansetzenden Text deplatziert wirken, sich dennoch in ein Gesamtverständnis integrieren lassen.
Will sich die Literaturwissenschaft die Bibel zum Thema machen, dann erscheint die Johannesapokalypse in ihrer medialen Selbstreflexivität, im grundsätzlichen Anspruch der Lektüre selbst als geeigneter Zugang. Die Apokalypse wird zum Fall, in welchem das Lesen und Verstehen der Bibel selber thematisch werden muss. Denn insofern sich jede Lektüre nur in ihrer doppelten Semantik als Leseoperation und Lesestoff vorstellen lässt, wird sich der Vollzug einer Bibellektüre, wie immer sie sich zu einer theologischen oder historisch-kritischen Exegese verhält, in der Lektüre selbst ergeben.
Bereits ein kursorischer Überblick über die Publizistik der letzten zwei Jahrzehnte lässt keinen Zweifel aufkommen: Das öffentliche Interesse an der Religion wächst. Und so streitbar die gesellschaftliche Gesamtdiagnose einer 'Wiederkehr der Religion' auch sein mag, so offenkundig ist die Wiederentdeckung der Religion im wissenschaftlichen Diskurs, in dem zahlreiche Beiträge von Autoren wie Gianni Vattimo, Jacques Derrida, Jürgen Habermas, Richard Rorty, Charles Taylor oder Hilary Putnam beredtes Zeugnis vom jüngsten Aufstieg des Religiösen zu einem der prominentesten Themen theoretischer Debatten ablegen. Diese Konjunktur hat inzwischen auch die Literaturwissenschaft erreicht, in der Kult und Opfer, religiöse Sprache und sakrale Praktiken, Märtyrer, Heilige und Propheten wieder zu wichtigen Themen geworden sind, die nicht zuletzt durch die ihnen zugeschriebene 'Andersheit' gegenüber dem Normalbetrieb der Wissenschaft Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Damit rückt auch ein Gegenstand ins Zentrum des Interesses, der nun gar nicht fremd, neu oder anders ist, sondern eher als paradigmatischer Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung erscheint: die Bibel, ihre Übersetzung, Rezeption, Kritik und ihr Gebrauch, ihre Stellung in der Textkultur der Gegenwart und Vergangenheit, ihre vielfältigen Beziehungen zu literarischen Texten. Offensichtlich handelt es sich um einen Phänomenbereich, der ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Problemstellungen reicht, und zwar in historischer nicht weniger als in systematischer Hinsicht. Schließlich hat sich die Literatur in Europa unter ständigem Bezug auf und in kontinuierlicher Auseinandersetzung mit der Bibel als 'Buch der Bücher' und 'Heiliger Schrift' herausgebildet, hat diese als Vorbild und Orientierung, als Instrument zur Autorisierung des eigenen Geltungsanspruchs, als Buch gewordene Konkurrentin und als Vorläufermodell der Dichtung gleichermaßen in Gebrauch genommen. Und ohne Zahl sind die stofflichen, motivischen, thematischen, stilistischen und kompositorischen Referenzen literarischer Texte auf die Bibel, die dabei im selben Maße als kultureller Wissensspeicher wie als ästhetisches, religiöses und gesellschaftliches Reflexionsmedium sichtbar wird.
Dieser Band führt das Modell der 'Sakramentalen Repräsentation' ein als Werkzeug zur Beschreibung und Untersuchung frühneuzeitlicher Phänomene der Übertragung von sakramentalen Geltungs- und Bedeutungsmustern auf allgemeine kulturelle Phänomene. 'Sakramentale Repräsentation' meint dabei weder die Repräsentation sakramentaler Rituale oder Gegenstände, noch impliziert sie eine bestimmte Definition des Sakraments, etwa in Absetzung von 'sakramentaler Präsenz'. Vielmehr fragen wir, wie in Repräsentationen, Bedeutungsstiftungen und Deutungen der Vormoderne sakramentale Muster herangezogen werden, um einer Sache Geltung, Legitimation, Durchsetzungskraft oder auch so etwas wie poetische oder bildliche Wirksamkeit zu verschaffen.
Benjamins Theorie ist als Bilddenken bekannt; vermutlich ist das der Grund, warum seine musiktheoretischen Ausführungen bislang wenig Beachtung gefunden haben: die Überlegungen des jungen Benjamin zur Musik, die ein Seitenstück zur sprachtheoretischen Grundlegung seines Denkens überhaupt darstellen, ebenso wenig wie die Auseinandersetzung mit der Oper. Das Thema der Oper klingt bei ihm an verschiedenen Stellen an, so etwa in "Goethes Wahlverwandtschaften", am explizitesten aber im Trauerspielbuch, in jenem Abschnitt des zweiten Teils des Kapitels "Allegorie und Trauerspiel", der der vielzitierten Diskussion zum Zusammenhang von Klangfigur und Schrift anhand von Johann Wilhelm Ritters Buch Fragmente aus dem Nachlass eines jungen Physikers (1810) vorausgeht. Da es sich hierbei um Überlegungen zum Thema der Musik handelt, insbesondere über die Oper, sollen diese am Anfang stehen.
Safa Brura
(2013)
Im Aufsatz "Die Aufgabe des Übersetzers" von 1921 entwickelt Walter Benjamin den Gedanken einer 'reinen Sprache' (GS IV, 9–21), angeregt von der antiken jüdischen Idee einer 'klaren Sprache' – hebr. שׂפה ברורה (Safa Brura) –, die in der Bibel im Buch Zefanja (3,9) erwähnt wird. Gemäß den Schriften ist diese Sprache eine menschheitsumgreifende 'Muttersprache', die von allen Völkern am Ende der Zeit benutzt werden wird. Als Musiker zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfahre ich die Realität als das exakte Gegenteil dieser Prophetie. Der Turm von Babel wäre das viel geeignetere biblische Bild, um die zeitgenössische musikalische Wirklichkeit zu reflektieren (freilich ohne die katastrophalen Konsequenzen). Während der Pluralismus der Stile und Ideen ethisch gesehen zu begrüßen ist, stellt er auch eine Herausforderung für das Schaffen dar.
Das Wachsen im Nachhall
(2013)
Nach Benjamins Aufsatz "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" von 1916 gibt es Verständigung nicht nur in der Wortsprache, sondern auch in allen anderen Kommunikationsmedien, zu denen Benjamin auch die Musik zählt. Diese vielfältigen Mitteilungsformen der Dinge, Tiere und Menschen lassen sich ineinander übersetzen, wenn man Übersetzung als Leistung des Vermögens versteht, mimetisch nicht nur sinnliche, sondern auch unsinnliche Ähnlichkeiten zu erzeugen, wie z. B. Kinder Gegenstände zu imitieren vermögen, ohne ihrer Entscheidung ähnlich zu werden. Die drei Teile des Stücks versuchen, dieses von Benjamin mehrfach erörterte mimetische Vermögen musikalisch in Anspruch zu nehmen und dabei klangliche Korrespondenzen für Erinnerungsvorgänge aus der Berliner Kindheit um neunzehnhundert zu finden.
Die Mummerehlen
(2013)
Der Name der "Mummerehlen" aus Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert beruht auf einem Hörfehler des Kindes, von dem das Wort 'Muhme' als Synonym für 'Tante' nicht verstanden wird und das so die eigentliche Bedeutung der Worte 'Muhme' und 'Rehlen' aus dem gleichnamigen Volkslied entstellt. 1932 hat Benjamin "Die Mummerehlen" geschrieben – in jenem Jahr, aus dem eine der letzten Eintragungen über seinen Sohn Stefan (1918–1972) stammt. (GS IV, 260–263) Seit dessen Geburt hatte Benjamin ein Büchlein geführt, in dem er "einige Dutzende seltsamer Wörter und Redensarten" seines Sohnes notierte. Beispiele sind etwa: "schringen (springen)"; "Pamsrete (Trompete)"; "Koklade (Schokolade)" oder "Tante Licht (selbständig)".
Radau um K.
(2013)
Radau um K. basiert auf der einzigen der zahlreichen Radioarbeiten Walter Benjamins, die als Tondokument zumindest fragmentarisch erhalten ist: dem Hörspiel für Kinder "Radau um Kasperl" in der 1932 vom Westdeutschen Rundfunk Köln produzierten Version unter der Regie von Ernst Schoen. Durch Zufall auf das Hörspiel aufmerksam geworden, faszinierte mich beim ersten Hören gleich seine klangliche Reichhaltigkeit, die die exaltierte Schauspielsprechweise Kasperls ebenso umfasst wie Umgebungsgeräusche und zahlreiche akustische Äußerungen sowohl menschlicher (Lachen, Pfeifen) als auch tierischer Art (verschiedene Tierlaute und -rufe). Letztere sind auf den Inhalt des Hörspielausschnitts zurückzuführen; er handelt nämlich davon, wie Kasperl im Zoologischen Garten vor zwei Kindern damit prahlt, sich mit den Tieren in deren Sprache unterhalten zu können, und das auch – allerdings zunehmend unglaubwürdig – zu demonstrieren versucht. Auf spielerisch-humoristische Weise umkreist Benjamin im Medium des Rundfunks anschaulich, was ein Jahr später in seinem sprachphilosophischen Text "Über das mimetische Vermögen" zum titelgebenden Konzept und zur theoretischen Basis seiner sprachmystisch beeinflussten Auffassung wird, die Sprache als die "höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit" (GS II, 213) begreift.
Fieber
(2013)
In diesem Stück habe ich mich mit dem Fragment "Das Fieber" aus der Berliner Kindheit um neunzehnhundert befasst, in dem Benjamin literarisch u. a. die Entfremdung des Ichs vom eigenen kranken Körper zu vermitteln versucht. Mich hat gereizt, Begriffe wie Dissoziation und Mimesis, die beide, ohne genannt zu werden, eine zentrale Rolle in diesem Text spielen, auf eine musikalische Ebene zu übertragen. Anstelle des menschlichen Körpers arbeite ich mit der Anatomie des Ensembles, dessen Identität sich im Fluss befindet.
Trällernde Erinnerung
(2013)
In Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert findet sich vor dem Hintergrund des traumatischen, durch die Nationalsozialisten erzwungenen Exils des Autors eine doppelte Entwurzelungserfahrung: die der zeitlichen Distanz des Erwachsenen zu seiner Kindheit und die der räumlichen Entfernung des Exilanten zu seiner Heimat.
Walter Benjamins Aufsatz "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" dient als Ausgangspunkt für mein Stück. Benjamin verbindet die Schöpfungsgeschichte der Genesis und die Geschichte des Turms von Babel, wobei er die einheitliche, reine Sprache, die vor Babel gesprochen wurde, auf den idealen Zustand im Garten Eden bezieht. Zefanjas Prophetie für das Ende aller Tage führt kreisförmig auf diesen Anfang zurück: "Dann aber will ich den Völkern reine Lippen geben, dass sie alle des HERRN Namen anrufen sollen und ihm einträchtig dienen." (Zef 3,9).
Verlassene Orte
(2013)
Das von Klangnetz e.V. organisierte Projekt "DenkKlänge für Walter Benjamin" bot für mich den Anlass, mich überhaupt tiefer mit Walter Benjamins Schriften und seiner Philosophie zu beschäftigen, was sehr bereichernd und inspirierend war, zum Teil gar verstörend (im besten Sinne). Die Berliner Kindheit um neunzehnhundert – so reich und vielfältig – bleibt dabei nach wie vor ein Rätsel, ein Paradoxon steckt darin, was sicher einen Teil ihres Zaubers ausmacht.
Der kulturelle und wissenschaftliche Austausch zwischen Israel und Deutschland ist in seiner Lebendigkeit beeindruckend. [...] Wenig allerdings weiß man in Israel und Deutschland noch von der zeitgenössischen Musik aus dem jeweils anderen Land. Daher setzte sich die Berliner Komponistenvereinigung Klangnetz e. V. das Ziel, die gegenseitige Neugier mit einem Austauschprojekt zwischen jungen israelischen und deutschen Komponisten zu wecken und dabei möglichst dauerhafte Verbindungen zwischen Musikern, Komponisten, Wissenschaftlern und einem interessierten Publikum herzustellen. Im Juni 2010 fanden Konzerte und Workshops in Tel Aviv und Jerusalem statt, auf die Konzerte und Workshops in Frankfurt am Main und Berlin folgten. Den Abschluss bildete das internationale Symposium »Klang und Musik im Werk Walter Benjamins – Benjamin in der Musik«, das vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung und von Klangnetz e. V. in Kooperation mit der Akademie der Künste, Berlin, veranstaltet wurde.