Interjekte 6
Refine
Year of publication
- 2015 (4)
Document Type
- Part of a Book (3)
- Book (1)
Language
- German (4)
Has Fulltext
- yes (4)
Is part of the Bibliography
- no (4)
Keywords
- Biologie (4)
- Epigenetik (4)
- Kulturwissenschaften (4)
- Transgenerationalität (3)
- Vererbung, Begriff (3)
- Publizistik (2)
- Transgenerationaler epigenetischer Effekt (2)
- Interdisziplinarität (1)
- Sekundäre Traumatisierung (1)
- Weltbild (1)
Wir alle wissen ungefähr, was Epigenetik heute ist. Wir haben das Gefühl, dass wir über die gleiche Sache reden und dies auch aus ähnlichen Gründen tun. Die Frage, was epigenetische Vererbung ist, zielt also nicht so sehr darauf, was diese Klasse von Phänomenen, über die wir reden (epigenetische Vererbung, transgenerationelle epigenetische Effekte etc.) ist, sondern darauf, warum wir über sie reden. Die Antwort lautet wahrscheinlich: Weil es in den letzten zehn, zwanzig Jahren zu einem Umbruch gekommen ist, der mit Stichworten wie "New Genetics", "postgenomische Ära" usw. beschrieben wird. Irgendetwas Dramatisches ist passiert, und im Zentrum des zu beobachtenden Umbruchs steht die epigenetische Vererbung - was auch immer das eigentlich ist. Diese mehr oder weniger intuitive Antwort möchte ich infrage stellen: Gibt es überhaupt so etwas wie "epigenetische" Vererbung?
Für die stabile Weitergabe von phänotypischen Merkmalen an nachfolgende Generationen über die Keimbahn ist in der Biologie der Begriff der Vererbung reserviert. In diesem ist die Transgenerationalität immer schon mitgemeint, sie muss nicht gesondert angezeigt werden. Dies ist anders im Forschungsfeld der "Epigenetik". Hier werden seit einigen Jahren molekularbiologische Übertragungsprozesse mit dem Wort "transgenerationell" bezeichnet. Das Wort wird sowohl im Zusammenhang mit Übertragung ("transmission") als auch mit Vererbung ("inheritance") verwendet. "Transgenerational epigenetic inheritance" bezeichnet dabei die Weitergabe von epigenetischen Modifikationen von einer Organismen-Generation auf nachfolgende Generationen. Die Bezeichnung wird in Abgrenzung zur Weitergabe epigenetischer Modifikationen von einer Zelle an eine andere Zelle innerhalb somatischer Zellteilung (cell-cell inheritance) verwendet. Transgenerationelle epigenetische Vererbung meint also letztlich die über mehrere Generationen stabile Weitergabe epigenetischer Modifikationen in mehrzelligen Organismen. Dass der biologische Vererbungsbegriff im Zusammenklang mit "epigenetisch" den Zusatz "transgenerationell" benötigt, ist klärungsbedürftig. Hierin zeigt sich, so die These dieses Beitrags, dass der angenommene Übertragungsprozess instabil oder dessen Nachweis prekär ist. Im Folgenden werde ich zunächst drei historische Einschnitte skizzieren, die für diese Konnotation transgenerationeller Vererbung als "prekäre" Übertragung prägend waren: 1. die Verengung des biologischen Vererbungsbegriffs auf die Weitergabe über die Keimbahn und die Theorie der Konstanz des Keimplasmas von August Weismann; 2. die Unterscheidung zwischen Vererbung und kultureller oder psychosozialer Übertragung von Phänotypen in der frühen Entwicklungspsychologie; und 3. die familiale Übertragung psychischer Traumata von Holocaust-Überlebenden. Abschließend werde ich darstellen, wie in epigenetischer Forschung Transgenerationalität modelliert wird, und hieran die Prekarität der Übertragungsannahme diskutieren.
Die Interaktionen von DNA mit Umwelt, die Kopplungen zwischen biologischen Prozessen und mentaler Erfahrung, deren mögliche Vererbbarkeit sowie das Aufzeigen der potentiellen Reversibilität von "krankhaften" Entwicklungen innerhalb solcher Wechselspiele bilden Faszinationen, die jenseits der molekularbiologischen Labore das öffentliche Interesse entzündet haben. Diese Faszinationen sollen hier im Mittelpunkt stehen. Denn fast unvermeidlich verfallen die Forschungsbefunde einem Deutungsanspruch auf Humankultur, auf einen Bereich, der zunächst einmal jenseits der konkreten Forschung liegt und weit über diesen hinaus zeigt. Die folgende Mischung aus Glosse und Essay zur epigenetischen Weltbildproduktion – höher kann der Anspruch angesichts einer unabgeschlossenen, derzeit noch emergierenden Publizistik nicht sein – hat mehrere Teile. Die beiden ersten sind dem Auftritt der Epigenetik in der Öffentlichkeit gewidmet: Zuerst in einer impressionistischen Bestandsaufnahme der diesbezüglichen Publizistik, danach, um einen prominenten Bildbereich festzuhalten, wie er sich in der öffentlichen Diskussion der Epigenetik sedimentiert hat. Die darauf folgenden Teile widmen sich dem Emporkommen einer molekularen Vergemeinschaftungsrhetorik. Abschließend soll kurz die soteriologische Hoffnung erörtert werden, mit welcher der epigenetischen Forschung zumindest in ausgewählten theologischen Diskursen begegnet wird.
Die zwei folgenden Vortragsskripte sowie die Transkripte von Kommentar und Diskussion entstammen einem Workshop, auf dem die "Verfahren" der Epigenetik im Fokus der Diskussion standen. Darin wurden die Technologien der Epigenetik innerhalb der Forschung und an ihren Schnittstellen mit anderen Disziplinen und der Öffentlichkeit beobachtet. Leitend war die Frage, wie das Wissen um epigenetische Prozesse in Forschungslabor und Öffentlichkeit zwischen 'techne' und 'logos' greifbar wird, wie es dargestellt, modelliert, angewendet wird. Das schließt ausdrücklich sowohl die geschichtliche Herkunft dieser Verfahren ein, als auch die Art und Weise, wie Epigenetik als Wissenschaft und wie ihre Befunde kulturell verankert und zur Darstellung gebracht werden. Die hier aus diesem Diskussionszusammenhang ausgekoppelten Beiträge werfen einen Blick auf die Konstruktionen von Übertragungsphänomenen in Forschung und Öffentlichkeit. Der Beitrag von Jörg Thomas Richter unternimmt eine kurze Medienschau, die skizziert, welche Relevanz den Befunden dieser Forschung in der breiteren Publizistik beigemessen wird. Vanessa Lux eruiert die konzeptionellen Interferenzen, auf die die Forschung trifft, wenn sie transgenerationelle Übertragung als Vererbung modelliert. Ohad Parnes geht in seinem Kommentar sowohl auf historische als auch systematische Probleme des Vererbungsbegriffs ein, wie er aus der Genetik in die Epigenetik übertragen wird. Dem beigeordnet sind Auszüge aus der Abschlussdiskussion. Sie belegen ihrerseits das faszinierende Schillern, das die Epigenetik umgibt, aber sie suchen darüber hinaus die Spiegel und Splitter zu orten, von denen es möglicherweise ausgeht.