800 Literatur und Rhetorik
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An innovative and dynamic way of practicing and thinking about translation emerged in 1950 s Brazil and became entangled with German literature. However, due to linguistic barriers, this constellation remains almost invisible today. The main protagonist of this translation discourse was Haroldo de Campos who, together with his brother Augusto de Campos, translated texts from world literature into Brazilian Portuguese. This article argues that in the translation and criticism of a poem by Christian Morgenstern, the work of Haroldo de Campos as a philologist and scholar of Comparative Literature becomes especially palpable. Beginning with an example from Morgenstern’s collection Galgenlieder, the article illustrates how Campos translated the German vanguard movement into the Brazilian context and reflected on the similarities of both literary currents. The translation also depicts Haroldo de Campos’ understanding of both Comparative Literature and criticism, in general, favoring translation, adaption, and reception over the praise of the ‘original’. In following the traces of the poem (“Ein ästhetisches Wiesel”) through Brazilian literary theory (also in the work of Roberto Schwarz and Anatol Rosenfeld), the article argues in favor of its relevance for the discipline of Comparative Literature.
Das Genre der Autofiktion gehört zu den erfolgreichsten und meist diskutierten Phänomenen der internationalen Gegenwartsliteratur des vergangenen Jahrzehnts. Autorinnen und Autoren von Autofiktion verwenden vielfältige literarische Mittel, um das zu tun, was der Roman seit jeher getan hat: den Raum des Privaten auszuleuchten. Doch das Private der Autofiktion – so argumentiert der vorliegende Artikel – unterscheidet sich strukturell vom Begriff der Privatheit, der dem fiktionalen Roman zugrunde liegt. Am Beispiel von Sheila Hetis Roman Motherhood (2018; dt. Mutterschaft, 2020) und dessen Rezeption in verschiedenen Youtube-Formaten zeigt der Aufsatz, dass das Private, das von der Autofiktion zugänglich gemacht wird, nicht länger als Rückzugsort des Individuums zu verstehen ist. Vielmehr inszeniert und reflektiert Autofiktion ein Modell von Privatheit, in dem intensive Selbstbeobachtung in den Dienst des Knüpfens neuer sozialer Verbindungen gestellt wird. Autofiktion thematisiert das vernetzte Leben und inszeniert mit der Grenzüberschreitung von fiktionaler und nichtfiktionaler Welt ein ästhetisches Pendant des Netzwerkens. Der Artikel argumentiert somit, dass der Erfolg gegenwärtiger Autofiktion im Zusammenhang mit einem Strukturwandel von Privatheit in der Netzwerkgesellschaft verstanden werden sollte.
The American geographer and photo artist Trevor Paglen explores the material substructure of digital communication and the surveillance techniques made possible by it in several series of works. As an investigative artist, he not only follows the "evidential paradigm" (Carlo Ginzburg), but also artistically stages traces and trace reading in his photographs. The contribution examines the relationship between material traces and digital data. Using photographs from the series "Landing Sites" and "The Other Night Sky" as examples, it asks what evidentiary character the traces documented, staged, and produced by Paglen possess.
In seinem "Entwurf eines Lexikonartikels" definierte Hans-Heino Ewers "Kinder- und Jugendliteratur" im Jahr 1995 auf die folgende Art und Weise:
"Kinder- und Jugendliteratur meint entweder die Gesamtheit der von Kindern und Jugendlichen hörend, zuschauend oder lesend rezipierten (fiktionalen und nichtfiktionalen) Literatur oder die Gesamtheit der als für Kinder und Jugendlichen geeignet erachteten Literatur oder aber ein Subsystem des gesellschaftlichen Handlungssystems 'Literatur'.
In seinem Werk "Literatur für Kinder und Jugendliche - Eine Einführung" 2012 führt Ewers jedoch eine überarbeitete Definition des Genres auf. Er beschreibt sie dort als "Textkorpus mit einem oder mehreren identischen Merkmalen". Dabei handelt es sich spezifisch um den Korpus der Literatur, die von Kindern und Jugendlichen tatsächlich konsumiert wird. Dazu kommt derjenige Korpus, der für die Zielgruppe intendiert wird, das heißt Bücher, die die Gesellschaft, wie etwa Lehrer*innen, Eltern oder Buchhändler*innen, als für Kinder und Jugendliche "angemessen" und altersgerecht einstufen. Darüber hinaus beschreibt Ewers jedoch die "unbeabsichtigte" Kinder- und Jugendlektüre dabei handelt es sich die Differenzgruppe zwischen der von Kindern und Jugendlichen tatsächlich konsumierten Literatur und der für sie intendierten. Dabei handelt es sich also um jene Literatur, die nicht für die Zielgruppe bestimmt ist, aber trotzdem von ihr gelesen wird. In beiden Definitionen fehlt jedoch eine weitere mögliche Deutung des Begriffs der Kinder- und Jugendliteratur, nämlich die der Literatur, die von Kinder und Jugendlichen selbst verfasst wurde. Eine solche Art der Jugendliteratur wird in der literaturwissenschaftlichen Analyse jedoch nur selten berücksichtigt. Dies mag daran liegen, dass Literatur, die von Jugendlichen verfasst wurde, oft im Kontext der "legitimem" Kultur nicht als "professionelle" Literatur verstanden wird.
Somit werden Schüler*innen, die Texte schreiben, nur selten als "Autor*innen" im traditionellen Sinne wahrgenommen. Einer der wenigen Bereiche, in dem Texte von Jugendlichen literaturwissenschaftlich behandelt werden, ist die Forschung über Fanfiction, die zumeist auf Internetseiten gepostet wird und deren Veröffentlichung damit jedem, aber vor allem auch anderen Jugendlichen, zugänglich ist. Es gibt jedoch weitaus mehr wissenschaftlich interessante Literatur, die von Jugendlichen verfasst wurde ein Beispiel hiervon ist der sogenannte "Schulhausroman".
Beim "Schulhausroman" handelt es sich um ein Projekt, das in der Schweiz von der Kulturwissenschaftlerin und Lektorin Gerda Wurzenberger sowie dem Autor und Kolumnist Richard Reich begonnen wurde. In ihrem Buch "Intermedialer Style. Kulturelle Kontexte und Potenziale im literarischen Schreiben Jugendlicher" beschreibt Wurzenberger selbst das Projekt Schulhausroman auf die folgende Art und Weise: "Schulhausromantexte (in der Folge SR-Texte genannt) sind Texte, welche von Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und sechzehn Jahren geschrieben werden. Es handelt sich bei diesen mehrheitlich um sogenannt bildungsferne Jugendliche, und das bedeutet, dass sie die Anforderung, welche die Schule im Hinblick auf Sprache und Schreiben stellt, in der Regel nicht ausreichend erfüllen können." Wegen der ursprünglichen Verortung in der Schweiz handelte es sich bei den Autor*innen zunächst um Schüler*innen der Sekundarstufe I, auch als Sekundarschule bekannt.
Inzwischen jedoch gibt es das Projekt nicht nur in verschiedensprachigen Teilen der Schweiz, sondern auch in Österreich, Frankreich und Deutschland. In Deutschland werden die Schulhausroman-Projekte vom Literaturhaus Bremen, dem Kunsthaus Strodehne in Brandenburg und dem Literaturhaus Hamburg durchgeführt.
Das Ziel der folgenden Arbeit ist es, Schulhausromane zu analysieren, die alle aus dem Schulhausroman-Katalog des Literaturhauses Hamburg gewählt wurden. Dies dient dazu, die Texte geographisch konsistent zu verorten und damit den Vergleich zu vereinfachen, da dadurch keine Unterschiede in der Lokalität beachten werden müssen. Zweck der Analyse ist es, Motive in den ausgewählten Schulhausromanen zu erarbeiten und diese miteinander zu vergleichen, um ein tieferes Bild des Schulhausromans als Literatur von und für Jugendliche zu schaffen. Dafür wurden Texte gewählt, die inhaltlich bereits deutliche Ansätze für einen Vergleich bieten, wie sich im Folgenden zeigen wird.
Zunächst wird im Theorieteil der kollaborative Autorschaftsbegriff geklärt werden, da diese besondere Art der Autorschaft den Schulhausroman von anderen Texten abhebt und damit essentiell für die Analyse ist. Danach wird auf den Begriff der Lebenswelt eingegangen, denn Literatur von und für Jugendlichen hebt sich besonders dadurch hervor, dass eben jene Lebenswelt der Jugendlichen Autor*innen der ihres Zielpublikums ähnelt und sich diese damit auf einzigartige Art und Weise identifizieren können. Daraufhin wird der Begriff der Intermedialität erörtert, da die von ihnen konsumierten Medien einen starken Einfluss auf die Texte von Jugendlichen haben. Schließlich werden die fünf Schulhausromane "Die Rache der Liebe" und "Liebe ist unsterblich" aus dem Jahr 2011, "Eine tödliche Lüge" aus dem Jahr 2022, "Ghettoromantik" aus dem Jahr 2023 und "The trouble way to jail 3 Ticket to H-Sand" aus dem Jahr 2019 auf den theoretischen Erläuterungen aufbauend analytisch erschlossen. Dabei fokussiert sich die Analyse auf die Themen "Gender" und "Class". Am Ende der Analyse werden die fünf Romane miteinander verglichen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszustellen, und schließlich ein Fazit aus der Analyse gezogen.
Seelen-Trash und Ding-Magie : zur Integration des Kitsches bei Gustave Flaubert und Orhan Pamuk
(2022)
Man lese: "Sie schauten einander in die Augen. Ihre trockenen Lippen zitterten in unsäglichem Verlangen und widerstandslos, ohne ihr Zutun verschlangen sich ihre Finger". Oder dies: Mein Oberarm "brannte nur so durch die Berührung. Ich starrte zwar auf den Bildschirm, doch meine Seele drang in die Seele" der Geliebten "ein". Wenig später heißt es: "Wir liebten einander mit immer größerer Lust, in der allmählich alles aufging, unsere Vergangenheit, unsere Zukunft, all unsere Erinnerungen". Entstammen diese Zeilen etwa Romanen wie "Wenn das Herz spricht" oder "Herzen in Aufruhr" (Marie Louise Fischer) oder "Was Gott zusammenfügt" (Hedwig Courths-Mahler)? Weit gefehlt - es handelt sich um Passagen aus Romanen der Weltliteratur, von Gustave Flaubert bzw. Orhan Pamuk. An ihrem Beispiel sei im Folgenden die Rolle des Kitsches in (post-)avantgardistischer Dichtung beleuchtet. Gegen Ende des Romans "Museum der Unschuld" (2008), der sich als "ausführlicher Katalog" des gleichnamigen realen Museums in Istanbul versteht, weist Pamuks unglücklicher Held Kemal einen Bekannten, den "eifrigen Geschichtenerzähler" Orhan Pamuk, der das Katalog-Buch zum Museum schreiben soll, auf Flaubert hin, dessen Madame Bovary von seiner Geliebten Louise Colet inspiriert worden sei, sowie darauf, dass Flaubert beim Schreiben intime Dinge jener Louise ("eine Locke, ein Taschentuch und ein Pantöffelchen") zur Hand nahm und sie liebkoste. Die Fixierung auf die Dingwelt verschleiert in diesem Fall eine viel tiefer gehende, strukturale Verwandtschaft dieser beiden Romane. Obgleich ihr Handlungsplot ganz verschieden ist, erzählen sie beide von trivialpoetischen Selbsterzählungen, die, weil sie nicht mit solchen anderer verständigt sind, ins Unglück führen und mit dem Selbstmord einer jungen Frau enden. Wenn also der Ton des Erzählers in beiden Fällen zuweilen die Grenze des Kitsches streift, liegt das daran, dass er die kitschigen, kolportagehaften Züge in den Selbsterzählungen der Protagonisten, das heißt Flauberts Emma Bovary und Pamuks Kemal Basmaci, herauspräpariert. So verschieden diese Romanfiguren: eine frustrierte Arztgattin in normannischer Provinz des 19. Jahrhunderts, ein reicher Jungunternehmer im Istanbul des späten 20. Jahrhunderts, auch sind, in einem konvenieren sie: ein Kolportageroman in ihrem Kopf stürzt sie ins Unglück, lässt sie ihr Leben versäumen.
Ausschlaggebend für die steigende Relevanz des Popularitätsdiskurses insbesondere im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sind vor allem Johann Gottfried Herders vielschichtige Bemühungen um eine Aufwertung der Volkspoesie. Seine Versuche, Volkskultur in das Feld der Hochkultur zu inkludieren, indem er das Volk als Trägerschicht einer natürlichen Form von Dichtung konstituiert, führen zu einer neuen Betrachtung des Populären, die auch literaturpolitische Folgen birgt. Bisher kaum in den Blick geraten ist die Gegenkategorie des nun positiv konnotierten Popularitäts- und Volksbegriffs, ohne die der Aufstieg des Populären nicht beschreibbar ist. Denn nach wie vor gibt es den unvernünftigen, vulgären und damit abzulehnenden "Pöbel auf den Gassen", und dieser, das macht bereits Herder deutlich, "singt und dichtet niemals, sondern schreyt und verstümmelt". [...] Die zunehmend deutlich werdende Trennung zwischen dem 'guten', moralischen Volk, dessen kulturelle Erzeugnisse aufgewertet werden, und dem unmoralischen Pöbel mitsamt dem nach wie vor abzulehnendem Vulgären ist bisher weitestgehend unerforscht. Dabei entfacht diese Trennung in den Jahren um 1800 eine zusätzliche Dynamik, wie sie sich beispielsweise in der Schiller-Bürger-Kontroverse spezifiziert. [...] In den Verhandlungen um wünschenswerte und abzulehnende populäre Literatur ist es vor allem Friedrich Schiller, der den Diskurs nachhaltig beeinflusst. Und doch wurden Schillers ästhetische Schriften bisher kaum im Hinblick auf die Populärkulturforschung oder die Differenzierung von Hoch- und Volkskultur gelesen. Schiller scheint eine Schlüsselfunktion in den Reflexionen um die Voraussetzungen und Chancen populärer Kunst zuzukommen, welche weit über die Schiller-Bürger-Kontroverse hinaus reicht. In den ästhetischen Abhandlungen der 1790er-Jahre sind Fragen der Popularität immer wieder präsent und geben Anlass, Fragen rund um Massentauglichkeit, literaturpolitische Strategien und ästhetischen Anspruch zu verhandeln. Auch für Friedrich Schiller, insbesondere in seiner Rolle als Volkserzieher, ist schließlich ein gewisser Erfolg in der Masse unentbehrlich. Für eine erste, isoliert betrachtete Analyse soll Schillers, Aufsatz "Über naive und sentimentalische Dichtung" herangezogen werden. Insbesondere im dritten Teil der Abhandlung, "Über die beiden Abwege naiver und sentimentalischer Poesie", wirft Schiller dezidiert einen Blick auf gescheiterte, und zwar naive wie sentimentalische Literatur, wobei er auf die Ursachen, warum ästhetisch wie moralisch minderwertige Literatur dennoch Popularität generieren kann, ebenso eingeht wie auf die daran beteiligten Akteure. Der folgende Text versteht sich keineswegs als umfassende Analyse von Schillers "Über naive und sentimentalische Dichtung", sondern möchte vielmehr ein Schlaglicht auf Friedrich Schillers argumentative Aushandlungen um wünschenswerte und abzulehnende populäre Literatur werfen. Ein besonderer Fokus soll dabei auf den Fragen nach den Strategien liegen, mit denen Schiller über Exklusion und Inklusion einzelner literarischer Akteure entscheidet. Wer ist Adressat dieser (Ab-)Wertungen und Ausgrenzungen? Wie werden diese Wertungen legitimiert und wie versucht Schiller damit, gewohnte Strukturen (das heißt Strukturen, in denen er über Deutungshoheit verfügt) zu stabilisieren? Besonders interessant zu sehen ist dabei, wie die Popularität der vermeintlich minderwertigen Literatur Schiller und die geringere Popularität seiner literarischen Artefakte unter Rechtfertigungsdruck setzt, wie er mit diesem umgeht und welche Anschlusskommunikation sich daraus ergibt.
Carl Schmitt (1888–1985) wird heute als Jurist wie als historischer Akteur - 'Kronjurist' des Weimarer Präsidialsystems wie des Nationalsozialismus - weltweit extensiv und intensiv diskutiert. Es ist bekannt, dass Schmitt vor wie nach 1945 zu autobiographischen Legenden und Mystifikationen neigte: Er argumentierte in historischen Parallelen und verglich seine Stellung und Rolle mit 'klassischen' Autoren wie Thomas Hobbes oder auch Donoso Cortés. Intensiv rezipierte er seit früher Jugend Dichtung, suchte den Kontakt zu Künstlern und bewegte sich auch in der Bohème. Der folgende Text analysiert eine zentrale autobiographische Spiegelung und apologetische Legende: Schmitts Hamlet-Identifikation. Er betrachtet Schmitts Büchlein "Hamlet oder Hekuba" von 1956 als eine autoritative Leseanweisung an das Publikum und kritisiert die Identifikation mit Hamlet und König Jakob. Schmitts Mystifikationen changieren zwischen tagträumerischer Phantasie und strategischen vergangenheitspolitischen Legenden. [...] Sein hermetischer Text wurde bislang kaum verstanden, weshalb die folgende Analyse der Legende strikt folgt und sie in manchen Konsequenzen vielleicht wörtlicher dechiffriert, als Schmitt es beabsichtigt haben mag. [...] Schmitts Hamlet-Identifikation ist aber die zentrale Botschaft der Schrift. Das rechtfertigt ein pedantisches Vorgehen. [...] Der folgende Text geht von dem Befund aus, dass Schmitt mit seiner Hamlet-Deutung den "Einbruch" des Nationalsozialismus in sein Leben reflektierte und seine Rolle im Nationalsozialismus in hermetisch-apologetischer Form thematisierte. Auch seine exoterischen Erklärungen der Hamlet-Schrift sind demnach Ablenkungsmanöver: die halböffentliche Rede "Was habe ich getan?" von 1956 sowie der Aachener Vortrag "Hamlet als mythische Figur der Gegenwart" von 1957. Der Aachener Vortrag thematisiert, Überlegungen zum "Genie-Kult" und zur Dialektik von Psychologisierung und Historisierung weiterführend, die "bürgerliche" Psychologisierung des Hamlet-Mythos in repolitisierender Absicht und generalisiert das Intellektuellen-Problem, das Schmitt mit Hamlet betont: ein "Mißverhältnis von Denken und Tun". Wichtiger ist aber die Frage, ob das überhaupt Schmitts Problem war.
Der Prosaband "Die Stadt Ys" erschien 2007. Er ist nach den Romanen "Rosa" (2000) und "Heldenfriedhof" (2006) Harlans letzte Prosaveröffentlichung, an deren Herausgabe er selbst mitwirkte und deren Druckfassung er autorisierte. [...] Über die zumeist kleinformatigen Kurzgeschichten ist Harlans perturbatorische Erzählweise eher zugänglich als über die erheblich großformatigeren Geschichten im letzten der drei Teile des Prosabands oder gar über die Iyob-Geschichte im mittleren Teil oder die Romane. Daher hat die Untersuchung der Kurzgeschichten hinsichtlich der folgenden Texte eine propädeutische Funktion. Sie zeigt auf dem Weg eines close reading, mit welchen erzählerischen Mitteln Harlans Text Leser:innen, die kohärente, sukzessiv-linear zu lesende Texte erwarten, extrem verwirren und hilft auf diese Weise vielleicht, diese Verwirrung nicht nur zu tolerieren, sondern den Blick freiwerden zu lassen für die staunenswerte Virtuosität dieser Texte.
Die Wege der Theoriegeschichte sind zwar nicht unergründlich, mitunter jedoch verschlungen genug, um an ihnen irre zu werden. Im Fall Heideggers betrifft dies vorderhand die Debatte um seine Verbannung aus dem philosophischen Curriculum, die Frankreich seit langem, Deutschland erst seit der Publikation seiner 'Schwarzen Notizhefte' 2014/15 beschäftigt. [...] Wollte man aber Heideggers Philosophie als von Grund auf nationalsozialistisch verwerfen, dann wäre es wohl konsequent, auch seine offiziellen und inoffiziellen Schüler:innen aus den Curricula zu streichen, etwa Rudolf Bultmann, Hannah Arendt, Jean-Paul Sartre, Jacques Lacan, Maurice Merleau-Ponty, Hans-Georg Gadamer, Günther Anders, Paul Ricoeur, Michel Foucault, Jacques Derrida, Emmanuel Levinas, Giorgio Agamben - womit evident der Pfad jeder sinnvollen Theoriegeschichte verlassen wäre. Davor, dass es sich bei der Konjunktur insbesondere der genannten französischen Theoretiker in den deutschen Geisteswissenschaften spätestens seit den 1980er Jahren lediglich um Re-Import, also Heimkehr des via Frankreich 'gereinigten' deutschen Irrationalismus handle, hat Manfred Frank bereits 1988 gewarnt: "Mir scheint, hier saugen die jüngeren Deutschen begierig, unter dem Vorgeben der Öffnung ins Französisch-Internationale, ihre eigene nach dem Dritten Reich unterbrochene irrationalistische Tradition wieder ein". Indes besteht immer auch die Möglichkeit - nach Heidegger und seinem Gewährsmann Hölderlin sogar die Notwendigkeit -, dass der von zu Hause Fortgegangene als ein anderer, fern der Heimat Gewandelter wiederkehrt, wie auch, dass die Heimat, in die er zurückkehrt, nie dieselbe ist, die er zurückgelassen hat. Um die Frage nach Heimkunft und Rückkehr in ihrer strukturellen, logischen und poetischen Dynamik mit derjenigen nach Heideggers philosophischem Erbe zu verknüpfen, mag es also angehen, noch einmal auf ihn zurückzukommen, und zwar anhand eines Textes, der seinerseits zu Friedrich Hölderlin zurückkehrt; genauer: zu dessen berühmter Elegie "Heimkunft/An die Verwandten", deren biographischen Anlass die Heimkehr des Dichters nach seiner erneuten Entlassung als Hauslehrer im Frühjahr 1801 bildet. Die Rede ist von Heideggers gleichfalls "Heimkunft/an die Verwandten" betitelter Gedenkrede zu Hölderlins 100. Todestag, gehalten im Juni 1943 in der Aula der Universität Freiburg und gedruckt 1944 in den Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Dabei kommt es auch auf die Datierung beider Texte an: Hölderlins Elegie bezieht sich auf den Frieden von Lunéville am 9. Februar 1801, der den Zweiten Koalitionskrieg des alten Reiches und seiner Verbündeten gegen Frankreich beendet und dessen freudige Botschaft Hölderlins Gedicht dem heimischen Nürtingen übermittelt - ein poetischer Triumphzug also, wenigstens auf den ersten Blick. Heideggers Rede kommt auf diesen dichterischen Triumph zurück, nur wenige Monate nach der Schlacht um Stalingrad, als Weltkrieg und Drittes Reich verloren sind und die einzigen, die (wenn überhaupt) heimkehren, traumatisierte und versehrte Soldaten.
Verschwörungen sind in aller Munde, allem Anschein nach auch in immer mehr Köpfen. Eine "anthropologische Konstante", wie immer wieder behauptet wird, ist das Verschwörungsdenken jedoch keineswegs. Vielmehr muss es als eine dezidiert moderne Denkform charakterisiert werden. Der Ursprung dieser Denkform ist historisch ziemlich genau auszumachen: Das Aufkommen eines Denkens in oder von Theorien über Verschwörungen fällt zusammen mit dem Aufkommen der Aufklärung. Es ist der Schatten aufklärerischen Fortschritts. Urform des modernen Verschwörungsglaubens - welche spezifische Form er auch immer annehmen mag -, ist dabei der Glaube an die freimaurerische Weltverschwörung, wie er sich beinahe zeitgleich mit dem Aufkommen der Freimaurerei zu Beginn des 18. Jahrhunderts bildete. Ebenso wie die Organisation der Freimaurerei insgesamt geht er zugleich auch auf ältere Quellen zurück. [...] Historisch bildete sich Verschwörungsangst als Reaktion auf die Kultur des Arkanen aus, durch die sich die Freimaurer in der Frühzeit ihrer Organisation gegenüber der absolutistischen staatlichen und kirchlichen Macht absicherten. Diese historische Realität freimaurerischer Geheimniswahrung aber war für das Verschwörungsdenken von allem Anfang an immer nur äußerer Anlass. Seine wirklichen Motivationen liegen woanders.