830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Die Vorstellung vom Sehen als körperinnerem, kognitivem Prozess erlaubte es zum einen die Außenwelt als von der Wahrnehmung unabhängig und damit Geister als existent zu imaginieren. Zum anderen löste sie literarische Suchbewegungen nach dem Möglichkeitsspektrum des Sehens aus, wie die Robert Musils in den 1910er Jahren. Burkhardt Wolf beschreibt dessen literarische Experimente als Fortsetzungen seiner experimentalpsychologischen Sehversuche: In "Monsieur le Vivisecteur" befasst er sich damit, wie man die vorschnellen Assoziationen des Auges zügeln könne; in der Novellensammlung "Drei Frauen" ging es ihm um Störungen des Funktionsfeldes von Wahrnehmung, Gefühl und Weltbezug. Für beide Auseinandersetzungen mit dem Sehen im Text waren Musils Wahrnehmungsversuche am Tachistoskop entscheidend. Insbesondere der Text "Das Fliegenpapier" lässt erkennen, wie sehr der Impuls für Musils Schreiben in der Störung des Sehens lag. Seine Texte können somit, so Wolf, als fiktionale Sehversuche, als Experimentalanordnungen des Sehens aufgefasst werden.
Mystische Blendung : zu Gustav Theodor Fechners Selbstversuchen und seinem panpsychistischen System
(2005)
Vielleicht könnte man behaupten, daß im Fall Fechner die humanwissenschaftliche Erkenntnisbeziehung modellhaft zum Vorschein kommt, modellhaft nämlich in ihrer, wie Michel Foucault sagt, doppelten Qualität, "gleichzeitig gefährlich und gefährdet" zu sein, und in ihrer Eigenart, den Menschen als ihre Möglichkeitsbedingung und ihren positiven Gegenstand auszuzeichnen, als "Subject und Object der inneren Erfahrung zugleich", wie es in den Elementen der Psychophysik (1860) heißt. Fechner entwickelte als erblindeter Selbstbeobachter nicht nur eine Theorie über die Blindheit als solche, sondern über die an und für sich: die Blindheit des Sehens für seine eigenen Möglichkeitsbedingungen, die eine Blindheit des denkenden Ichs beim Denken seiner selbst vorstellt. Dem Auge, das ohne Vermittlung oder prothetische Unterstützung sich selbst nicht erblicken kann, kommt hierfür in doppelter Hinsicht eine Schlüsselfunktion zu. Denn was sowohl dem anschaulichen als auch dem begrifflichen Denken undenkbar bleiben muß, obschon es erkannt werden soll, wird zu einem Gegenstand von Dichtung oder Experimentalwissenschaft.