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Psychiatrie
(2016)
In der Psychiatrie hat die Prognose über den Verlauf und den Ausgang von Erkrankungen eine Schlüsselstellung inne. Sie verknüpft die Erkenntnis, welche Ursachen eine Erkrankung besitzt, und die Frage, welche Therapie geboten ist, mit einem Wissen, wie die Krankheit verlaufen und ausgehen wird. Jedoch stehen einer Vorhersage der Zukunft zahlreiche Hindernisse entgegen, die einerseits in der Kontingenz des Lebens selbst, der Individualität der Patienten oder auch der Ungewissheit, ob und wie Therapien anschlagen, liegen. Jedoch ist in der Psychiatrie eine Prognose schwierig, weil vielfach unklar ist, was eine Krankheit überhaupt ist, welche Ursachen sie besitzt und wie sie von anderen Krankheiten zu unterscheiden ist. Dennoch entsteht im 19. Jahrhundert ein unmittelbarerer Nexus von Diagnose und Prognose, der den epistemologischen Kern der Psychiatrie definiert. Im 20. Jahrhundert wird der Nexus von Diagnostik und Prognostik auf neue Weise gefasst. Die Psychiatrie wird zu einer Zukunftswissenschaft, die nicht mehr nur vorhersagt, wie eine Krankheit, Erkrankung oder Störung verlaufen und ausgehen wird. Vielmehr schafft sie ein neuartiges Verständnis dafür, was psychische Gesundheit sei und nimmt insbesondere das Verhältnis von manifester, akuter Erkrankung und zukünftiger, wahrscheinlicher Erkrankung in den Blick.
Meteorologie
(2016)
Die Wetterkunde setzt sich aus vier Tätigkeitsfeldern zusammen: Datensammlung, Modellentwicklung, Prognostik und Wettersteuerung. Die Vorhersage zukünftiger Wetterereignisse stellt mithin nur eines von mehreren Aufgabengebieten dar. In ihrer Geschichte verlief die Entwicklung der vier Felder lange Zeit weitgehend separat. In den Agrar- und Seefahrergesellschaften der Antike führten Stadtverwaltungen und Tempel kalendarische Aufzeichnungen über alle Arten von Himmelsereignissen. Kosmologische Modelle wurden in der Naturphilosophie entworfen. Aristoteles unterschied dabei den Gegenstandbereich der 'Uranologie', die sich mit feststehenden Körpern wie Fixsternen und sich regelmäßig bewegenden Körpern wie Planeten beschäftigt, von dem der 'Meteorologie', die es mit singulären oder unregelmäßigen Ereignissen wie den Witterungserscheinungen zu tun hat. Für Prognosen in diesem Bereich stützte man sich auf Erfahrungswerte und ein Denken in Wenn-dann-Strukturen: Das Auftreten oder Ausbleiben von Himmelsphänomenen oder ihrer Kombination und das Verhalten von Pflanzen und Tieren zu bestimmten Tageszeiten wurde als Anzeichen für zukünftige Wetterereignisse gedeutet. Dieses Wissen bezog sich allein auf die alltägliche Nutzanwendung und war nicht an Erklärungen interessiert. In der Antike muss deshalb nicht die Meteorologie, sondern die Wetterprophetie als das wetterkundliche Zukunftswissen gelten. Die Mittel zur Beeinflussung des Wetters schließlich bestanden in Zaubern und Gebeten.1 An dieser Trennung der verschiedenen Tätigkeitsfelder der Wetterkunde änderte sich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit kaum etwas.
Politische Arithmetik
(2016)
Quantitative Methoden markieren somit von Anfang an den methodischen Kern der politischen Arithmetik. Darüber hinaus gehen Erkenntnis und Regulierung eine feste Verbindung ein. Politische Arithmetik zielt nicht nur auf ein 'Wissen' von der Bevölkerung, sondern ebenso auf die 'Steuerung' der zukünftigen Bevölkerungsentwicklung. Damit geht es sowohl um die 'Vorhersage' als auch um die 'Herstellung' der Zukunft. Im bevölkerungswissenschaftlichen Dispositiv verbinden sich epistemische und operative Aspekte.
Astrologie
(2016)
Die Astrologie stellt bis heute die populärste und bekannteste Disziplin des Zukunftswissens dar, ist sie doch über Tages- und Wochenhoroskope unmittelbar mit der Prognose künftiger Ereignisse befasst und als solche im alltäglichen Mediengebrauch präsent. Und obwohl sie mit den okkulten Praktiken der Esoterik, Mantik, Alchemie oder dem Tarot assoziiert wird, erfreut sie sich im westlichen Kulturkreis wachsender Beliebtheit. Während populäre astrologische Weissagungen nicht zuletzt durch die Lehre der Tierkreiszeichen allgegenwärtig sind, ist meist unbekannt, dass die Anfänge der Astrologie weniger individualprognostischer als ökonomischer und politischer Natur waren.
Posthumanismus
(2016)
Dass "der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand", war 1966, als Michel Foucault 'Les mots et les choses' mit dieser Prognose eines dritten epistemischen Bruchs der abendländischen Diskursordnung beschloss, kaum noch eine Provokation. Die nur zu gezielt missverstandene Rede vom "Tod des Menschen" war keineswegs so neu, wie Kritiker des von der Diskursanalyse angeblich beförderten 'Antihumanismus' glauben machen wollten: Diagnosen wie diejenige von Oswald Spengler, "der faustische Mensch" sei "zum Sklaven seiner Schöpfung geworden", oder Günther Anders’ "Frage der Verwandlung oder Liquidierung des Menschen durch seine eigenen Produkte" gehörten angesichts von Massenvernichtungswaffen, kybernetischer Modellbildung und Reproduktionsbiologie zum festen Inventar eines kulturpessimistischen Diskurses im 20. Jahrhundert, der zu Beginn des 21. folgerichtig in Francis Fukuyamas Ankündigung einer 'Posthuman Future' mündete, in der Genmanipulation und Neuropharmakologie die natürlichen Grundlagen von Ethik, Menschenrechten und Demokratie zerstören werden.
Klima
(2016)
Einer der ältesten Gegenstände der Zukunftsprognose ist das Wetter. Als "Bühne der Götter", von der aus sich gleichermaßen Strafgerichte, Prüfungen und Geschenke über die Menschen ergießen, ist Wetter das Paradigma einer ungewissen Zukunft, an die sich gerade darum bestimmte Wissensformen und Praktiken der Prädiktion knüpfen: Wetterorakel, Lostage, Almanache mit Wetter-Regeln oder auch Prophezeiungen wie die von den sieben fetten und sieben mageren Erntejahren, die Joseph dem Pharao weissagt (1. Mose 41). Während die Antike diesen Techniken mantischer Wettervorhersage eine große Zuverlässigkeit zuspricht, ist mit der Verwissenschaftlichung modernen meteorologischen Wissens die empirisch belastbare Vorhersage kurz- und mittelfristiger Wetterereignisse außerordentlich schwer geworden. Anders das Klima: "Climate is what we expect, weather is what we get". Klima ist Durchschnitt, Dauer und Regelmäßigkeit, Wahrscheinlichkeit und Wiederkehr: der Zyklus der Jahreszeiten, die Erwartbarkeit von Niederschlägen, Temperaturen und Winden, die Häufigkeit bestimmter Wetterverhältnisse in einer gegebenen Region. Es bewegt sich in einem Raum der Extrapolationen, Wahrscheinlichkeiten und Durchschnittsbildungen zwischen Einzelereignissen, deren kontingentes Auftreten in statistische Häufigkeit umgerechnet wird. So wird aus Regentagen eine bestimmte Niederschlagsmenge, aus Wärme- und Kälteperioden werden Temperaturkurven, aus desaströsen Stürmen jahreszeitlich wechselnde Windperioden.
Worst case
(2016)
Die Rede vom 'worst case' ist appellativ; sie tendiert zum Alarmismus und drängt zur Entscheidung. Die beschworene Möglichkeit katastrophaler zukünftiger Ereignisse erzeugt Handlungsdruck und Ordnungseffekte im Hier und Jetzt. Sie ist nie allein Warnung, sondern immer auch Aufforderung, dem drohenden 'worst case' um jeden Preis zuvorzukommen. Der Imperativ lautet, mit dem Hereinbrechen des Unerwarteten, Unvorstellbaren zu rechnen und ihm mit allen Mitteln entgegenzuwirken. Genau hier liegt das Problem. Gezieltes präventives Handeln erfordert verlässliches Wissen; doch dieses ist für den 'worst case' prinzipiell nicht verfügbar. Der schlimmste vorstellbare (Un-)Fall ist präzedenzlos, eine drohende radikale Diskontinuität. In Ermangelung von Erfahrungswissen ist alles, was über ihn gewusst werden kann, Wissen im Konjunktiv.
Überleben
(2016)
Der Begriff des Überlebens hat im 20. Jahrhundert eine steile Karriere erlebt, die es rechtfertigt, von ihm als einem neuen geschichtlichen Grundbegriff zu sprechen. Eine besondere Auffälligkeit ist dabei die Veränderung des Zeitsinns dieser Kategorie, die nicht mehr nur retrospektiv, sondern zunehmend auch prospektiv in Form der Antizipation drohender Gefahren verwendet wird. Der sachliche Grund für diese semantische Innovation liegt in der – im Zusammenhang mit neuen Formen politischer Herrschaft und technologischer Entwicklungen gemachten – Entdeckung von Neben- und Spätfolgen, die über den Horizont der Gegenwart hinausreichen. Die Futurisierung des Überlebensbegriffs zeigt ebenso wie das neue Schlagwort der 'Überlebensgesellschaft' an, dass am Eingang in die Spätmoderne das Verhältnis von Mensch und Natur, Vergangenheit und Zukunft, gegenwärtigen und kommenden Geschlechtern grundsätzlich prekär geworden ist.
Manifest
(2016)
In der Frühphase der Französischen Revolution zeigt sich [...] eine Zäsur in der historischen Betrachtung von politischen Texten, die sich als Manifeste ausweisen: Die Vergangenheitsorientierung wird zum Anachronismus; erst durch die Ausrichtung auf Zukunft wird das Manifest zu einem zentralen Instrument politischer Kommunikation. Seit der Französischen Revolution wird in Manifesten Zukunft angekündigt und rhetorisch hergestellt. Das Manifest soll eine Mobilisierung hervorrufen, die das formulierte Programm realisiert. Dabei muss diese Zukunftsvorstellung nicht ausführlich entwickelt werden, häufig reicht es aus, sie anzudeuten und anzukündigen. Damit unterscheiden sich Manifeste von Utopien: Während die Utopie eine möglichst umfassende Fiktion einer zukünftigen Gesellschaftsform als Regulativ gegenwärtigen Handelns entwirft, begnügt sich das Manifest mit einer andeutenden Rhetorik des Futurischen und mit indexikalischen Zeichen, die das Neuartige, wenn auch nicht unbedingt Spezifizierte der Zukunft in der Gegenwart verankern. Diese Kopplung zwischen verheißener Zukunft und gegenwärtigem Handeln zeigt sich auch in der Etymologie: Der Ausdruck Manifest stammt vom lateinischen Verb 'manifestare' 'offenlegen', der Wortstamm verweist aber auch auf das Wort 'manus', ‚die Hand‘, so dass die Bedeutung 'handgreiflich machen' mitschwingt. Im Folgenden soll nicht versucht werden, die Gattungsform zu definieren oder eine Typologie der Manifeste zu entwerfen. Stattdessen geht der erste Teil des Beitrags auf einige historische Stationen der Geschichte des Manifests ein, worauf die folgenden beiden Abschnitte sich zwei konkreten Manifesten widmen: Karl Marx' und Friedrich Engels' 'Manifest der Kommunistischen Partei' (1848) und Bruno Latours 'An Attempt at a Compositionist Manifesto' (2010).
Science-Fiction
(2016)
Science-Fiction (SF) gilt seit dem frühen 20. Jahrhundert als dasjenige literarische, filmische und seit den 1960er Jahren zunehmend auch pop-kulturelle Genre, welches wie kaum ein anderes für die fiktionale Ausgestaltung der Zukunft zuständig ist. Und dennoch stand SF lange Zeit in dem Verdacht, eine ästhetisch anspruchslose und tendenziell machistische, wenn nicht offen sexistische, nationalistische und gewaltverherrlichende Unterhaltung für technikbegeisterte weiße Männer mittlerer Bildung und jüngeren Alters zu liefern. Die Literaturwissenschaft hat diese Einschätzung allerdings bereits seit längerem revidiert. So erschienen in den letzten Jahren mehrere Publikationen, die die Bedeutung von SF als "wide-ranging, multivalent and endlessly cross-fertilising cultural idiom" hervorhoben. Vor allem das zunehmende Interesse an den Übergangsregionen von Kunst und Wissen(schaft) hat dem Genre zu neuer kultur-, literatur-, film- und medienwissenschaftlicher Attraktivität verholfen. Dennoch bleibt SF nach wie vor eine genrepoetische und ästhetische Herausforderung, da das Verhältnis zu benachbarten Erzählformen wie Utopie/Dystopie, Horror und Fantasy umstritten ist, die historische Datierung der Gattungsgeschichte ungeklärt bleibt und die grundsätzliche Frage nach der Eigenständigkeit von SF als Genre bis heute Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen ist. Aus pragmatischen Gründen werden diese Themen im Folgenden ausschließlich anhand der 'literarischen' SF diskutiert.
Utopie
(2016)
Was unter dem Begriff Utopie und seinen Derivaten wie Dystopie, Anti-Utopie, Eutopie oder Heterotopie zu verstehen ist, ist Gegenstand einer langen und kontroversen Geschichte. Die Utopie wurde als literarische Gattung bestimmt, die eine alternative und ideale Gesellschaftsform im Modus der Fiktion zur Darstellung bringt, als Staatsroman, als eine Denkform, als eine Hoffnung, als Vorgriff und Apotheose einer totalitär organisierten Gesellschaftsform oder sie umfasst gar die Literatur als Ganze. Dementsprechend lässt sich ein Konsens über den Utopie-Begriff, wie Wilhelm Voßkamp bemerkte, am ehesten "unter negativem Vorzeichen" gewinnen, weshalb die von ihm herausgegebenen drei Bände zur Utopie-Forschung die dem Diskurs 'Utopie' zugeschriebenen Texte in ihren historisch-sozialen Kontexten untersuchten. Im Folgenden soll und kann es denn auch nicht um eine Bestimmung des Begriffs der Utopie selbst gehen, sondern um die Art und Weise, wie Utopien Zeitlichkeit und das heißt insbesondere Zukünftigkeit modellieren.
Rettung
(2016)
Der griechische Begriff 'soteria', der sich mit 'Rettung', aber auch mit 'Erlösung' übersetzen lässt, steht im Zentrum eines der Masternarrative zur Produktion von Zukunft in der abendländischen Kultur. Das Narrativ verpflichtet die Gegenwart, die Vergangenheit von einem Ursprung her ereignishaft zu strukturieren und auf einen mehr oder weniger genau bestimmten Punkt der Zukunft hin zu spannen, an dem jene Pflicht sich erfüllt haben wird. Die strukturierenden Ereignisse dienen dazu, die dramatische Spannung auf den Endpunkt hin aufrechtzuerhalten und diesen sowie den Weg und die Zeit zu ihm im Licht jener Ereignisse jeweils neu zu entwerfen.
Apokalypse
(2016)
Die Apokalypse ist eines der wirkungsreichsten Zukunftsnarrative der abendländischen Tradition. In Anlehnung an die neutestamentliche Johannes-Apokalypse bezeichnet das Wort die Offenbarung (von gr. 'apokályptein', 'enthüllen') der letzten (göttlichen) Wahrheit am Ende der Zeiten. Vom Moment der Enthüllung an ist die Zeit nicht mehr, was sie war: Sie wird in Ausblick auf das unausweichliche Zukünftige gedeutet und bekommt einen 'anderen' Sinn, der auf Vollendung hin ausgerichtet ist. Dieser Weltsicht entspricht der Glaube an die christliche Heilsgeschichte, deren Wesen und deren Verhältnis zur chronologischen Zeit im Rahmen der Eschatologie interpretiert und gedeutet wird (von gr. 'ta éschata', 'die letzten/äußersten Dinge', was in mehrere Richtungen zu verstehen ist).
Zeitreisender
(2016)
Mit dem Begriff Zeitreise wird die Vorstellung ausgedrückt, dass man sich durch die Zeit auf eine wie auch immer geartete Weise bewegen kann, indem man von einer Stelle zu einer anderen reist. Eine Zeitreise verbindet also zwei (oder mehr) Orte in der Zeit. Im weiteren Sinn wäre jeder Lebenslauf eine solche Reise vom Zeitort der Geburt bis zum Zeitort des Todes. Im engeren Sinn ist jedoch für Zeitreisen eine zeitliche Diskrepanz zwischen persönlicher Zeit und externer (äußerer, umgebender) Zeit zu veranschlagen: Obwohl ein Zeitreisender Minuten, Stunden oder Jahrtausende in der externen Zeit überbrücken kann, läuft seine persönliche Zeit, seine Lebenszeit kontinuierlich weiter.
Stratege
(2016)
Strategen sind Zukunftsautoritäten von besonderer Ausprägung. Ihr Zukunftswissen ist entschieden 'hierarchisch', insofern es sich auf die Leitung und Führung einer mehr oder weniger großen Gruppe anderer Menschen richtet, und es ist entschieden 'agonal', insofern es sich auf die Übervorteilung eines Gegners richtet. Beide Charakteristika stehen in einer notwendigen Wechselbeziehung miteinander: Die vom Strategen geleitete Menschengruppe wird mit dem Ziel geführt, eine gegnerische Gruppe zu besiegen, die ihrerseits zu demselben Ziel ebenfalls von einem Strategen angeleitet wird. In dieser Zielhaftigkeit liegt die wesentliche Zukünftigkeit strategischen Planens und Handelns; der Stratege will also immer Teleologe sein. Sein Ziel ist aber prinzipiell doppelt: einerseits das anvisierte 'target' einer konkreten strategischen Operation, andererseits der Erfolg, auf den diese Operation – oder die Summe mehrerer Operationen – letztlich hinführen soll. Die doppelte Zukünftigkeit des eher kurzfristigen Vorausplanens und der eher langfristigen Zielvorgabe stellt ein Kernproblem fast jeder Strategie dar.
Revolutionär
(2016)
Auch der Begriff des "Revolutionärs" entstand im Verlauf der Französischen Revolution. In seinem Artikel zur Bedeutung des Wortes 'révolutionnaire' schreibt der Marquis de Condorcet, ein Mensch sei revolutionär gesinnt, wenn er den "Prinzipien der Revolution anhängt, wenn er in ihrem Sinn handelt und bereit ist, sich für sie zu opfern." Daraus folgt eine weitreichende Bedeutungsverschiebung: Wie aus der Revolte die Revolution wird, so wird nun aus dem Aufrührer ein rechtmäßig Gewalt ausübender Revolutionär, aus den Gegnern der Revolution aber Konterrevolutionäre. Wie Florian Grosser ausführt, ist die Frage, wer überhaupt als revolutionäres Subjekt gelten kann, zentral für Theorien der Revolution. Dabei können die Besetzungen sehr unterschiedlich ausfallen: "die Ausnahmeerscheinung eines singulär geschichtsmächtigen 'Täters', eine revolutionäre 'Avantgarde', eine entrechtete Minderheit oder marginalisierte soziale Klasse, ein Volk, eine Mehrheit der '99 Prozent' oder eine offene, von klaren Zugehörigkeitskriterien unabhängige 'Multitude'".
Jugend
(2016)
Wie das Beispiel Nietzsches zeigt, ist die geschichtsphilosophische Bedeutung der Jugend eng mit der von Reinhart Koselleck beschriebenen Erfahrung der 'Sattel- Zeit' verknüpft. Die Jugend steht für die Einlösung jener paradoxen Erwartung einer Andersartigkeit der Zukunft, die vom beschleunigten Zeiterlebnis in der verstörenden Erfahrung der raschen Auflösung der bestehenden Lebensformen und der sich wiederholenden Brüche mit der Überlieferung bewirkt wurde. Bereits im Kontext der Französischen Revolution wurde gegen das Erbschaftsprinzip des Ancien Régime das Recht der Nachkommen auf eine autonome Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse proklamiert. In seinem Entwurf zu einer Erklärung der Menschenrechte (1793) schreibt beispielsweise Marie Jean Antoine de Condorcet: "Keine Generation hat das Recht, eine zukünftige Generation den eigenen Gesetzen zu unterstellen." Diese radikale Umstellung auf die Perspektive der Nachkommen, d.h. aber der jungen Generation, begründet jenen emphatischen Begriff von Jugend, der mit dem Entwurf einer anderen Zukunft assoziiert wird. Damit kann die Jugend als wesentlicher Bestandteil des aufklärerischen Fortschrittsnarrativs interpretiert und zu den großen Ideen der Französischen Revolution gezählt werden.
Projektemacher
(2016)
Projekte sind Versprechen auf die Zukunft. Wie eine Wette oder komplizierte Finanzprodukte arbeiten sie in einem Modus Operandi, der vorzugsweise dem Noch- Nicht, dem Als-Ob oder dem Könnte-Sein verpflichtet ist. Entworfen, initiiert und angepriesen werden Projekte heutzutage häufig von allgemein als 'Team' bezeichneten Gruppen oder einzelnen Personen, die sich sodann nicht ohne Stolz 'Unternehmer' oder 'Berater', 'Entrepreneur' oder 'Visionär' nennen. Bereits im 17. Jahrhundert war allerdings ein derartiger Typus von planvoller Zukunftsgestaltung bekannt, wobei man hier für die treibende Kraft des Vorhabens den Begriff 'Projektemacher' prägte. Im Folgenden geht es um die Heraufkunft und Entwicklung dieser Figur. Zunächst gilt es jedoch, den Gegenstand ihres Handelns, das Projekt, etwas näher zu beleuchten.
Prophet
(2016)
Propheten sind in der Moderne ein Anachronismus: Unsere Zukunft gilt als 'kontingent' und wird nicht 'vorhergesagt', wer 'Visionen' hat, so eine bekannte Äußerung Helmut Schmidts, der möge zum Arzt gehen, und der moderne Prognostiker wird betonen, dass er eben kein Prophet mehr ist. Der Prophet ist allenfalls ein Gegenbild. Das ist möglich, weil er eine lange Faszinationsgeschichte hat, in der ihm ein hohes Maß an Prägnanz und Wiedererkennbarkeit zugewachsen ist. Der Prophet ist eine echte 'Figur' der Zukunft: eine bestimmte Konfiguration des Umgangs mit und des Sprechens über Zukunft, die leicht zitierbar und zugleich hochgradig deutungsfähig ist. Dabei 'weiß' der Prophet die Zukunft nicht nur, sondern kann von diesem Wissen aus über die Gegenwart urteilen; er hat so etwas wie 'moralische Autorität', die mit Mahnung, Kritik, Trost und Appell assoziiert wird. Der Prophet, im Rahmen der Etymologie des griechischen prophetes am ehesten als 'Fürsprecher' zu übersetzen, spricht 'im Namen' einer höheren Wahrheit, er tritt als Bote eines höheren Wissens oder einer göttlichen Instanz auf, von der er auch sein Wissen von der Zukunft bezieht. Weil dieses Wissen exklusiv durch ihn vermittelt wird, hat er eine Verantwortung für dessen Übermittlung. Daraus resultiert oft eine Spannung: Einerseits ist der Prophet eine individuelle, unvertretbare Figur, andererseits Sprecher einer 'Sache', der er sich unterordnet. Diese Spannung hat sich kulturell als ausgesprochen produktiv erwiesen und bringt eine spezifische Rhetorik der Zukunft hervor, die bis in die Moderne hinein auch noch dort wirkt, wo der Prophet als Gegenbild beschworen wird.
Computersimulation
(2016)
Computersimulationen (CS) machen eine Bearbeitung, Berechnung und Beherrschung des Zukünftigen imaginierbar. Doch dies geht einher mit der Löschung der Zukunft als Imaginationsraum im traditionellen Sinne. CS übersteigen und radikalisieren bekannte und etablierte Verfahren zur Erzeugung von Zukunftswissen. Dazu gehören Gedankenexperimente ebenso wie mathematische oder materielle Modellanalogien, statistikgestützte Prognosen genauso wie laborwissenschaftliche Experimentalsysteme. Basierend auf den Rechenkapazitäten immer leistungsstärkerer Supercomputer integrieren sie die (Un-) Wahrscheinlichkeiten einer immer größeren Anzahl an Einzelereignissen zu immer komplexeren Szenarien. Deren Elemente, die nach Probabilitäten bewerteten individuellen Sonderfälle, waren noch der menschlichen Beobachtung und Imagination zugänglich. Letztere werden jedoch von CS unterlaufen, die solche Elemente als Versatzstücke zur Errechnung einer möglichen Wirklichkeit aggregieren. Und damit bereiten CS den Boden für die mittlerweile überall anzutreffenden Kulturen der Antizipation, des Risiko-Managements, der Preparedness.
Data Mining
(2016)
In öffentlichen Debatten ist bereits viel spekuliert worden, auf welche Weise soziale Netzwerke die Zukunft ihrer Mitglieder vorhersehen und planen können. Diese Frage kann jedoch ohne Rekurs auf die Dominanz der angewandten Mathematik und der Medieninformatik nicht ausreichend beantwortet werden. Denn beide Praxis- und Wissensfelder haben mit ihren stochastischen Analysetechniken von Nutzeraktivitäten die digitale Vorhersagekultur der Sozialen Medien im Web 2.0 erst ermöglicht, die es früher in diesem Ausmaß und Machtanspruch noch nicht gegeben hat.
Prävention
(2016)
Prävention bezeichnet eine Sorge um etwas, das noch nicht geschehen ist und auch nicht geschehen soll – aber könnte. Stets wird ein möglicher Schaden antizipiert, um ihn durch Anstrengungen im Hier und Jetzt zu verhindern oder abzuschwächen. Prävention aktiviert, indem sie beunruhigt und verunsichert. Sie meint eine Erwartungshaltung, die Handlungsdruck erzeugt. So wird eine Gegenwart hervorgebracht, die systematisch mit Abwesendem rechnet: Abwesende Erkrankungen, Unfälle, Katastrophen, Straftaten und Wirtschaftskrisen bevölkern den momentanen Augenblick. Kein Schaden ist unwahrscheinlich oder abwegig genug, als dass er nicht seinen künftigen Schatten auf gegenwärtige Entscheidungen werfen könnte. Die Gegenwart wird zum Resonanzraum für Ungeschehenes.
Weltkulturerbe
(2016)
In der 1972 verabschiedeten 'World Heritage-Konvention' der Unesco gelobt jeder der Unterzeichnerstaaten "Erfassung, Schutz und Erhaltung in Bestand und Wertigkeit des in seinem Hoheitsgebiet befindlichen […] Kultur- und Naturerbes sowie seine Weitergabe an künftige Generationen". So wie in dieser Formel, ist das Konzept des 'Erbes' auch sonst begriffs- und diskursgeschichtlich mit dem der intergenerationellen Übertragung verknüpft. Das gilt für alle drei Aspekte des Erbe-Begriffs, wie er sich – in eben dieser Dreigliedrigkeit – seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat: für die zivilrechtlich kodizifierte Eigentumsübertragung, für die biologische Weitergabe von Eigenschaften (bzw. deren Anlagen) und für die kulturelle Traditionsbildung. Was aber heißt es eigentlich, Praktiken der Weitergabe von 'Kultur' mit der Bezeichnung 'Erbe' zu belegen?
Planwirtschaft
(2016)
Wer heute von Planwirtschaft spricht, meint damit in aller Regel ein überlebtes ökonomisches System, das sich als zutiefst defizitär erwiesen hat. Selbst die radikalsten Kritiker einer neoliberalen Wirtschaftsordnung vertreten bei allen Rufen nach vermehrten staatlichen Eingriffen im Grunde nicht den radikalen Anspruch allumfassender Kontrolle und eben Planbarkeit des gesamten (wirtschaftlichen) Zusammenlebens, für den der Begriff der Planwirtschaft in seiner eigentlichen Bedeutung steht. Will man Planwirtschaft nicht einfach als gescheiterte Alternative zum Kapitalismus zu den Akten, sondern vielmehr ihre imaginative Kraft als eine Form besonderen Zukunftswissen offenlegen, so ergibt sich aus dem Gesagten daher die besondere Notwendigkeit eines historischen Zugriffs auf das Thema.
Experiment
(2016)
Das Experiment ist ein zentraler Bestandteil des neuzeitlichen Zukunftswissens, weil Zukünftigkeit ein wesentliches Element jedes Experiments darstellt. Experimente entfalten stets ihre eigenen chronotopischen Strukturen, in denen sich Planung, Organisation und Realisierung ihrer Vorhaben abspielen. Sie erstrecken sich in der Zeit, haben notwendig eine Dauer und entwerfen von der Gegenwart des Experimentators bzw. des Beobachters aus eine Vergangenheit und eine Zukunft. Während der Blick auf das Vergangene der Vergewisserung über das Vorhandene, Geleistete und Erworbene dient, ist die Perspektive auf das Zukünftige der Antriebsmotor des Unternehmens. Sie gibt den Experimenten eine Orientierung, wobei, soll die Forschung als eine explorative, nicht als eine bloß bestätigende erfolgreich sein, man nie vorher gewusst haben kann, was später einmal das Ergebnis gewesen sein wird. Die vorausliegende, von einem unvermeidbaren Nicht-Wissen geprägte Zeit spielt in Experimenten deshalb eine entscheidende Rolle, weil in ihr sich dasjenige befindet, auf welches das Verfahren zielt: das Hypothetische, das Neue. Experimenten kommt so auch eine prognostische Komponente zu: Sie blicken in eine eigene, selbstentworfene Zukunft, sie verheißen aber auch, einen effizienten Weg zum Wissen über und zur Gestaltung von Zukunft bereit zu halten.
Tiere
(2016)
Eine Geschichte des Zukunftswissens ließe sich ohne Tiere nicht schreiben. Zu oft haben sie sich vom "Pflock des Augenblicks", an den Nietzsche bekanntlich 'das' Tier mehr oder minder gewaltsam kettete, losgerissen (wenn sie denn überhaupt jemals dort stillstanden), um dem Menschen in verschiedenen Kulturen, Zeiten und Konstellationen die Zukunft zu bedeuten: Ob sich der indische 'Rig-Veda' direkt an den Kuckuck als wohlmeinenden "Weissagevogel" wendet oder gegen die Taube als "Unglücksvogel" ansingt, ob Tacitus vom germanischen Pferdeorakel berichtet, Dido in Vergils 'Aeneis' gebannt "auf die geöffneten Leiber der Opfertiere" blickt und ihre "noch zuckenden Eingeweide" befragt, oder der Pentateuch die Gräuel der anderen Völker auch darin erkennt, dass sie mithilfe von Schlangen die Zukunft deuten – stets sind es spezifische Tiere, mit denen durch verschiedene Techniken und in unterschiedlichen Narrativen ein sonst verwehrter Blick in die Zukunft ermöglicht werden soll. Und so soll es im Folgenden anhand des mehrfachen Auftritts von Vögeln zunächst um diese bis heute nachwirkende animale Mediengeschichte der Zukunft gehen, in der Tiere als be- und allererst zu deutende Zeichen(-Träger) der Zukunft entworfen werden – und als prekäre Medien der Zukunft diese gleichwohl beständig unterlaufen. Schließlich und viertens stellt sich jedoch auch die Frage nach dem Zukunftswissen der Tiere selbst, womit sie nicht mehr als Medien oder Inhalte der Zukunftsvorhersage erscheinen, sondern vielmehr selbst als antizipierende Zukunftsreisende auftreten.
Prodigien
(2016)
Gegenstand dieses Essays ist eine in der frühen Neuzeit weit verbreitete historische Kulturtechnik der Vorzeichendeutung, nämlich die Vorhersage der Zukunft aus Ereignissen oder Gegenständen, die nicht dem Lauf der Natur zu entsprechen scheinen. Der Oberbegriff für solche Abweichungen lautet zeitgenössisch Praesagium, oder, häufiger, Prodigium, das sich von dem Verbum defectivum 'aio', 'sagen', ableitet. Es geht demzufolge um im Gegenstand selbst befindliche Vorhersagen, die direkt oder indirekt auf Gott zurückgehen. Mit Prodigien werden meist ungewöhnliche Veränderungen im gestirnten Himmel bezeichnet, worunter z.B. das Auftauchen von Kometen oder Meteoren, aber auch Devianzen vom Lauf der Natur auf der Erde gehören, wobei unter Letzteren vor allem – und darum soll es hier besonders gehen – Monstren, also Missgeburten bei Tieren und Menschen, gefasst werden.
Mantik
(2016)
Die etymologischen Wurzeln der Mantik liegen im Umkreis der griechischen Orakel, in der 'manteía', der Weissagung, und im 'mántis', dem Seher. Hiervon ausgehend bezeichnet Mantik zunächst einmal ein prärationales Bewusstsein von Wirklichkeit. Es handelt sich dabei nicht zwingend um das Bewusstsein eines zukünftigen Geschehens (die mantisch wahrgenommenen Sachverhalte können ebenso gut auch in einer verborgenen Vergangenheit liegen), in jedem Fall aber um das Bewusstsein eines Geschehens, das erst noch Wissen werden muss, in jedem Fall also ein 'zukünftiges Wissen' ist.
Teleologie
(2016)
Im Begriff der Teleologie (τελος, griechisch für 'Ende', 'Grenze', 'Ziel') verbindet sich die Zukunft mit der Gegenwart auf eine eigentümliche Weise: Das, was kommen wird, bestimmt das, was ist; die Zukunft gibt der Gegenwart eine Richtung, eine Form. Aristoteles spricht mit Blick auf diese formative Wirkung der Zukunft auf die Gegenwart von einer 'causa finalis', einer Zweckursache; Christian Wolff führt dafür im Jahr 1728 den Begriff der Teleologie ein. Aristoteles konzipiert die 'causa finalis' im Rahmen seiner 'Physik'; Wolff entwirft die Teleologie als zentrales Element einer Naturphilosophie. Teleologische Konzepte beziehen sich also auf die Erscheinungen der Natur, spätestens seit Immanuel Kants 'Kritik der Urteilskraft' (1784) und der dort vorgenommenen Verknüpfung von Teleologie und Organologie noch spezifischer auf die Erscheinungen der 'belebten' Natur. Spricht man von der Teleologie, dann geht es also nicht so sehr um die Ziele, die ein Mensch gegenwärtig haben und an deren zukünftiger Verwirklichung er arbeiten kann, sondern um 'naturimmanente' Zweckursachen, um die teleologische Struktur des Lebens selbst. Die Theoriegeschichte des teleologischen Denkens ist deshalb untrennbar mit der Geschichte der Biologie verbunden, wobei die Debatten um die biotheoretische Notwendigkeit bzw. Nutzlosigkeit der Teleologie insbesondere in den letzten zweihundert Jahren kontrovers verlaufen und bis heute noch nicht entschieden sind.
Wunsch
(2016)
Wünsche sind gedanklich-sprachliche Repräsentationen von abwesenden Dingen oder Zuständen, deren Anwesenheit für den Wünschenden erstrebenswert – 'wünschenswert, wünschbar' – ist. Dabei ergibt sich eine enge Verbindung von Wünschbarkeit und Zukünftigkeit: Es gehört zum Charakteristikum vieler Wünsche, dass in ihnen das Erwünschte als 'noch nicht' anwesend, aber als in Zukunft erreichbar vorgestellt wird. Ein solches Herbeiwünschen eines zukünftigen Zustands kann auf möglichst vollständige Befriedigung abzielen, etwa wenn das Aussprechen eines Geschenkwunsches – oder auch seine Niederschrift auf einem Wunschzettel – dafür sorgen soll, dass man später genau die gewünschte Gabe erhält. Am theoretisch namhaftesten findet sich diese Reduktion des Wünschens auf den Augenblick seiner Erfüllung in Sigmund Freuds Deutung des Traums als einer „Wunscherfüllung“, die „bequem“ und „vollkommen egoistisch“ gewährt werden könne.
Versprechen
(2016)
Das Versprechen ist an der Grenze zwischen Sprache und Handlung zu verorten, denn ein Versprechen verweist auf die zukünftige Ausführung eines Aktes. Damit geht es mit dem Versprechen weniger um das Wissen von der Zukunft als um die Herstellung einer 'verbindlichen Beziehung' zwischen Gegenwart und Zukunft: Wenn ein Versprechen gegeben wird, geht man davon aus, dass es in der Zukunft auch eingehalten werden wird. Zur Herstellung eines 'verbindlichen' Versprechens bedarf es daher zum einen spezifischer Regeln und Methoden, zum anderen über die Sprache hinausgehender Faktoren. Der Akt des Versprechens erfordert einen Zusatz – eine Kraft, eine Absicht, einen Willen oder bestimmte Umstände. Das Versprechen führt somit paradigmatisch vor, unter welchen Bedingungen überhaupt eine sprachliche Äußerung eine Verpflichtung auf zukünftiges Handeln zum Ausdruck bringt, zumal das Versprechen auch den Kern einer ganzen Reihe zukunftsbezogener Sprechakte bildet, man denke an den Bund, das Gelübde, den Eid oder den Schwur.
Konjektur
(2016)
Zu Beginn seines Buches 'Die Kunst der Vorausschau' umreißt Bertrand de Jouvenel nicht nur sein Projekt der "Futuribles", das er als Alternative zu Ossip K. Flechtheims "Futurologie" in Anschlag bringt, sondern reflektiert auch das Vokabular seiner Untersuchung – insbesondere den Begriff der Vermutung, der in der französischen Ausgabe titelgebenden Charakter hat: 'L’Art de la Conjecture' heißt Jouvenels 1964 erschienenes Buch im Original – und spielt damit explizit auf Jacob Bernoullis 1713 erschienene 'Ars Conjectandi' an. Stand coniectura im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Denken als Chiffre vorläufiger menschlicher Mutmaßung im Gegensatz zu überzeitlichem göttlichem Wissen, so findet mit Bernoulli eine radikale Mathematisierung der "Konjekturalphilosophie" statt: Die 'Conjectura' ist als "wahrscheinliche Meynung, so aus gewissen Umständen entstehet und herrühret", nunmehr das Ergebnis einer komplexen Berechnung von Wahrscheinlichkeiten, die, losgelöst von empirischen Raum-Zeit- Verhältnissen, als kontingentes Spiel möglicher Ereignisse in möglichen Welten kalkuliert werden. Damit nimmt die Konjektur – wörtlich: das 'Zusammenwerfen' – einen epistemischen Zwischenraum im Spannungsverhältnis von Spekulation und Kalkulation ein, der ihre epistemologische Stellung bis heute bestimmt: Die 'Ars Conjecturandi' wird zur Grundlage von statistischen Theorien, "for assessing the probability of hypotheses in the light of data". Das heißt zugleich: Der Charakter der Konjektur wird nicht mehr allein durch die spekulative Annahme möglicher Ereignisse konfiguriert, sondern durch komplexe Kalkulationen, denen die Aufgabe zufällt, die mögliche Welt der Mutmaßung mit der wirklichen Welt zu verzahnen – vermittelt über eine "Zwischentätigkeit", nämlich das "Bauen von Modellen", die gleichsam ein Repertoire von präsumtiven Vorannahmen bereitstellen. Der Wechsel von einer Erkenntnistheorie, die ihre Wahrheiten im Rekurs auf eine göttlich gesicherte Weltordnung ermittelt, hin zu einer Erkenntnistheorie, die bloß vorläufige Wahrheiten in Relation zu selbst gebauten Modellen finden kann, impliziert einen Wechsel im "konjekturalen Paradigma". Aus einem mantischen Divinationskonzept, das anhand von signalhaften 'Vorzeichen' den göttlichen Willen zu erraten sucht, wird ein profanes Konzept des Aufstellens von Hypothesen, das sich bei der Deutung symptomatischer Anzeichen an den kalkulierbaren Prinzipien der Wahrscheinlichkeit und der Glaubwürdigkeit orientiert – und zwar sowohl im Rahmen von Diagnosen als auch im Rahmen von Prognosen.
Zwei Dinge gleich zu Beginn: Erstens – und dies betrifft einen persönlichen Aspekt – müsste ich auf die vor Gericht übliche Frage: 'Sind Sie mit der Autorin verwandt oder verschwägert?' mit 'Ja.' antworten und könnte ruhigen Gewissens jede Aussage zu und auch jede Beschäftigung mit 'Hoppe' verweigern. Da 'Hoppe' aber – wie wir (jetzt) aus sicherer literarischer Quelle wissen – keine Geschwister hat beziehungsweise sich diese nur erfindet und unverheiratet ist und folglich auch keinen Schwager haben kann, der als Germanist und als Berater in der 'freien' Wirtschaft arbeitet, kann ich mich – Dank sei der Einbildungskraft – auch ohne Bedenken frei und hoffentlich auch mit einem zwinkernden Auge zu 'Hoppe' und Hoppe äußern. Zweitens – dies betrifft mein Vorgehen – wird dieser Beitrag eher essayistischer und assoziativer Natur sein als strengen (literatur-)wissenschaftlichen Kriterien genügen. Ich werde versuchen, 'Hoppe' näher zu kommen – mit meiner Erfahrung als interessierter Leser gegenwärtiger philosophischer, historischer und soziologischer Literatur. Mein Blick ist neben anderem auch der eines Trainers, der im Hochleistungssport tätig war und den auch die sportlichen und spielerischen Aspekte des Textes interessieren und die Frage, was diese sportlichen Elemente mit 'Hoppe' zu tun haben. Ich möchte der Frage nachgehen, wie Hoppe diesen Gesichtspunkt produktiv in den Text integriert, um eine Entwicklung zu beschreiben – vom Eishockey zum Schreiben, vom Sport zur geistigen Arbeit. Schließlich interessiert mich, warum diese Entwicklung so und nicht anders verlaufen muss. Also, warum 'Hoppe' sowohl auf dem Eis als auch in der Musik scheitern muss – aber als Schriftstellerin besteht.
Im Rahmen meines Ansatzes möchte ich einen anderen Weg einschlagen und den autobiografischen Pakt (Lejeune) trotz besseren Wissens – das heißt trotz der Erkenntnis, dass es sich bei der literarischen Figur 'Felicitas Hoppe' offensichtlich um einen durch und durch konstruierten Charakter handelt – zunächst einfach akzeptieren. Deshalb soll (und muss) im Folgenden nicht trennscharf zwischen den Instanzen 'Felicitas Hoppe', 'Hoppe' und 'fh', so wie sie im Text in Erscheinung treten, differenziert werden. Vielmehr sollen diese verschiedenen, einer einzigen 'biofiktionalen' Person beziehungsweise persona zuschreibbaren Stimmen zusammengelesen werden, wobei in diesem Beitrag stets von 'Hoppe' gesprochen wird. Anders gesagt möchte ich den "Roman" – so die paratextuelle Genrebezeichnung des Titelblatts – Hoppe als mehrstimmige und traumlogische Inszenierung der Autorin Felicitas Hoppe lesen, wobei ich genauer der Rolle nachgehen möchte, die 'Hoppes' (fiktive) Mehrsprachigkeit innerhalb dieser Selbstinszenierung spielt.
Felicitas Hoppe entwickelt in ihrer fiktionalen Autobiografie 'Hoppe' (2012) ein komplexes Spiel mit Erzähl- und Erzählerkonventionen, Gattungs- und Leseerwartungen sowie mit Fakt und Fiktion. Offensichtlich changiert der Status dieses Textes: Für Fiktionalität sprechen etwa die paratextuelle Gattungskennzeichnung als "Roman", die Umschreibung auf dem Klappentext als "Traumbiographie" sowie die Rezeption als "Metaautobiografik". Auf Faktualität wiederum deuten eine ganze Reihe von epitextuellen und habituellen Inszenierungspraktiken hin, die den Text, gerade weil er gar nicht erst versucht, bloße Fakten zu schildern, als eine 'wahrhaftige' Autobiografie der 'realen' Autorin Felicitas Hoppes markieren. Der Text ist damit – wie es in Definitionen der Debatte um 'Autofiktion' heißt – von einer "oszillierenden Ungewissheit" zwischen autobiografischem und romaneskem Pakt, zwischen Fakt und Fiktion geprägt.
Felicitas Hoppes fiktionale Biografie 'Hoppe' (2012) soll [...] im Folgenden als Text vorgestellt werden, der das Spiel mit gesellschaftlichen und literarischen frames zu einem zentralen Gestaltungselement erhebt [...]. Die Kompromittierungen sozialer Erwartungsrahmen gegenüber Autorschaft und Autorperson, literarischer Fiktionalität und außerliterarischer Realität sowie zwischen Roman und Biografie lassen sich dabei als 'Sprünge' zwischen verschiedenen 'Rahmungen' beschreiben. Die zentrale Frage, ob moderne Ästhetik Einfluss auf die 'wirkliche Welt' nehmen kann, beantwortet Hoppe somit einerseits durch eine Art Rückeroberung und Wiederverrätselung der allzu 'öffentlich' gewordenen Autorinstanz und -biografie und andererseits durch ein Lektüreangebot, das den Leser in produktive Distanz zu gängigen Rahmungen setzen soll. Eine Schlüsselrolle spielen dabei Formen der literarischen Selbstthematisierung. Zunächst sollen zu diesem Ziel einige Aspekte der Goffman'schen Soziologie kurz rekapituliert werden.
Die folgenden Lektüren zum Problemfeld literarischer Identitäts- und Fremdheitserfahrung orientieren sich an einer heuristischen Unterscheidung, die Andrea Polaschegg im Rahmen ihrer Arbeit über den 'Anderen Orientalismus' (2005) eingeführt hat, nämlich der Trennung zwischen den Begriffspaaren 'das Eigene' – 'das Andere' und 'das Vertraute' – 'das Fremde'. [...] Das 'Andere' erscheint nicht selten als 'fremd', während 'das Eigene' sich zugleich als 'vertraut' präsentiert. Mit Blick auf diese Unterscheidung verfolgt der vorliegende Beitrag die Leitthese, dass sich beide Problemfelder in 'Eis und Schnee' auf charakteristische Weise überkreuzen. Hoppes Text greift die jeweilige Dichotomie von 'Eigenem' und 'Anderem' sowie von 'Vertrautem' und 'Fremdem' auf; doch sie unterläuft sie zugleich, indem sie eine scheinbar feststehende Gegensatzrelation destabilisiert. Und mehr noch: Verbinden sich in alltäglicher Wahrnehmung und gängigem Sprachgebrauch 'das Eigene' und 'das Vertraute' einerseits, 'das Andere' und 'das Fremde' andererseits, so brechen diese Allianzen in Hoppes Text auseinander.
Die Bedeutung des Raumes in literarischen Texten ist spätestens seit dem 'Spatial Turn' der Literatur- und Kulturwissenschaften unbestritten. Im Zuge jüngerer Debatten in den Geschichtswissenschaften haben sich parallel dazu Stimmen zu Wort gemeldet, die auf die Bedeutung des Raumes für historische Ereignisse und deren wissenschaftliche Darstellung hinweisen. Literatur, Literaturwissenschaft, Historiografie und Geschichtswissenschaft sind zudem disziplinär enger zusammengerückt, seit Hayden White auf die genuine Fiktionalität historiografischer Texte aufmerksam gemacht hat. Diese drei die Theoriebildung der Geisteswissenschaften betreffenden Aspekte sollen im Folgenden am Beispiel von Felicitas Hoppes Roman 'Johanna' (2006) zunächst zu einigen Beobachtungen hinsichtlich der Topografie des Raumes in historisch erzählenden Texten zusammengeführt und anschließend um einen Blick auf damit verbundene metafiktionale Aussagen ergänzt werden. Meine These lautet, dass die narrativ evozierten räumlichen Gegebenheiten der diegetischen Welt von Johanna die Erzählung grundsätzlich bedingen und metafiktional reflektieren. Die entworfenen Räume spiegeln nicht nur Geschehnisse auf zeitlich und räumlich getrennten Erzählebenen des Romans, sondern weisen auch poetologische Züge auf, indem sie das Potenzial von ‚Fiktionsräumen‘ ausloten.4 Mit der so gestalteten Fiktion setzt Hoppes Roman einen bestimmten Typus des Lesers voraus – einen postmodernen Idealleser, der der Polyfonie des Textes gewachsen ist, ja sich sogar aktiv auf das Spiel mit der rezeptiven Vieldeutigkeit einlassen kann, das der Roman erzeugt.
Im Folgenden sollen deshalb zunächst vereinzelte Aussagen zusammengeführt werden, aus denen sich ein poetologisches Kernthema ihres Schreibens erschließt: Als Kunstideal gilt Hoppe eine spezifische Verbindung von 'Realität' und 'Imagination', die letztlich auch in der oxymoronischen Selbstbezeichnung ihrer Texte als 'ehrliche Erfindung' mitschwingt, die von Literaturkritik und -wissenschaft so häufig aufgegriffen wurde. In einem zweiten Schritt wird argumentiert, dass dieses ästhetische Ideal in den literarischen Texten mehrfach bildlich dargestellt ist. Nach dieser Präzisierung der poetologischen Zielsetzung stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die explizit-essayistischen und implizit-fiktionalen Reflexionen zur literarischen Praxis stehen. Daran schließt die Hauptthese dieses Beitrags an: Die Bildlichkeit von Hoppes Texten lässt sich zeichentheoretisch als 'ikonisches Erzählen' spezifizieren und hier liegt eine narrative Form vor, die die angestrebte Verbindung von 'Realität' und 'Imagination' umsetzt. Auf der Basis eines vom Symbolbegriff abgegrenzten Ikonbegriffs wird argumentiert, dass in Hoppes Texten die konkrete Ebene inhärente Ähnlichkeitsbeziehungen zu einer abstrakten Ebene aufweist. Bedeutungszuschreibungen, so die Folgerung, lassen sich entsprechend dem Autonomieanspruch der Autorin, für ihre Texte weitgehend durch Abstraktions- und Analogisierungsverfahren ableiten.
Ausgangspunkt der folgenden Argumentation ist die Beobachtung, dass die Spezifik dieser Poetik stärker als bisher erfasst, von kleinsten bedeutungstragenden Einheiten, die jeweils komplex miteinander verknüpft sind und zugleich weit über sich hinausweisen, getragen wird. In Hoppes Texten, so die Annahme, ist das Wechselspiel zwischen Sinn- beziehungsweise Kohärenzbildung und -störung sowie der Zusammenhang intratextueller, autointertextueller und intertextueller Verweise auf spezifische Weise an Überlappungen semantischer Felder gebunden – eine Spezifik, die weiterer Untersuchung bedarf. Im Anschluss an eine durch diesen Rahmen perspektivierte Lektüre von Safari im ersten und Iwein Löwenritter im zweiten, möchte ich im dritten Teil Überlegungen zur Interdependenz von semantischen Feldern und intertextuellem Verweissystem beziehungsweise Zitaten in 'variierenden Wiederholungen' darlegen. Im vierten Teil werde ich dies im Hinblick auf folgende vier Fragen weiterführen: erstens, wie mittels gezielter Überlagerung semantischer Felder Ambivalenz und Kohärenz hergestellt werden, zweitens, wie Ordnungen entstehen und gestört werden, drittens, wie kleinere mit größeren Bedeutungseinheiten und -ebenen korrelieren und, viertens, wie Konventionalisiertes aufgerufen wird, um es zu durchkreuzen und anschlussfähig für neue Verknüpfungen zu machen.
Im Folgenden soll daher, mit Schwerpunkt auf dem Roman 'Paradiese, Übersee', die Struktur von Hoppes Texten vor dem Hintergrund ihrer literaturhistorischen Kontexte aufgeschlüsselt werden. Diese, von der Kritik als irritierend wahrgenommene Struktur basiert auf der Abkehr von üblichen chronologischen und kausallogischen Ordnungsschemata und der gleichzeitigen Hinwendung zu einer Erzählstruktur, die ihren Sinn über variierende Verbindungen einzelner Elemente generiert. In der vorliegenden Untersuchung wird dieses Narrationsschema auf seine historischen Vorbilder hin untersucht, um das schöpferisch 'Neue', die innovative Formensprache des Hoppe'schen Erzählens fassbar zu machen.
Der folgende Beitrag unternimmt damit den Versuch, die 'Geschichtsverwicklungen' eines 'erzählerischen Fundamentalismus' in Abgrenzung zu bisherigen Deutungen unter dem Aspekt des zyklischen Erzählens und der Wiederholung zu beleuchten. In einem ersten Analyseschritt wird das Verhältnis von Rahmenhandlung und Binnenerzählungen einer Klärung zugeführt, um im Folgenden eine präzisere Charakterisierung der Erzählerfiguren des Zyklus zu ermöglichen. Dabei wird vorgeschlagen, den Erzählvorgang als performativen Akt zu begreifen, der bei Hoppe als Reenactment inszeniert wird.
Die Renaissance des Familien- oder Generationenromans in der (nicht nur deutschsprachigen) Gegenwartsliteratur ist in zahlreichen Untersuchungen der letzten Jahre zum Gegenstand gemacht worden. Um diese Wiederkehr eines Totgeglaubten rankten sich alsbald polemische Debatten, aus denen man ersehen konnte, dass es um weit mehr als das Wiedererstarken eines literaturwissenschaftlich recht schwammig definierten, unter Abgrenzungsschwächen (Familien- versus Generationenroman) leidenden, ästhetisch eher traditionellen Genres ging. Definitionsversuche wie derjenige der amerikanischen Komparatistin Yi-ling Ru brachten den Familienroman (scheinbar unauflöslich) in Zusammenhang mit den Kriterien der Verfallsgeschichte, der Chronologizität, der Schilderung integraler Familienriten und insbesondere mit einem unhintergehbaren Realismus der Darstellung. Dass der Umgang mit dem Thema 'Familie' über alle eher literarischen Koordinaten hinaus aber vor allem als Seismograf gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen verstanden wurde, zeigten schon die Kontroversen um den Stellenwert von Familie im deutschen Feuilleton, in dem etwa die Zeit-Literaturkritikerin Iris Radisch "[d]ie elementare Struktur der Verwandtschaft" gegen die "Monaden" der Gegenwartsliteratur in Stellung brachte: Gedeutet wurde die 'Rückkehr' der Familie so zugleich als Indiz für eine Sehnsucht nach traditionellen Strukturen, gerichtet gegen die Zersetzungskraft der Postmoderne, gegen das Single-Dasein als Lebensform. Andere wie Sigrid Löffler sahen in genauer Umkehrung der Werteskala gerade im Wiederauftauchen familiärer Narrative das konservative Revival einer spätestens mit Heimito von Doderers (1896-1966) Merowinger-Roman (1962) durch Hyperbolisierung in sich kollabierten Gattung.
In Felicitas Hoppes Roman 'Johanna' (2006) geht es nicht um die historische Johanna von Orléans (um 1412-1431) selbst, sondern um eine namenlose Ich-Erzählerin, die sich auf ihre mündliche Disputation im Fach Geschichte vorbereitet. Der Roman spielt nicht im 15., sondern im 21. Jahrhundert. Die Protagonisten sind die Ich- Erzählerin, die über Johanna von Orléans promoviert, ein Professor der Geschichtswissenschaft und sein Assistent, der von der Erzählerin auf den Spitznamen "Peitsche" getauft wird. Es geht also nicht um eine Märtyrerin, die von Geistlichen verhört und verurteilt wird, sondern um eine Doktorandin, die von einem Historiker mündlich geprüft wird. Anstelle des Todesurteils wird die Promovendin aus dem akademischen Betrieb ausgeschlossen. Es lassen sich also deutliche Parallelen zwischen den beiden Schicksalen erkennen. In beiden Fällen – ob innerhalb der Kirche oder der Universität – geht es um eine geistige Institution, die von Männern beherrscht wird und ihren eigenen 'Kanon' pflegt. Die Kirche bewahrt den Kanon der Heiligen; die Universität perpetuiert durch die Historiografie einen Kanon der wichtigsten Persönlichkeiten der Geschichte. In beiden Fällen werden die Argumente der Frau von den männlichen Juroren nicht akzeptiert beziehungsweise nicht ernst genommen. Diese Gemeinsamkeiten gilt es in diesem Beitrag vergleichend zu analysieren.
Auf meinem Posten war ich bereits mit sieben; hinter mir, was (angeblich) noch gar kein Leben war, aber vor mir schon ein fantastisches Werk, das einzig aus meiner Einbildung lebte, neben den üblichen Kinderlektüren die einzige Nahrung meines fröhlichen Schreibens; dass dieses Werk eines eigenen Lebens bedürfte, um tatsächlich Inhalt und Form anzunehmen, stand nicht zur Debatte: Wozu seine Zeit mit einem Leben verschwenden, das sich im Werk wie von selbst erfindet und haltbarer als jedes Tagwerk ist. So denkt und schreibt nur ein Kind, das noch jede Legende für Wahrheit hält und das ich bis heute geblieben bin: ein denkendes Kind, das sich in Größe hineinträumt und schreibend den Zugang zu einer Welt erschafft, die mir (wie ich umgekehrt ihr) immer fremd bleiben wird, das aber (immerhin) weiß, dass sich die Geschichte des Lebens nicht in ein Buch binden lässt, sondern sich unablässig weitererzählt und weiterschreibt, von Text zu Text und Buch zu Buch und über die Ränder der Bücher hinaus, ohne Aussicht auf Rettung und Ende, scheinbar absichtslos hinein in die Welt, die sich sowieso nicht erzählen lässt. Die letzten Sätze werden die ersten sein und die ersten die letzten, und immer so fort, bis ich eines Tages (niemand weiß, wann), den Stift endlich aus der Hand legen darf.
[...] 'Eis und Schnee' [zeichnet] kein einheitliches Gesamtbild von Junghuhns Leben. Vielmehr präsentiert sich der Text als unabgeschlossener Entwurf einer Existenz in Bewegung, gleichsam als möglichkeitsbewusste Erfindung eines Lebens-Laufs, der sich am Vorbild der historischen Person orientiert und zugleich reale Handlungen und Ereignisse fiktional verfremdet. Denn anstatt die zentralen Stationen dieses außergewöhnlichen Lebens in narrativer Kontinuität zum linear geordneten Gesamtbild zusammenzufügen, bricht der Text die zeitliche und räumliche Einheit des Erzählten auf. Entscheidendes verbindet sich mit Nebensächlichem, und spielerische Wechsel der Erzählperspektive lassen die Konturen der Figuren verschwimmen. So handelt Hoppes fiktionale Bio-Grafie, welche im Akt des Schreibens zugleich selbstreflexiv die Aporien einer Erfassung des gelebten Lebens ausstellt, von den Möglichkeitsbedingungen und Untiefen narrativer Identitätskonstitution. Entlang des Leitfadens eines Entdeckerlebens fragt Eis und Schnee nach Bestimmungsmerkmalen und Grenzen des 'Eigenen' – und zwar in individueller wie in kultureller Hinsicht. Denn Junghuhns Grenzgänge in der Ferne Asiens kreisen beständig um die Frage, wer er selbst überhaupt ist, wovon er sich warum und wie abgrenzt, und wer von diesem Leben auf welche Weise zu erzählen vermag. Einige Aspekte dieser Fragestellung erkundet der vorliegende Aufsatz in einer narratologischen Analyse von Hoppes komplexer Erzählprosa in 'Eis und Schnee'. Die folgenden Lektüren zum Problemfeld literarischer Identitäts- und Fremdheitserfahrung orientieren sich an einer heuristischen Unterscheidung, die Andrea Polaschegg im Rahmen ihrer Arbeit über den 'Anderen Orientalismus' (2005) eingeführt hat, nämlich der Trennung zwischen den Begriffspaaren 'das Eigene' – 'das Andere' und 'das Vertraute' – 'das Fremde'.
Das Spiel, die Maskerade und andere Elemente des Karnevals sind Fixpunkte in beinahe allen Texten von Felicitas Hoppe. Sie tauchen aber nicht nur auf inhaltlicher Ebene auf, sondern sie sind zudem wesentliche Bestandteile des ästhetischformalen Erzählprogramms der Autorin. Im vorliegenden Beitrag soll unter Berücksichtigung von Michail Bachtins Konzepten der Dialogizität und Polyfonie das karnevaleske Moment in Felicitas Hoppes Erzählwerk, vor allem in den Romanen 'Paradiese, Übersee' (2003), 'Johanna' (2006), und 'Hoppe' (2012) herausgearbeitet werden und zwar auf Ebene des Sujets, der Sprache und der Textgattung. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei vorangestellt, dass das Motiv des Karnevals von seiner Anlage her keine bewusste narrative Strategie darstellt (auch wenn es durchaus als solches eingesetzt werden kann). Statt einer autorzentrierten Interpretation soll daher die 'Karnevalisierung' der Literatur ganz im Sinne Michail Bachtins als Traditionslinie und Textdynamik begriffen werden, die flexibel ist und die Individualität der einzelnen Autorinnen und Autoren in keinster Weise tangiert beziehungsweise formal einengt.
[...] wie die 'Berliner Kindheit' oft als eine 'Erinnerungspoetik' bezeichnet wird, deren treibende Kraft die "Ich-Konstitution" sei, ließe sich Hoppes 'Picknick der Friseure' als 'Ver(w)irrungspoetik' beschreiben. Der Prozess des Erinnerns und sich (Wieder)findens ist bei ihr noch verdichteter im Sinne eines 'Dickichts der Texte', als bei Benjamin. Die konsequente Verweigerung einer "homogenisierte[n] Ich- Bildung" rückt bei beiden Schriftstellern "die Frage nach den noch verbleibenden Formen der Identitätsbildung in den Mittelpunkt des Schreibens." Vor dem Hintergrund einer als desolat erfahrenen Wirklichkeit scheinen die 'Berliner Kindheit' und 'Picknick der Friseure' die "Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervor[zu]ziehen […] wie die Kinderhand den Strumpf aus 'Der Tasche'". Oder wie es in Hoppes Schlussgeschichte 'Not und Tugend' heißt: "[A]m Ende, beim Öffnen der Säcke, kam alles zum Vorschein, Feigheit und Gier und schlechte Gewohnheit und daß wir zu spät und mit Dreck an den Stecken ans Tageslicht gekrochen waren". Doch, und das ist das Wesentliche, "hier ist das Buch unserer Rettung", sodass wir „alt [werden können] in Würde". Damit birgt, wie Adorno es für Benjamin formuliert, die "Allegorie des eigenen Untergangs", das zersplitterte Geschichtswerk, auch bei Hoppe die Möglichkeit zur Selbstbehauptung.
Bücher, die Wirklichkeit werden, Figuren, die aus Geschichten in die Welt des Lesers eintreten, oder umgekehrt, Leser, die geheime Pforten zu fantastischen oder zu fiktionalen Welten aus ihrer Lektüre durchschreiten, gehören zum Inventar kinderliterarischen Erzählens, seitdem Lewis Carrolls (1832-1898) Alice an einem langweiligen Nachmittag dem weißen Kaninchen mit der Taschenuhr in sein Erdloch folgte und sich in Wunderland wiederfand. Eine Alice-Figur ziert als intertextuelle Allusion auch den Einband von Hoppe: Zu sehen ist ein kleines Mädchen mit Schleifen im Haar, vornübergebeugt zum Schnürsenkelbinden. 'Hoppe' ist natürlich kein Kinderbuch, sondern das autofiktionale Experiment einer Schriftstellerin, die bereits selbst Kinderbücher verfasst und übersetzt hat, die sich zudem gegen eine strenge Grenzziehung zwischen sogenannter Erwachsenen- und Kinderliteratur ausspricht und dafür plädiert, als Erwachsener die Bücher der eigenen Kindheit erneut zu lesen. Und so ist auch in Hoppe die Grenze zwischen sogenannter Kinder- und Erwachsenenliteratur äußerst durchlässig, springen doch bei einer ersten Lektüre bereits zahlreiche Anspielungen auf kanonische Texte der Kinderliteratur wie etwa Carlo Collodis 'Le avventure di Pinocchio' (1883), Mark Twains 'The Adventures of Tom Sawyer' (1876), Jules Vernes 'Les enfants du capitaine Grant' (1867/68), Frank L. Baums 'The Wonderful Wizard of Oz' (1900) und Astrid Lindgrens 'Pippi Långstrump' (1945-1948) ins Auge. Der autofiktionale Text 'Hoppe' mit seiner Doppelbiografie, einer verleugneten und einer vermeintlich 'verbrieften', mit seinem metaautobiografischen Spiel, stellt sicherlich die Fiktionalität eines jeden autobiografischen Schreibens noch einmal nachdrücklich aus.
Seit Beginn der 1990er Jahre rückt der Begriff des 'Autors' und der 'Autorschaft' wieder verstärkt in den Fokus literaturwissenschaftlicher Theoriebildung. Im Unterschied zu den subjektkritischen Konzepten der Postmoderne, insbesondere denjenigen des Poststrukturalismus, die in Roland Barthes' These vom Tod des Autors (1967) wohl am prominentesten widerhallen, gewinnt die Autorfunktion als legitime Bezugsgröße im interpretatorischen Zugriff auf den literarischen Text wieder an Bedeutung. Auch der Werkbegriff erhält infolge dieser Aufwertung des textgenerierenden Subjekts in Praxis und Theorie neue Aufmerksamkeit. Im Falle von Felicitas Hoppe wird über diesen Kontext hinaus die Betrachtung eines einzelnen Autorenwerks auch intrinsisch durch ihre Texte nahegelegt. Die inhaltliche und sprachliche Kontinuität zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten, die enge auto-intertextuelle Verknüpfung sowie Hoppes ästhetischer Autonomieanspruch verlangen in besonderer Weise nach einer Fokussierung des autorspezifischen Werkzusammenhangs.