Entrepreneurship – ein Ansatz zur Überwindung der Modernitätskrise des dualen Berufsausbildungssystems?

  • Entrepreneurship eröffnet aus didaktischer und organisatorischer Sicht vielversprechende Chancen zum Bewältigen der Modernitätskrise dualer Berufsausbildung, birgt jedoch auch Risiken in sich. Sowohl didaktische Konzeptionen, die von der – traditionell – funktional-objektivistischen Entrepreneurship-Definition ausgehen (z.B. der „Medienkoffer Selbstständigkeit“), als auch subjektorientierte Ansätze (z.B. die „Arbeitsorientierte Exemplarik“) zeichnen sich dadurch aus, dass sie, anders als duale Berufsausbildung, allgemeine Bildungsinhalte gegenüber fachbezogenen stärker gewichten, was sich u.a. in Fachgrenzen überschreitenden Lehr-/Lernarrangements (Projektunterricht) konkretisiert. Damit wird nicht nur den – Stichworte Lean Production und Globalisierung – veränderten Qualifikationsbedarfen am Arbeitsmarkt entsprochen. Auch bestehen Anknüpfungspunkte zu einem Teil der subjektiven Wissens- und Rationalitätsgrundlagen, die aus Sicht der Theorie der reflexiven Modernisierung in der Zweiten Moderne für unabdingbar erachtet werden (Anerkennung von Unsicherheit/nicht erwarteten Nebenfolgen, Befähigung zur kooperativen Entscheidungsfindung). Die untersuchten Ansatzmöglichkeiten weisen jedoch auch Schwachpunkte auf. Die „Arbeitsorientierte Exemplarik“ stellt zwar eine geschlossene didaktische Konzeption dar. Ihre Umsetzung beschränkt sich jedoch weitgehend auf die Erwachsenenbildung. Zudem fehlen Daten, die es ermöglichen, die Validität der „Arbeitsorientierten Exemplarik“ im Feld zu evaluieren. Umgekehrt liegt eine Vielzahl praxiserprobter und auch evaluierter „Entrepreneurship Education“-Programme, -Projekte und -Lehrgänge vor, die jedoch nicht bildungstheoretisch fundiert sind. Auch drohen „Entrepreneurship Education“ und die „Arbeitsorientierte Exemplarik“ entweder von neoliberalen wirtschaftspolititischen Interessen vereinnahmt oder unmittelbar in den Dienst der Gewinnerzielungsabsichten global operierender Konzerne gestellt zu werden. Während bildungstheoretische und empirische Lücken vergleichsweise einfach – durch Bildungsforschung – geschlossen werden können, verdichten sich im Spannungsfeld zwischen funktional-objektivistischen ökonomischen Interessen und dem anthropologisch begründbaren Ethos nach Entwicklung und Entfaltung individueller Persönlichkeitspotentiale divergierende politische Implikationen, mit denen Entrepreneurship (nicht nur) im Kontext erwerbsarbeitsbezogener Bildung konfrontiert ist. Hier bieten sich zwei Reaktionsmöglichkeiten an: Einerseits eine separierende Sichtweise, die entweder funktional-objektivistischen oder subjektivistisch-individuellen Rationalitäten Vorrang einräumt. Dies hätte zur Folge, dass Entrepreneurship entweder für unternehmerisches Denken und Handeln zu qualifizieren hätte oder, losgelöst von utilitaristischen Erwägungen, die gattungsspezifischen und individuellen Entwicklungsbedürfnisse des Menschen zu entfalten wären. Mit Blick auf die Herausforderungen der Zweiten Moderne erscheint gegenüber einer separierenden eine bündelnde Sichtweise erfolgversprechender, die versucht, Entrepreneurship als Option zur Gestaltung von Gesellschaft zu interpretieren ohne zu vernachlässigen, dass das Subjekt Resultat und Produzent seiner – durch die gegebene primär marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung beeinflussten – Vernetzung, Situierung, Verortung, Gestalt ist. Eine solche Quasi-Subjektbildung hätte neben den in der „Theorie reflexiver Modernisierung“ denominierten subjektiven Wissens- und Rationalitätsgrundlagen auch auf den Ausgleich wirtschafts-, gesellschafts- und sozialpolitischer Interessen zu zielen. Auch in organisatorischer Hinsicht beeinflussen ökonomische Rationalitäten die Modernisierungsmöglichkeiten erwerbsarbeitsbezogener Ausbildung. Zwar können die in das öffentliche Bildungssystem eingebundenen Schulen in nicht-staatlicher Trägerschaft als Repräsentanten des Entrepreneurship-Gedankens die kraft ihrer Rechtsform gegebenen pädagogischen Gestaltungsmöglichkeiten nutzen, um dem Berufsausbildungssystem Modernisierungsimpulse zu induzieren. In diesem Zusammenhang wären etwa Angebote zu nennen, in denen berufsbildende mit allgemeinbildenden Inhalten unter Einbezug neuartiger Theorie-Praxis-Kombinationen verschränkt werden. Auch sind einige Privatschulen an Modellversuchen zur Erprobung neuartiger Bildungsgänge beteiligt, die in Kooperation mit den Kultusministerien durchgeführt werden. Gleichwohl zeichnet sich ab, dass die Entscheidungsträger privater Schulen dazu übergehen, ihrer Auffassung nach moderne Erwerbsarbeitsqualifikation zunehmend außerhalb des Berufsausbildungssystems anzubieten, etwa in Form studienqualifizierender Bildungsgänge, im Rahmen berufsqualifizierender Bildungsangebote, die ausschließlich Abiturienten vorbehalten bleiben, oder gar indem berufsbildende durch Fachhochschulstudiengänge substituiert werden. Wenn nun aber moderne Erwerbsarbeitsqualifizierung zunehmend außerhalb des dualen Systems offeriert wird, so untermauert dies nicht nur die These, dass sich das duale System in einer Modernitätskrise befindet. Auch verstärkt dieses an leistungsstarken Schülern orientierte Angebotsverhalten die Selektionsfunktion, welche die Privatschulen ohnehin schon ausüben, indem sie regelmäßig Schulgeld erheben. Vieles spricht dafür, dass die staatliche Finanzhilfe, die sowieso nur Ersatz-, nicht jedoch Ergänzungsschulen beanspruchen können, allein nicht ausreicht, um den Finanzmittelbedarf der Einrichtungen zu decken. Sollen die (verbleibenden) von den Schulen in freier Trägerschaft ausgehenden Modernisierungsimpulse als nachhaltige Schrittmacher für zeitgemäße Erwerbsarbeitsqualifikation fungieren, so bedarf es nicht nur in finanzieller Hinsicht staatlicher Unterstützung. Auch die je nach Bundesland mehr oder weniger großzügigen schulrechtlichen Privatschulrechtsnormen einschließlich ihrer Anwendung durch die Aufsichtsbehörden bedürfen zumindest der Angleichung. Nicht umsonst konnten die von den Kaufmannsvereinigungen betriebenen Schulen Ende des 19. Jahrhunderts erst dann eine (allerdings auf berufliche Ertüchtigung) fokussierte Modernisierungsfunktion übernehmen, nachdem der Staat die hierfür erforderlichen, gesellschaftspolitisch motivierten, weil gegen die Sozialdemokratie gerichteten Rahmenbedingungen geschaffen hatte. Einen Rahmen, die herausgearbeiteten Spannungsbögen zwischen Theorie und Praxis, partikularistischem und holistischem Paradigma sowie ökonomischen und pädagogischen Interessen neuartig zu betrachten, vermag die Historische Anthropologie bereitzustellen. Historisch-anthropologische Forschung ist multiparadigmatisch und zeichnet sich durch Transdisziplinarität sowie Transnationalität aus. In transdisziplinären Forschungsprojekten können die Vertreter mehrerer Fachdisziplinen auf unterschiedliche Wissenskonstellationen, Fragestellungen, Begriffe sowie methodische Zugänge zurückgreifen und so – Stichwort „Quasi-Subjektivität“ – neuartige Lösungsvorschläge für konkrete Problemstellungen einbringen (vgl. WULF 2004, 262). Beim Überschreiten von durch Fachgrenzen begrenztem Denken „spielt das Staunen, das radikale Fragen, die philosophische Kritik und Selbstkritik eine wichtige Rolle“ (WULF 2004, 264). Staunen dürfte sich aller Voraussicht dann einstellen, wenn nicht nur ernsthaft diskutiert würde, dass private Schulen – unter Voraussetzung veränderter Rahmenbedingungen – den öffentlichen Bildungsauftrag möglicherweise besser umsetzen können als staatliche Einrichtungen, sondern auch seitens der politisch Verantwortlichen die hierfür erforderlichen Maßnahmen ergriffen würden. Transnationale (historisch-anthropologische) Forschung eröffnet zudem die Gelegenheit, Grenzen, genauer: ethnische oder kulturelle Grenzen zu überschreiten. (vgl. WULF 2004, 268). Bezogen auf Entrepreneurship böte sich insofern die Option, die anglo-amerikanische Färbung des Entrepreneurship-Diskurses ebenso zu erweitern wie den zentraleuropäischen Nexus des historischen Subjektbildungsdiskurses.

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Metadaten
Author:Roman Kanning
URN:urn:nbn:de:hebis:30-44218
Place of publication:Frankfurt am Main
Referee:Micha BrumlikGND
Document Type:Doctoral Thesis
Language:German
Date of Publication (online):2007/05/09
Year of first Publication:2006
Publishing Institution:Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
Granting Institution:Johann Wolfgang Goethe-Universität
Date of final exam:2006/12/12
Release Date:2007/05/09
Page Number:215
First Page:1
Last Page:215
Note:
Der Dokumentationsband ist nur als Druckausgabe der Dissertation einsehbar. In diesem werden sämtliche Auswertungsschritte der mit den Experten geführten Interviews beschrieben. Damit soll nicht nur sichergestellt werden, dass die im empirischen Teil bzw. vierten Kapitel gewonnenen Ergebnisse intersubjektiv nachgeprüft werden können. Auch geht es darum, interessierten Studenten, die mit qualitativen (Experten-)Interviews arbeiten wollen, eine detaillierte Orientierungshilfe bereitzustellen. Der Dokumentationsband ist sind nach Arbeitsgängen gegliedert, die Seiten jedoch nicht durchnumeriert, weil die die einzelnen Prozessschritte mit unterschiedlichen rechnergestützten Programmen, die untereinander nicht kompatibel sind, erfolgte.
HeBIS-PPN:186577028
Institutes:Erziehungswissenschaften / Erziehungswissenschaften
Dewey Decimal Classification:3 Sozialwissenschaften / 37 Bildung und Erziehung / 370 Bildung und Erziehung
Licence (German):License LogoDeutsches Urheberrecht