Linguistik-Klassifikation
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Zu dem Strauß der Bindestrichlinguistiken gesellt sich derzeit ein weiteres, besonders interessantes und vielversprechendes Exemplar, die sog. Zweifelsfall-Linguistik. Ihre Entstehung kann man mit dem "Linguistik online"-Heft "Sprachliche Zweifelsfälle. Theorie und Empirie" [...] auf das Jahr 2003 datieren. [...]
Aus historisch-linguistischer Perspektive handelt es sich sehr häufig um Fälle sich gegenwärtig vollziehenden Sprachwandels, d.h. was heute an seismischen Bewegungen registriert wird, hat seinen Herd, um in diesem Bild zu bleiben, oft im Frühneuhochdeutschen oder noch früher. [...] Gerade für die zukünftigen LehrerInnen ist es wichtig, von der richtig/falsch-Zentriertheit von Zweifelsfällen wegzukommen und stattdessen der Ratio dieses Phänomens näherzukommen (um dann bessere Anleitungen geben zu können). In Veranstaltungen zu Zweifelsfällen erlangt man übrigens eine beträchtliche diachrone Tiefe, d.h. die Bereitschaft, sich in das Problem, seine Genese und seine Hintergründe einzuarbeiten, ist erfreulich hoch. Interessant (und noch nicht erforscht) ist dabei die unterschiedliche Salienz grammatischer Zweifelsfälle: Während die Fugensetzung sofort als Zweifelsfall erkannt und bestätigt wird, ist es bei der schwankenden Flexion zweier koordinierter Adjektive im Dativ ohne Determinans ("unter großem finanziellem?/finanziellen? Aufwand") anders. Auch wenn die Korpora die Schwankung zwischen Parallel- und Wechselflexion zweifelsfrei als Zweifelsfall ausweisen (ca. zwei Drittel Wechselflexion, ca. ein Drittel Parallelflexion), so erreicht diese Flexionsunsicherheit keinen hohen Bewusstheitsgrad. Die höchste Salienz erreichen übrigens orthographische Zweifelsfälle [...], danach Wortbildungsprobleme wie die (Un-)Trennbarkeit von Präfixen vom Typ "gedownloadet/downgeloadet".
Es steht außer Zweifel, dass die gesellschaftlich-politischen Veränderungen der 1990er Jahre für kaum eine Forschungsrichtung so große Möglichkeiten eröffnet haben, wie für die Geschichte, die damit eng verbundene Sprachgeschichte sowie für die daran anschließenden sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen wie Kontaktlinguistik, Mundart- und Namenforschung. Länder und Regionen, die fast ein halbes Jahrhundert lang hinter dem "Eisernen Vorhang" verschwunden waren, rückten wieder in die Mitte Europas. Der Wegfall nationalpolitischer und ideologischer Tabuisierungen weiter Teile ihrer kulturellen und historischen Entwicklung eröffnete reale Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit ausländischen Forschern, des Anschlusses an internationale Wissenschaftstrends und nicht zuletzt die bis dahin kaum bestehenden Chancen für persönliche Kontakte mit den Menschen, deren Namen man zwar kannte, über ihre Bindungen zu den Ländern des Ostblocks als Germanist der Nachkriegszeit jedoch nur rätseln konnte.
Das Pommerische in Espírito Santo : Ergebnisse und Perspektiven einer soziolinguistischen Studie
(2011)
Der vorliegende Artikel behandelt Aspekte des Spracherhalts und Maßnahmen für die Sprachrevitalisierung des Pommerischen im brasilianischen Bundesstaat Espírito Santo. Die vorgestellten Daten basieren auf der soziolinguistischen Studie von Höhmann (2011). Nach der Einleitung, in der ein Überblick über die Forschungslage und die soziodemographischen Daten der untersuchten Sprachgemeinschaft gegeben wird, werden quantitative Daten zur Sprachpräferenz und zur intergenerationalen Sprachtransmission aus der Studie vorgestellt. Desweiteren werden die Verwendung der Minderheitensprache im Schulunterricht und daraus resultierende Forschungsdesiderate dargelegt. Es wird auf das pommerische Sprachrevitalisierungsprojekt PROEPO und auf Aspekte der Standardisierungsmaßnahmen der Minderheitensprache eingegangen. Abschließend werden Perspektiven für den Spracherhalt erörtert.
Das Prager Deutsch wurde schon oft erwähnt, aber wenig beschrieben. In diesem Aufsatz wird die letzte Form dieses Deutschen dargestellt, wie sie in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts gesprochen wurde, als deutsche Standardsprache der Länder der böhmischen Krone. Die Unterschiede zum neutralen Standarddeutschen sind sehr gering. Es gibt wenige tschechische Einflüsse, kaum Übereinstimmungen mit dem süddeutschen und österreichischen Substandard, aber Parallelen zum nördlichen Standarddeutschen. Heute ist das Prager Deutsch fast ausgestorben, da es nach 1945 nicht mehr weitergegeben wurde.
Das Ausgangsmaterial für die vorliegende Untersuchung stammt aus dem Phonetischen Normalbuch von Luzi (1903-05). Zunächst werden die beiden Ortsdialekte von Sils (Nr. 34) und Scharans (Nr. 33) miteinander verglichen (Kap. 2.2). Hernach werden beide zusammen je einer benachbarten Ortsmundart der angrenzenden Talschaften gegenübergestellt (Kap. 2.3 bis Kap. 2.7). Gewählt wurden für das äußere Domleschg Rodels (Nr. 32), für das Schams Zillis (Nr. 42), für das Albulatal Obervaz1 (Nr. 58), für den oberen Heinzenberg der heute ausgestorbene Dialekt von Flerden (Nr. 39), und für den unteren Heinzenberg der heute ebenfalls erloschene Dialekt von Cazis (Nr. 36).
Im vorliegenden Beitrag wird danach gefragt, wie die Merkmale der Sprecher und Gebrauchssituationen, also die außersprachlichen Variablen, die den sprachlichen Varietäten zugrunde liegen, kategorisiert werden können. Natürlich ist diese Frage nicht neu. Seit Coseriu haben sich zahlreiche gestandene Soziolinguisten mit ihr beschäftigt (u. a. Albrecht 1986; Ammon 1987, 1995; Berruto 1980, 2004; Dittmar 1997; Löffler 2010). Hier wird der Versuch unternommen, sie in einer historischen Perspektive zu stellen, aber auch der, sie von der Gegenwart aus zu beantworten, die von einer Medienvielfalt geprägt ist, von der die Pioniere der Varietätenlinguistik nicht einmal träumen konnten.
Das Forschungsunternehmen "Romanisch und Deutsch am Hinterrhein / GR" von Prof. Dr. Theodor Ebneter (Sprachlabor der Universität Zürich) wurde in den Jahren 1978-1992 am Phonogrammarchiv der Universität Zürich als erstes bilinguistisches Projekt durchgeführt.
Für jede der vier Talschaften des Hinterrheins waren ursprünglich zwei Bände, einer für das Deutsche und einer für das Romanische, vorgesehen. […] Da die Gewährsleute ihre jeweilige Mundart gerne mit jener von Chur vergleichen, wurde die Dissertation von Oscar Eckhardt "Die Mundart der Stadt Chur" (1991)als Band 9 veröffentlicht.
Nachdem Prof. Ebneters Leitung des Phonogrammarchivs 1992 zu Ende ging, konnte mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds Band 7 "Romanisch im Boden, in Trin und in Flims" mit seinem Umfang von 622 Seiten abgeschlossen werden, der als romanistische Ergänzung zu Urs Willis 1990 publiziertem Band 8 "Deutsch im Bezirk Imboden " die Untersuchung dieser vierten und letzten Talschaft beschliessen sollte.
Der vorliegende Band 11 der Reihe "Romanisch und Deutsch am Hinterrhein / GR" ersetzt nun Willis Band 8 und schliesst zugleich das Forschungsuntemehmen mit der germanistischen Aufarbeitung des Bodens, von Trins und von Flims ab. Dieser Band wurde von Dr. Alfred Toth und Prof. Dr. Theodor Ebneter parallel zur Herstellung von Band 10 "Die romanisch-deutsche Sprachlandschaft am unteren Hinterrhein" verfasst. Die Ersetzung von Willis Band durch den vorliegenden war auch deshalb nötig, um die die deutschen Mundarten des Bezirks Imboden betreffenden Daten in Band 10 einbauen zu können. Zu diesem Zweck wurden im Winter und Frühling 1994/95 alle Ortschaften des Bezirks Imboden mit 27 Gewährspersonen in längeren Gesprächen aufgenommen.
Band 11 orientiert sich methodisch einerseits an Band 7 über die romanistische Situation des Bezirks Imboden, dessen germanistische Ergänzung er darstellt, anderseits an Band 9 über die Mundart von Chur, der innerhalb der Reihe zum erstenmal vergleichsweise herangezogen werden konnte, nachdem alle übrigen germanistischen Bände früher erschienen waren. Aus diesem Grunde wurde der Einleitung (Kap. 1), der Phonologie (Kap. 2) und der Morphologie (Kap. 3) ein Kapitel 4 "Vergleich der Dialekte des Bezirks Imboden mit der Mundart der Stadt Chur" beigesteIlt, in dem auch Aspekte der Morphosyntax (Kap. 4.3.), der Syntax (Kap. 4.4.) sowie der Lexikologie (Kap. 4.5.) behandelt werden.
Der vollständige Titel der vorliegenden Arbeit lautet: Sprachwandel in Chur: 'Aufnahmen des Sprachatlasses der deutschen Schweiz (SDS) konfrontiert mit der Mundart von heute'. Entsprechend dieses Programmes sollen folgende Fragen beantwortet werden:
o Was für Aenderungen können wir in der Churer Mundart ausmachen?
o In welche Richtung gehen diese Aenderungen? Lassen sich Tendenzen ausmachen?
o Welche Einflüsse führten zu den festgestellten Veränderungen?
Es ist klar, dass im Rahmen dieser Arbeit nur ein Teil allen Sprachwandels in Chur festgehalten werden konnte. Es ist aber durchaus möglich, anhand der erfassen Veränderungen Schlüsse zu ziehen, die sich auch auf die Mundart von Chur überhaupt übertragen lassen.
Schwerpunktmässig wurden für diese Arbeit Vokalismus und morphologisch-syntaktische Probleme bevorzugt behandelt. Für Konsonantismus eignet sich die Form der schriftlichen Umfrage wenig (Vgl. Kap.l.3.). Der Wandel im mundartlichen Wortschatz ist zu gross, als dass er auch nur annähernd vollständig behandelt werden könnte. Und Stiefkinder mussten auch satzmelodische und rhythmische Probleme bleiben. Dafür wurden anhand ausgesuchter Beispiele Phänomene erfasst, bei welchen der SDS nicht als Grundlage dienen konnte.
Wichtig ist für diese Arbeit, dass mit "der Mundart von heute" auch wirklich heutige Mundart erfasst wurde. Es sollte also keineswegs eine "richtige" Churer Mundart rekonstruiert (auch wenn dies mit den Verweisen auf die SDS-Karten implizit natürlich gemacht worden ist), sondern vielmehr mit den Aussagen der Gewährspersonen (Gwp) gearbeitet werden. In diesem Sinne kann Sekundärliteratur Erhellung bringen, soll aber nicht Untersuchungsgegenstand sein.
Nachdem ich meine Lizentiatsarbeit [..] abgeschlossen hatte, fragte mich Prof. Ebneter an, ob ich bereit wäre, mit dem gleichen Transkritionssystem auch eine Umfrage zu diversen Verbalformen in Graubünden zu erstellen. […] Von Prof. Ebneter bekam ich eine Liste mit den gewünschten Verbformen. Ich habe zu diesen je einen Satz konstruiert, der den Gewährspersonen vorgelegt wurde. Einmal hatten die Informantinnen und Informanten die Verbformen mit vorangestelltem Subjektpronomen und einmal mit Inversion aus der standardsprachliche Vorlage in der 1. Person Singular zu übersetzen. In der Folge habe ich dann das ganze Paradigma abgefragt.
Die Resultate meiner Erhebung sind teilweise in die Verbalmorphologie des Abschlussbandes zum Forschungsprojekt "Deutsch und Romanisch am Hinterrhein" eingeflossen. Insgesamt aber sind die Verbformen noch nie integral veröffentlicht worden. Eine eigenständige gedruckte Publikation verlangte wohl auch einen Kommentar zu den Paradigmen. Mit der Möglichkeit, Texte auch digital zu publizieren, hat sich allerdings eine neue Verbreitungsform ergeben, die es erlaubt, auch "Materialien" zu veröffentlichen, die vielleicht anderen wissenschaftlich Arbeitenden nützlich sein können. Im Zeichen des zum Teil rapiden Sprachwandels gerade in der Verbalmorphologie stellen die 1988 erfassten Verbparadigmen aber auch ein Brückendokument dar, das spannende Vergleiche zwischen den Aussagen früherer Forschungen und aktuellen Daten zulässt.