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Geht man davon aus, die Aufgabe der Philologie sei eine – wie auch immer geartete – »historische Textpflege«, die auf die »Ermittlung und Wiederherstellung von Texten« abzielt, dann steht die Aufgabe der Wiederherstellung in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Lesbarmachen und der Bewahrung eines Texts: In welchem Maße darf man in einen überlieferten Text eingreifen, um ihn lesbar zu machen? In welchem Maße muss man einen Text in seiner überlieferten Form bewahren? Die Formulierung ›in welchem Maße‹ macht deutlich, dass es sich um eine Frage der Angemessenheit handelt, deren Antwort zum einen davon abhängt, mit welchen Schwierigkeiten sich die Aufgabe der Wiederherstellung des Textes konfrontiert sieht, zum anderen von der gerade vorherrschenden ›Methodenpolitik‹, die gleichsam als »stilgemäßer Denkzwang« fungiert. Konjektur und Krux markieren dabei – so haben wir einleitend erklärt – zwei komplementäre Positionen, zwischen denen die Methodenpolitiken der Editionsphilologie changieren. Die Konjektur, gefasst als »plausible Vermutungen zur Verbesserung des Textes«, ist eine inferentielle Intervention, um einen lücken- oder fehlerhaften Text wieder herzustellen mit dem Ziel, ihn lesbar und verstehbar zu machen. Die Krux, gefasst als indizierte Nicht-Intervention, bewahrt den Text in seiner Unvollständigkeit und Fehlerhaftigkeit – auch auf die Gefahr hin, dass Lesbarkeit und Verstehbarkeit darunter leiden.
Editionen separieren Texte von den Kontexten, in denen sie bei ihrem Entstehungsprozess mit der Hand und technischen Schreibwerkzeugen unterschiedlichster Art geschrieben, als Erstdruck publiziert und von den Zeitgenossen ursprünglich rezipiert worden sind. Zugleich generieren sie, je nach ihren editorischen Prämissen, für die späteren Leser durch die von ihnen vollzogene Selektion, die Anordnung nach Textsorten oder die Anwendung anderer Strukturierungsregeln sowie durch die dabei vorgenommene Hierarchisierung, Kommentierung oder auch Nicht-Kommentierung ihrerseits neue Kontexte und konstruieren so ein bestimmtes, die Rezeption lenkendes Profil von Autor und Werk. Das ist, wie bei anderen prominenten Autoren, auch in der Wirkungsgeschichte Walter Benjamins der Fall. Ich möchte diesem Spannungsverhältnis von Dekontextualisierung und Rekontextualisierung im Folgenden am Beispiel der sogenannten 'kleineren' literaturkritischen Arbeiten - schon das Epitheton ist ein Beispiel für den erwähnten Selektions- und Hierarchisierungsprozess - nachgehen, also anhand der 'Kritiken und Rezensionen', die Benjamin seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in der 'Frankfurter Zeitung', der 'Literarischen Welt' und an anderer Stelle veröffentlicht hat und deren Korpus im Wesentlichen in dem 1972 publizierten dritten Band der 'Gesammelten Schriften' publiziert worden ist. Ich werde mich dabei, in Blick auf den für diesen Beitrag zur Verfügung stehenden Raum, auf die Skizze zentraler Grundprobleme, auf pointierte Thesen und exemplarische Beispiele beschränken – in der Hoffnung, gerade durch solche Verknappung und Pointierung Impulse für eine weiterführende Diskussion der angesprochenen Probleme zu liefern. Einleitend werde ich zunächst einige grundsätzliche Fragen der Benjamin-Edition skizzieren. Im Anschluss daran werde ich die aktuelle Editionslage von Benjamins Arbeiten zur Literaturkritik im Hinblick auf die Leitfrage meines Beitrags, also auf das Spannungsverhältnis von Text(en) und Kontext(en), kritisch analysieren. Schließlich soll anhand einiger ausgewählter Rezensionen exemplarisch gezeigt werden, welche Bedeutung die in der bisherigen Editionspraxis meist ausgeblendeten Kontexte (z.B. Publikations-, Medien-, Wissenschaftskontexte, biografisch-soziale Kontexte, historische und politische Kontexte etc.) für ein Verständnis des Literaturkritikers Benjamin gewinnen können, sofern man ihnen editorisch die gebührende Beachtung schenkt. Dabei werden Umrisse eines neuen und anderen Benjamin-Bildes sichtbar, das sich von dem bisher verbreiteten nicht nur in Nuancen unterscheidet.