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Jacob Grimm war als Mythenforscher ein Experte für die Entzifferung von Verhüllungen und Dissimulationen. [...] Die bedrängte heidnisch germanische Kultur entwickele verdeckende Darstellungsweisen. Die ersten Märchen der Brüder Grimm sind mitten in den Napoleonischen Kriegen aufgeschrieben. Die Schilderungen der Überlebenstaktiken der heidnischen Kultur im dominierenden Umfeld des triumphierenden Christentums erinnern an Partisanentaktiken der Befreiungskriege. [...] Es wird in den folgenden vier Abschnitten darum gehen die Skala der von den beiden Grimms angewandten thematologischen und methodischen Simulations- und Dissimulationstechniken zu benennen mit dem Ziel den Glücksfall einer wissenschaftlichen Fehldeutung für die Poesie zu extrapolieren.
Nach seiner Erfindung um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde der romantische Rhein in Deutschland bald als Abgrenzungskriterium zwischen Deutschland und Frankreich instrumentalisiert. Eine Ursache ist selbstverständlich die politische Situation: Deutschland ist zersplittert und steht unter französischer Besatzung, als sich
Clemens Brentano und Achim von Arnim 1802 auf ihre berühmte
Rheinfahrt begeben und Friedrich Schlegel 1803 auf der Reise nach Frankreich, über die er in seiner Zeitschrift Europa berichtet, den Rhein als Sinnbild Deutschlands entdeckt.
Tragfähig konnte die politische Instrumentalisierung des Rheins allerdings nur deshalb sein, weil sie auf einer seit der Jahrhundertwende schnell angewachsenen und von breitesten Bevölkerungsschichten in Deutschland mitgetragenen Tradition beruhte. Solche Traditionen zu
stiften und damit überhaupt erst so etwas wie eine nationale deutsche Kultur, in Absetzung und Überbietung von anderen, bereits bestehenden Nationalkulturen wie etwa der französischen zu begründen, war eines der Hauptanliegen der romantischen Bewegung. Insofern ist selbst den
Gründervätern des Rheinmythos zumindest indirekt der deutsch-französische Gegensatz als Antrieb nicht fremd.
Goethes "Iphigenie auf Tauris" als Drama der Grenzüberschreitung oder: Die Aneignung des Mythos
(1999)
Iphigenie variiert die mythische Erzählung nicht nur im Rahmen des für den mythischen Diskurs signifikanten Variationsspielraums, sondern sie überschreitet die Grenze von einem mythisch befangenen zu einem aufgeklärt-empfindsamen Selbst- und Weltverhältnis in dem Maße, wie sie im Verlauf der Dramenhandlung ein klares Bewußtsein der Fiktionalität jener mythischen Erzählung erlangt, in deren Horizont auch sie zu Beginn des Dramas ihre eigene Geschichte und Gegenwart noch begreift. Diese Grenzüberschreitung vollzieht sich im Zusammenhang eines Wahrheitsdiskurses, als welcher sich das szenische Geschehen über weite Strecken hin darstellt. Im Konflikt der Selbst- und Weltinterpretationen, in den die Figuren zueinander treten, wird von der Titelfigur her, aber nicht auf sie beschränkt, das Verhältnis von individuellem Selbstentwurf und Autorität der Tradition, dem Mythos, grundsätzlich neu bestimmt.
Abschließend wird zu zeigen sein, wie sich in dieser Horizontverschiebung, in der Neuordnung des Verhältnisses von individuellem Selbstentwurf und Tradition auf der Figurenebene in genauer Weise jener Transformationsprozeß abbildet und reflektiert, welchem Goethe den mythologischen Stoff "auf der epochalen Schwelle, auf der das 'Ende der Ikonographie', der Verlust einer verbindlichen bedeutenden Gegenständlichkeit präsent ist", unterzieht.
Sholem Asch's epic novel "Moses" has been criticized for a number of shortcomings. One of the main reproaches has do with Asch's attempt to present myth as history in a serious and at times "stuffily reverential" style (Siegel 194). Leslie Fiedler compares Asch's retelling of Exodus-Deuteronomy to Thomas Mann's version of Genesis in "Joseph and his Brothers" and argues that Asch, unlike Mann, lacks the irony of Mann's approach which is essential for handling mythological material in the modern age. Fiedler maintains that Mann's novel is superior to Asch's because Mann does not try to modernize the original material by rationalizing it (Fiedler 73-4). While there is much truth in what Fiedler says about "Moses", the contrast between Mann and Asch is not quite so clear-cut. Undoubtedly, the two authors did handle their material in radically different ways. However, both authors were writing modern realistic novels, i.e., they were dealing with a genre that demands structural coherence. And in this respect one must not overemphasize the difference between Asch's and Mann's treatment of myth.
During the last two decades of the 20th century writers gradually returned to traditional narrative methods, though their works were creatively enriched by the incorporation of new tendencies. The results of these efforts show traces of literary postmodernism. One of the representatives of German-language postmodern literature is Sten Nadolny, whose oeuvre is typified by its openness to the plurality and diversity of the world. His novel "Ein Gott der Frechheit" revives ancient gods and mythological figures, revealing the mysteries of old legends; this is viewed as a background to the self-destructive disorientation of contemporary society.
"Es ist wohl eine Regel, daß in gewissen Jahren der Geschmack an allem bloß Individuellen und Besonderen, dem Einzelfall, dem 'Bürgerlichen' im weitesten Sinne des Wortes allmählich abhanden kommt. In den Vordergrund tritt: Das Typische, Immer-Menschliche, Immer- Wiederkehrende, Zeitlose, kurz: das Mythische." Mit diesen Worten umreißt Thomas Mann im Jahre 1942 in seinem Vortrag Joseph und seine Brüder einige Beweggründe für seine fast sechzehnjährige Arbeit an dem "abseitigen, fernliegenden Stoff [...] der biblischen Legende", die er zu einem vierbändigen Romanwerk ausarbeitete. Ein wenig seltsam mutet es hier an, wenn man Thomas Mann, den bürgerlichen Romanautor, der stets darauf bedacht war, eben gerade das ganz Besondere, den nicht alltäglichen Menschen, den Einzelgänger und Außenseiter seinen Lesern vor Augen zu führen, vom "bloß" Individuellen reden hört; ganz so, als seien seine früheren Werke – cum grano salis – lediglich Geburtswehen eines weit größeren Unterfangens gewesen, welches nun endlich im Stande sei, zum Kern vorzudringen, um die nötigen aber überständigen Randerscheinungen hinter sich zu lassen. Thomas Mann führt den Leser sicherlich etwas in die Irre, wenn er hier behauptet, das Interesse am Individuum sei ihm in gewissen – und dies meint späteren – Jahren abhanden gekommen. Der Protagonist seiner Tetralogie, Joseph, scheint doch gerade ein ganz außergewöhnlicher Mensch zu sein, der, mit einigen, später zu erörternden Besonderheiten, eben genau das Individuum par excellence darstellt. Oder verhält es sich in Josephs ganz spezifischem Fall noch etwas komplizierter und seine Besonderheit und das Typische schließen sich gar nicht gänzlich aus?
Verteufelte Humanität und erstaunliche Modernität, mit diesen beiden Begriffen läßt sich die zentrale und doch prekäre Stellung von Goethes Iphigenie im Rahmen der deutschen Klassik umschreiben. Mit dem Versuch einer Neubegründung des griechischen Humanitätsbegriffs steht Goethe dabei nicht allein. Auf vergleichbare Weise entwirft Novalis in den Hymnen an die Nacht ein modernes Bild des Menschen in Auseinandersetzung mit der griechischen Antike. Daher bietet es sich an, den Humanitätsbegriff in Novalis Hymnendichtung und Goethes Iphigenie zu vergleichen, um zu einer kritischen Bewertung der Versuche zu kommen, dem griechischen Mythos ein neues, versöhnliches Gewand zu geben.