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Tagebücher und Notizen sind offenbar Medien, in denen intensiv am Abbau der Unverfügbarkeit in der Selbst- und Weltbegegnung gearbeitet wird und daran, sich selbst 'irgendeine Festigkeit' zu geben. Dabei geht es weniger um konkrete narrative Strategien zur Konstituierung des Selbst, die in jüngeren Identitätstheorien immer wieder eine Rolle spielen, als um das Schreiben über sich als Praktik im Umgang mit tiefem existenziellem Unbehagen. Um diese Praktik genauer in den Blick zu nehmen, soll an den "Carnets" von Albert Camus gezeigt werden, wie das Schreiben über sich als eine Technik verstanden werden kann, mit der Schreibende der Unbeherrschbarkeit der Welt begegnen wollen. Camus' Aufzeichnungen in den Fokus zu rücken, ist deshalb aufschlussreich, weil sich gerade im Kontext seiner 'Philosophie des Absurden' die Frage stellt, wie Subjekte in der grundständigen Überzeugung von der 'transzendentalen Obdachlosigkeit' dafür Sorge tragen, dass sie in und trotz dieser Umstände leben können. [...] Vielmehr zeigen Camus' "Carnets", inwiefern mit der 'Absurdität' der Welt und der damit verbundenen Abnahme von Verbindlichkeitverheißungen auch die Notwendigkeit zur Selbstsorge steigt. Wenn uns nichts mehr beherrscht, dann - so die These - arbeiten Subjekte zumindest nicht weniger nachdrücklich daran, sich selbst zu beherrschen, um (über-)leben zu können, als sie es in den Soliloquien christlicher Prägung bereits taten. Methodisch wird der Versuch unternommen, die in Hans Blumenbergs Mythostheorie zu findenden Kategorien 'Lebensangst' und 'Lebenskunst' mit Michel Foucaults Überlegungen zur 'Selbstsorge' als 'Lebenskunst' zu verknüpfen. Auf diesem Wege soll das Schreiben über sich in Tage- und Notizbüchern als fundamentale anthropologische Praktik in den Blick rücken, mit der der 'Angst' vor dem "In-der-Welt-sein als solche[m]" (Heidegger) begegnet wird. In diesem Sinne schreibt schon der italienische Philosoph Franco 'Bifo' Berardi: "L'impresa umana è comunque sempre simulazione di un fondamento. Di una simulazione pratica ed epistemica." Ebendiese 'Simulation eines Grundes' soll am Schreiben über sich in Camus' "Carnets" profiliert werden.
Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, zu einem vertieften und zusammenhängenden Verständnis von Taijiquan beizutragen, in der praktischen Rezeption in der westlichen Moderne. Ausgehend von der zunehmenden Popularität ostasiatischer Formen der Leibesübungen lässt sich die Frage formulieren, was allgemein von diesen Praktiken zu erwarten sein kann, welche Potentiale und Grenzen mit diesen verbunden sein können, für die individuelle Lebensführung, die soziale Praxis sowie spezifische Anwendungsfelder wie z.B. Schule, Sport oder Arbeit.
Im Zentrum der Arbeit steht eine qualitative empirische Studie, für die folgende forschungsleitende Fragen formuliert wurden:
1. Effekte und Erfahrungen: Welche Wirkungen bzw. Effekte verbinden Langzeitpraktizierende mit Taijiquan auf Basis ihrer Erfahrungen?
2. Hermeneutik: Welche Bedeutung, welchen Sinn schreiben Langzeitpraktizierende im Taijiquan ihrer Taijiquan-Praxis zu?
In zwei Erhebungsregionen wurden insgesamt 20 qualitative Interviews mit einer Dauer von je ca. 50 bis 100 Minuten geführt. Zentrales Rekrutierungskriterium war die individuelle Dauer der Taijiquan-Praxis (mindestens 3 Jahre).
Das Datenmaterial wurde in einem dreistufigen Verfahren analysiert:
1. zusammenfassende strukturierende inhaltsanalytische Auswertung mit Kategorienbildung,
2. hermeneutisch orientierte Analyse auf Basis einer multi-disziplinären Heuristik aus anthropologisch-philosophischen Konzepten, Ansätzen der Selbstkultivierung / Lebenskunst, leibphänomenologischen und körpersoziologischen Konzepten sowie Positionen der Sport- / Bewegungspädagogik,
3. phänomenologisch orientierte Analyse spezifischer Erfahrungsbereiche.
Die Befunde weisen darauf hin, dass Taijiquan vor allem in langjährigen Übungsbiographien (≥ 10 Jahre) als eine „leibhafte Lebenskunst“ verstanden werden kann: Die leiblich-transformatorischen Effekte und die Inkorporierung philosophischer Vorstellungen durchdringen Selbst und Lebenspraxis. Die Befragten erfahren in der Regel leibliche Zustandsveränderungen, die mit einem Wandel von Haltungs-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern in Lebensvollzügen einhergehen.
Aus der Perspektive der westlichen Moderne erscheinen vor allem die empirischen Hinweise auf die Ausbildung eines selbstbewahrenden bzw. selbstökologischen Verhaltens, einer leiblichen Intelligenz sowie veränderter sozialer Interaktionsweisen relevant, weil hierin Potentiale zu sehen sind, die Aufgabe des Leibseins in modernen Gesellschaften zu unterstützen.
Gleichwohl bedürfen die Befunde einer vertieften kritischen Reflexion aus soziologischer, pädagogischer und ethischer Perspektive.
Zudem besteht weiterer Forschungsbedarf, u.a. um (a) die Ergebnisse kurzfristiger bzw. weniger intensiver Praxen zu evaluieren, (b) weiterführende Vergleiche mit anderen Leibespraktiken sowie zum Sport bzw. westlich orientierten Bewegungskonzepten zu ermöglichen und (c) geeignete Programme zu identifizieren, die die Ausbildung von Selbstökologie und leiblicher Intelligenz in unterschiedlichen Handlungsfeldern unterstützen.