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Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.
Spinnenbrille, Dog-Cam und Gassi mit Ziege : Reflexionen über ein tierlinguistisches Projektseminar
(2022)
In her article, "Spinnenbrille, Dog-Cam und Gassi mit Ziege: Reflexionen über ein tierlinguistisches Projektseminar" ("Spider-Glasses, Dog-Cams, and Walkies with a Goat - Reflections on a Project Seminar on Animal Linguistics"), Pamela Steen describes a linguistics seminar that she taught in the summer semester of 2020 at the University of Koblenz-Landau. The author offers a general classification of pragmatic linguistics in HAS in order to justify its categorization as a sub-discipline of cultural animal studies. Steen pays special attention both to the creative methods participants use to incorporate animal perspectives into their research and to the aspect of empathy for animals. This aspect is not only a central linguistic feature but also relevant to the researcher's perspective. A particularly sophisticated method of empathizing with animals are the "spider glasses" developed by a student of Steen's seminar, Katharina Anna-Lena von Werne. In excerpts from her research report, von Werne describes how she sees the world "through the eyes of a spider" and what personal changes this has brought about for her in relation to nonhuman animals.
In "Jagd oder die Kultivierung der Gewalt: Tierethische Sensibilisierung anhand der Filme 'Die Spur' und 'Auf der Jagd'" ("Hunting or the Cultivation of Violence: Sensitizing Students to Animal Ethics using the Films 'Spoor' and 'On the Hunt'"), Björn Hayer proposes an intervention that allows students to understand hunting as a cultural practice and its representation in contemporary film, and to develop greater compassion for nonhuman animals. Arguing that it is possible to relate the cognitive and affective educational goals listed in several secondary school curricula with the objectives of HAS as defined by Gabriele Kompatscher, Hayer sketches a teaching sequence that focuses on two texts featuring hunts: Agnieszka Holland's "Pokot" ("Spoor", the 2017 screen adaptation of Olga Tokarczuk's novel "Drive Your Plow Over the Bones of the Dead") and Alice Agneskirchner's 2018 documentary "Auf der Jagd". Framing his nuanced readings of these two films with recent debates on hunting and animal ethics, Hayer shows that this approach allows secondary school students to develop a better understanding of cinematography. In addition, students also discover how cinematic animals can be used to elicit different cognitive and affective responses that may lead to the development of an ethical regard for nonhuman animals. Contributing to both the literature on animals in film and on related pedagogies, Hayer proposes an approach that could easily be implemented both in secondary schools and in various other educational contexts and settings.
Tiere im imperialen Diskurs : die Human-Animal Studies als Unterrichtsparadigma für das antike Rom
(2022)
Steffensen combines human-animal studies with the concept of new political history to explore innovative perspectives for teaching Roman history. He thus provides a framework that allows students to further their understanding of the political dimensions of historical consciousness and to enhance their orientation competency. Students learn to recognize and analyze power structures and relationships in historical and contemporary societies. According to Steffensen, HAS is of utmost significance for the initiation of this process. Animals played important roles in political decision-making processes in ancient Rome, and animals were meaning-making figures in governance discourses. Focusing on the practical and semantic functions of animals in the context of divination and the discourse of decadence, this essay shows that HAS can serve as a starting point for teaching in a way that addresses the formation and utilization of empire. However, Steffensen does not only seek to promote students' understanding of political processes in the past but also hopes to motivate students to assess modern-day politics.
Ökologie
(2022)
Als die Ökologie 1866 von Ernst Haeckel aus der Taufe gehoben, d. h. offiziell zu einer biologischen Teildisziplin ernannt wird, gehört die Annahme einer 'ganzen Natur' zu ihren zentralen Glaubenssätzen. Der vielseitig tätige Haeckel betrachtet die Natur als ein "überall zusammenhängendes 'Lebensreich'", das von einer gleichbleibenden Substanz getragen und beseelt wird. In einer gewissen Spannung zu diesem versöhnlichen Bild stehen manche Aspekte von Haeckels ökologischer Lehre. Beschrieben werden dort die wechselseitigen Einwirkungen von Organismus und Umgebung sowie der Organismen untereinander, und diese Interaktionen können durchaus feindselig ausfallen. [...] Haeckels Ausführungen markieren nicht nur den nominellen Auftakt der biologischen Ökologie, sie läuten auch bereits die wechselvolle Karriere von Ganzheitsbegriffen innerhalb dieses Forschungsfeldes ein. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich dabei insofern ausmachen, als der Kategorie des Ganzen hier eine spezifische Funktion zukommt: Sie dient dazu, den größeren Zusammenhang zu benennen, innerhalb dessen die Wechselwirkungen in der Natur, welche dies im Einzelnen auch sein mögen, beschreibbar werden. Denn von Haus aus hat es die Ökologie nicht mit isolierten Individuen zu tun, sondern mit den Bezügen, die zwischen diesen und ihrer Außenwelt bestehen. [...] Hinzu kommt, dass sich auch das Verständnis des Ökologischen selbst in den letzten rund 50 Jahren gravierend gewandelt hat. 'Ökologie' bezeichnet seither nicht mehr allein eine biologische Teildisziplin, sondern eine Weise des Denkens, die auf Relationalität im weitesten Sinn bezogen ist, die sich also mit Beziehungsgefügen, Verbundenheiten und Inklusivität befasst. In diesem erweiterten Verständnis hat die Ökologie seit den 1960er Jahren, besonders aber seit der Jahrtausendwende in den verschiedensten Wissens- und Anwendungsfeldern Einzug gehalten. Während Forschungszweige wie der vor etwa drei Jahrzehnten institutionalisierte 'Ecocriticism' noch explizit an die Leitbilder des Naturschutzes und der Umweltethik anknüpfen, hat sich das ökologische Denken inzwischen vielerorts aus dem durch 'Natur' bestimmten Bezugsrahmen herausgelöst. Dies geht mit einer Problematisierung der Annahme einher, dass es so etwas wie eine 'erste' Natur, auf die sich Ökologie exklusiv zu beziehen hätte, überhaupt geben kann. So lässt sich gegenwärtig einerseits eine kaum noch überschaubare Diversifizierung des ökologischen Denkens feststellen, während andererseits Ansätze zu einer 'allgemeinen Ökologie' entwickelt werden, die die vielfältigen ökologischen Phänomene ontologisch, d. h. unter dem Gesichtspunkt des 'ganzen Seins', zu erfassen suchen.
Mit ontologischen Problemen des Ganzen beschäftigt sich Robert Matthias Erdbeer in seiner Untersuchung des modernen Computerspiels. Er knüpft dabei an moderne Spielkonzeptionen von Schiller über Gadamer bis hin zu Wolfgang Iser an, die das Spiel als Vermittlung von Verstand und Sinnlichkeit, Notwendigkeit und Freiheit, v. a. aber in der Koppelung von Vorhandenem und Möglichem einer außerordentlichen "ontologischen Belastung" ausgesetzt hätten. Diese Belastung setze das Computerspiel in seinem eigenen Medium konsequent um und fort. Beim Gaming gehe es um eine grundlegende "Inszenierung von Handlungsmodalität" im Sinn einer "kohärenten Selbst- und Welterfahrung". Ganzheit komme dabei insbesondere über das Weltmodell der virtuellen Storyworld, über das Selbst als Avatar und in der Reflexion und Gestaltung des Spiels als Integral der Medienkünste zum Ausdruck.
Dimensionen des Werkbegriffs
(2022)
Ingo Meyer fragt nach Ganzheitsvorstellungen mit Bezug auf den Werkbegriff von der ästhetischen Theorie seit dem 18. Jahrhundert bis in die zeitgenössische kunst- und literaturwissenschaftliche Schulenbildung hinein. Obwohl (oder weil) das Werk an materielle Träger gebunden sei und zwingend der Realisation bedürfe, begreift Meyer es als "ontologischen Skandal". Klassische Zuschreibungen an das Werk wie 'Mikrokosmos', 'Äquilibrium' oder 'Harmonie' sowie überhaupt die aus ganz unterschiedlichen Richtungen an das Kunstwerk herangetragene Forderung nach "Kontingenzvernichtung" forderten die Frage nach seinem ontologischen Status stets aufs Neue heraus. Seinen vielleicht privilegiertesten Ausdruck findet das Problem Meyer zufolge in der Kategorie der Werkgenese, die keineswegs einfach als Produktionsästhetik (miss)verstanden werden dürfe. Die Irritation darüber, dass das Werk überhaupt 'da' sei, könne nicht mit Gattungsordnungen, Kanonisierungsreflexionen, Marketingstrategien oder klassischen Dichotomien wie Produktions- und Rezeptionsästhetik stillgestellt oder unsichtbar gemacht werden. Vielmehr gelte: "Das Paradoxe am Kunstwerk aber ist der Umstand, dass mit zunehmender Elaboriertheit seine Unbestimmbarkeit zunimmt, völlig konträr zu Handwerk oder Wissenschaft."
Stefan Willer fragt nach den Ganzheitspostulaten enzyklopädischen Wissens vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Ganzheit begreift er dabei als eine Kategorie, die von unterschiedlichen Formen der Enzyklopädie erst hergestellt werden müsse und die hier besonders intensive Verbindungen zu Phänomenen wie 'Summe', 'Gesamtheit' oder gar 'Überfülle' unterhalte. Dies zeige sich vornehmlich am Problem enzyklopädischer Ordnungsmuster, die auf "die Registrierung, Sortierung und mitunter auch Systematisierung von Wissen" abheben und sich schnell mit der Frage nach einer Begrenzbarkeit dieses Wissens konfrontiert sehen. Eine zusätzliche Schwierigkeit für Enzyklopädien stelle das Verhältnis der verzeichneten Realien zur Medialität der Sprache dar. So gelte es etwa für Diderot als ausgemacht, dass die Sprache aufgrund ihrer fehlenden Systematizität "nur eingeschränkt als Medium der Wissensdarstellung geeignet" sei. Willer beleuchtet die Affinitäten zwischen Enzyklopädie und Roman, der seinerseits oft auf "Totalisierung", auf den "Einschluss heterogener Elemente" und auf die "Überschreitung jeglicher Gattungslogik" verpflichtet worden sei, und lässt seine Überlegungen in eine Lektüre von Flauberts Roman "Bouvard und Pécuchet" einmünden, in dem die enzyklopädische Anhäufung von Wissen auf Handlungsebene zwar als ziel- und nutzlos klassifiziert werde, sie sich auf der Ebene der Textkonstitution jedoch zugleich als unabdingbar erweise. Den Anspruch auf Ganzheit oder Vollständigkeit des Wissens kündige Flauberts Roman folglich nicht einfach auf. Vielmehr stelle er einen "Widerspruch zwischen der textkonstitutiven und der poetologischen Funktion von Wissen" zur Schau.
Wissenschaft
(2022)
Georg Toepfer wendet sich Ganzheitsidealen der Wissenschaft und ihrer Theorie von der Antike bis zur zeitgenössischen Wissensgeschichte zu. Ganzheit kann dabei auf unterschiedlichen Ebenen zum Tragen kommen. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit ihrer inneren Einheit auf methodologischer Ebene, sie fragt nach der Ganzheit oder Ganzheitlichkeit ihrer Gegenstände (im Rahmen etwa einer Überwindung des Leib-Seele-Dualismus), sie kann eine Summe aller Wissenschaften als Ganzheit in Aussicht stellen oder den Versuch unternehmen, eine Einheit oder Ganzheit der gesamten Menschheit zu befördern. Insgesamt sei festzuhalten, dass Forderungen nach einer Einheit der Wissenschaft verstärkt zu Zeiten aufkämen, in denen sich epistemologisch wie praktisch das exakte Gegenteil beobachten lasse. Auch wirke die Ganzheitsrhetorik der Wissenschaft "mitnichten integrativ", sondern arbeite im Gegen teil oft "mit massiven Ausgrenzungen". Das Ganzheitsproblem habe die wissenschaftliche Selbstreflexion oft auch hinsichtlich ihrer eigenen Visualisierbarkeit beschäftigt. Dies findet seinen Niederschlag in frühneuzeitlichen Diagrammtypen wie dem Baum, dem Haus oder dem Bergwerk, in der zweidimensionalen Landkarte der 'Encyclopédie' oder in einer von Jean Piaget noch im 20. Jahrhundert bearbeiteten Kreisfigur. Solche Formen des Ganzen offenbarten die "Simplifikation" des wissenschaftstheoretischen Zugriffs und müssten oft ganze Wissensbereiche ausschließen; im Fall Piagets etwa die kompletten Geisteswissenschaften.