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Apokalypse
(2016)
Die Apokalypse ist eines der wirkungsreichsten Zukunftsnarrative der abendländischen Tradition. In Anlehnung an die neutestamentliche Johannes-Apokalypse bezeichnet das Wort die Offenbarung (von gr. 'apokályptein', 'enthüllen') der letzten (göttlichen) Wahrheit am Ende der Zeiten. Vom Moment der Enthüllung an ist die Zeit nicht mehr, was sie war: Sie wird in Ausblick auf das unausweichliche Zukünftige gedeutet und bekommt einen 'anderen' Sinn, der auf Vollendung hin ausgerichtet ist. Dieser Weltsicht entspricht der Glaube an die christliche Heilsgeschichte, deren Wesen und deren Verhältnis zur chronologischen Zeit im Rahmen der Eschatologie interpretiert und gedeutet wird (von gr. 'ta éschata', 'die letzten/äußersten Dinge', was in mehrere Richtungen zu verstehen ist).
Der Untertitel meines Textes spielt offensichtlich mit einer Phrase Martin Heideggers, die häufig verkürzt wie eine simple sprachliche Gleichung formuliert wird: Herkunft = Zukunft. Der "Primat der Zukunft", die Akzentuierung des herzustellenden Werks, welche die Vergangenheit der kommenden Zeit unterwirft, ist eine rhetorische und epistemische Figur, die ich einerseits aus spezifisch medienarchäologischer Sicht kommentieren, anderseits mit einem Erweiterungsangebot bedenken möchte, das auf aktuelle kulturtechnische Sachverhalte reagiert. Die Unterwerfung des gerade Vergangenen unter die Anforderungen des Künftigen als eine Geste gleichsam ökologischer Verkoppelung. Kulturproduktion im Energiesparmodus: Die Avantgarde – wenn man diesen Begriff noch verwenden darf – wird durch die Nutzbarmachung und schöpferische Neuinterpretation der vergangenen Gegenwarten brisant und mitunter brillant, wenn sie den Transformationsprozess in ästhetisch überzeugender Manier zu schaffen in der Lage ist. Ich diskutiere das Thema in vier Abschnitten: zwei Hinführungen über einen Umweg, einem exemplarischen Mittelteil und einer vorsichtig verallgemeinernden Bewegung als Ausgang, die keinesfalls als letztes Wort in unserem Kontext begriffen werden möchte, sondern als Beginn einer Diskussion.
Konjektur
(2016)
Zu Beginn seines Buches 'Die Kunst der Vorausschau' umreißt Bertrand de Jouvenel nicht nur sein Projekt der "Futuribles", das er als Alternative zu Ossip K. Flechtheims "Futurologie" in Anschlag bringt, sondern reflektiert auch das Vokabular seiner Untersuchung – insbesondere den Begriff der Vermutung, der in der französischen Ausgabe titelgebenden Charakter hat: 'L’Art de la Conjecture' heißt Jouvenels 1964 erschienenes Buch im Original – und spielt damit explizit auf Jacob Bernoullis 1713 erschienene 'Ars Conjectandi' an. Stand coniectura im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Denken als Chiffre vorläufiger menschlicher Mutmaßung im Gegensatz zu überzeitlichem göttlichem Wissen, so findet mit Bernoulli eine radikale Mathematisierung der "Konjekturalphilosophie" statt: Die 'Conjectura' ist als "wahrscheinliche Meynung, so aus gewissen Umständen entstehet und herrühret", nunmehr das Ergebnis einer komplexen Berechnung von Wahrscheinlichkeiten, die, losgelöst von empirischen Raum-Zeit- Verhältnissen, als kontingentes Spiel möglicher Ereignisse in möglichen Welten kalkuliert werden. Damit nimmt die Konjektur – wörtlich: das 'Zusammenwerfen' – einen epistemischen Zwischenraum im Spannungsverhältnis von Spekulation und Kalkulation ein, der ihre epistemologische Stellung bis heute bestimmt: Die 'Ars Conjecturandi' wird zur Grundlage von statistischen Theorien, "for assessing the probability of hypotheses in the light of data". Das heißt zugleich: Der Charakter der Konjektur wird nicht mehr allein durch die spekulative Annahme möglicher Ereignisse konfiguriert, sondern durch komplexe Kalkulationen, denen die Aufgabe zufällt, die mögliche Welt der Mutmaßung mit der wirklichen Welt zu verzahnen – vermittelt über eine "Zwischentätigkeit", nämlich das "Bauen von Modellen", die gleichsam ein Repertoire von präsumtiven Vorannahmen bereitstellen. Der Wechsel von einer Erkenntnistheorie, die ihre Wahrheiten im Rekurs auf eine göttlich gesicherte Weltordnung ermittelt, hin zu einer Erkenntnistheorie, die bloß vorläufige Wahrheiten in Relation zu selbst gebauten Modellen finden kann, impliziert einen Wechsel im "konjekturalen Paradigma". Aus einem mantischen Divinationskonzept, das anhand von signalhaften 'Vorzeichen' den göttlichen Willen zu erraten sucht, wird ein profanes Konzept des Aufstellens von Hypothesen, das sich bei der Deutung symptomatischer Anzeichen an den kalkulierbaren Prinzipien der Wahrscheinlichkeit und der Glaubwürdigkeit orientiert – und zwar sowohl im Rahmen von Diagnosen als auch im Rahmen von Prognosen.
Die amerikanische Hardcore Punk Szene wird bis heute als eine antirassistische Rebellion gegen das Wiedererstarken konservativer Wertvorstellungen wahrgenommen. Hardcore Punk entwickelte sich in den USA aus der Stilrichtung des Punkrock und hatte seinen Höhepunkt in den 1980er Jahren. Dabei wurde sowohl der lyrische Inhalt als auch die musikalische Form des ursprünglichen Genres radikalisiert und die subkulturelle Identität maßgeblich über körperbetonte und expressive Bühnenauftritte konstituiert. Die Hardcore Punk Szene inszenierte sich vornehmlich als prekäre und stigmatisierte Gesellschaftsschicht, um von dieser Position aus eine vermeintlich antirassistische Grundhaltung zu propagieren. Die Tatsache, dass diese Szene jedoch fast ausschließlich aus weißen, männlichen und der Mittelschicht zugehörigen Jugendlichen bestand, wirft Fragen hinsichtlich der etablierten, politisch eindeutigen Verortung als subversiver Bewegung auf.
Im vorliegenden Versuch nehme ich mehrere Schritte: Zunächst spreche ich über das Innenleben staatlicher Archive und zwei Typen von Papierorganismen. Zum einen geht es dabei um die Wahrnehmung der materiellen Gestalt bürokratischer Vorgänge und der spezifischen Zeitlichkeit, die sie verkörpern. Zum anderen um die Angst vor deren Zersetzung durch biologische Organismen. Das wäre der zweite Typ von Papierorganismus. In einem weiteren Schritt geht es mir darum, diese stummen Geschichten aus dem Inneren der Archive als Ausgangspunkt für ein Modell historischer Zeiten zu nehmen, das die Materialität der Archive als solide und konkrete Metapher auffasst, das also die metaphorische Bedeutung aus der Materialität des Geschriebenen bezieht. Ein Modell, das etwas weniger spekulativ, etwas weniger philosophisch ausgerichtet ist, als etwa Reinhart Kosellecks, dafür aber umso mehr dazu anregt, eine Theorie historischer Zeiten und empirische Forschung einander anzunähern. Das Archiv der Bürokratie dient hier freilich lediglich als Modell, um an einer Form der verkörperten Vergangenheit materielle Eigenzeitlichkeit als beweglichen Untergrund der Geschichtsschreibung zu denken. Andere Archive erfordern freilich entsprechend andere Forschungsstrategien.
Wunsch
(2016)
Wünsche sind gedanklich-sprachliche Repräsentationen von abwesenden Dingen oder Zuständen, deren Anwesenheit für den Wünschenden erstrebenswert – 'wünschenswert, wünschbar' – ist. Dabei ergibt sich eine enge Verbindung von Wünschbarkeit und Zukünftigkeit: Es gehört zum Charakteristikum vieler Wünsche, dass in ihnen das Erwünschte als 'noch nicht' anwesend, aber als in Zukunft erreichbar vorgestellt wird. Ein solches Herbeiwünschen eines zukünftigen Zustands kann auf möglichst vollständige Befriedigung abzielen, etwa wenn das Aussprechen eines Geschenkwunsches – oder auch seine Niederschrift auf einem Wunschzettel – dafür sorgen soll, dass man später genau die gewünschte Gabe erhält. Am theoretisch namhaftesten findet sich diese Reduktion des Wünschens auf den Augenblick seiner Erfüllung in Sigmund Freuds Deutung des Traums als einer „Wunscherfüllung“, die „bequem“ und „vollkommen egoistisch“ gewährt werden könne.
Zeitreisender
(2016)
Mit dem Begriff Zeitreise wird die Vorstellung ausgedrückt, dass man sich durch die Zeit auf eine wie auch immer geartete Weise bewegen kann, indem man von einer Stelle zu einer anderen reist. Eine Zeitreise verbindet also zwei (oder mehr) Orte in der Zeit. Im weiteren Sinn wäre jeder Lebenslauf eine solche Reise vom Zeitort der Geburt bis zum Zeitort des Todes. Im engeren Sinn ist jedoch für Zeitreisen eine zeitliche Diskrepanz zwischen persönlicher Zeit und externer (äußerer, umgebender) Zeit zu veranschlagen: Obwohl ein Zeitreisender Minuten, Stunden oder Jahrtausende in der externen Zeit überbrücken kann, läuft seine persönliche Zeit, seine Lebenszeit kontinuierlich weiter.
Stratege
(2016)
Strategen sind Zukunftsautoritäten von besonderer Ausprägung. Ihr Zukunftswissen ist entschieden 'hierarchisch', insofern es sich auf die Leitung und Führung einer mehr oder weniger großen Gruppe anderer Menschen richtet, und es ist entschieden 'agonal', insofern es sich auf die Übervorteilung eines Gegners richtet. Beide Charakteristika stehen in einer notwendigen Wechselbeziehung miteinander: Die vom Strategen geleitete Menschengruppe wird mit dem Ziel geführt, eine gegnerische Gruppe zu besiegen, die ihrerseits zu demselben Ziel ebenfalls von einem Strategen angeleitet wird. In dieser Zielhaftigkeit liegt die wesentliche Zukünftigkeit strategischen Planens und Handelns; der Stratege will also immer Teleologe sein. Sein Ziel ist aber prinzipiell doppelt: einerseits das anvisierte 'target' einer konkreten strategischen Operation, andererseits der Erfolg, auf den diese Operation – oder die Summe mehrerer Operationen – letztlich hinführen soll. Die doppelte Zukünftigkeit des eher kurzfristigen Vorausplanens und der eher langfristigen Zielvorgabe stellt ein Kernproblem fast jeder Strategie dar.
Weltkulturerbe
(2016)
In der 1972 verabschiedeten 'World Heritage-Konvention' der Unesco gelobt jeder der Unterzeichnerstaaten "Erfassung, Schutz und Erhaltung in Bestand und Wertigkeit des in seinem Hoheitsgebiet befindlichen […] Kultur- und Naturerbes sowie seine Weitergabe an künftige Generationen". So wie in dieser Formel, ist das Konzept des 'Erbes' auch sonst begriffs- und diskursgeschichtlich mit dem der intergenerationellen Übertragung verknüpft. Das gilt für alle drei Aspekte des Erbe-Begriffs, wie er sich – in eben dieser Dreigliedrigkeit – seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat: für die zivilrechtlich kodizifierte Eigentumsübertragung, für die biologische Weitergabe von Eigenschaften (bzw. deren Anlagen) und für die kulturelle Traditionsbildung. Was aber heißt es eigentlich, Praktiken der Weitergabe von 'Kultur' mit der Bezeichnung 'Erbe' zu belegen?
Vom Wünschen
(2016)
Es freut mich, dass ich bei der Gelegenheit meiner Antrittsvorlesung über ein Thema sprechen kann, das es mir schon lange angetan hat: das Wünschen. Ich werde gleich in einem einleitenden Abschnitt skizzieren, wie ich den Umfang und Inhalt des Themas bestimme und welche Fragen sich für mich daran anschließen. Hauptsächlich möchte ich mich dann auf einen Aspekt konzentrieren, der meiner Professur hier am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin besonders entspricht. Das Fachgebiet lautet "Kulturforschung mit Schwerpunkt Wissensgeschichte", und deshalb möchte ich in dieser Antrittsvorlesung vor allem über den Zusammenhang von Wünschen und Wissen sprechen, und somit auch über die Spannungen zwischen beidem. Es soll um die Frage gehen, was man vom Wünschen wissen kann, um die Frage, wie Wünschen das Wissen initiiert oder antreibt, aber auch darum, wie es das Wissen behindern oder sogar verhindern kann.