Refine
Year of publication
Document Type
- Part of a Book (44) (remove)
Language
- German (44) (remove)
Has Fulltext
- yes (44)
Keywords
- Goethe, Johann Wolfgang von (44) (remove)
Institute
- Extern (6)
Im Wesentlichen liefern die beiden Romane - dies soll im Folgenden gezeigt werden - Beispiele für eine Kontinuitätsthese, die Martin Weiß als Lesart benennt: die Fortführung bzw. das unsichtbare (Wieder-)Aufgehen souveräner Macht im biopolitischen Regulieren und Disziplinieren. Um die 'verbundene Polarität' plastisch werden zu lassen, wähle ich die Metapher des Gängelbands als Veranschaulichung, die eine doppelte Lesart in sich vereint: Zum einen steht sie für einen lebenssichernden, biopolitischen Eingriff, der trotz Kontrolle durch die charakteristische 'Steigerung des Lebens' ein repressives Movens ausschließt; zum anderen erweist sie sich als gleichsam rückläufiges Modell, das das 'alte Recht' der autoritären Zucht rehabilitiert. In diesem historischen Rahmen "gesellschaftlicher Transformationsprozesse", manifestiert sich ein (anti-)biopolitisches Wechselspiel. Dieses Spannungsverhältnis findet sich als literarische Reflexion nicht nur in Grosses Roman, sondern auch in Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" (1795/1796). Die Protagonisten beider Romane treffen auf sektenähnliche Gruppen, die sie wie am Gängelband führen und so direkt in das Leben der 'Jünglinge' eingreifen. Wie sich dies genau ausgestaltet, soll sich in der folgenden Analyse zeigen.
Carlos Spoerhase wendet sich dem Verhältnis von Teil und Ganzheit im Denken der literarischen Form zu. Für die Imagination ganzheitlicher Werke - als Paradebeispiel dient Spoerhase die Shakespeare-Apologie der Romantik - sei nicht allein die Vollständigkeit der Teile und ihr ausgewogener Bezug zum Ganzen, sondern auch die Beziehung der Teile untereinander zentral. Zwar erfolgten literarische Ganzheitsvisionen immer wieder über Analogien mit dem Menschen, der Architektur oder biologischen Systemen. In der Regel garantiere aber ein "nichtsinnliches Prinzip, das im Innern des Werkes situiert wird", erst dessen "ganzheitliche Formstiftung". Anders als es etwa die Prominenz der stabilen Unterscheidung zwischen 'System' (als Musterbeispiel geschlossener und einheitlicher Ganzheit) und 'Aggregat' (im Sinne einer lockeren Anhäufung) in der Dichtungstheorie um 1800 suggeriere, würden literarische Werke zwangsläufig keineswegs mit "maximalen Einheitlichkeitszuschreibungen" versehen. An Goethes Poetik etwa lasse sich das Bemühen um eine "Gradierung von Ganzheit" ablesen. Ganzheit ist demnach weniger eine den Teilen vorangehende oder übergestülpte Totalität. Vielmehr sind es die unterschiedlichen und vielfältigen Verknüpfungsweisen der Teile, die über Art und Konzeption der Ganzheit literarischer Werke entscheiden.
Gestalt
(2022)
Das Bedeutungsspektrum von 'Gestalt', diesem Inbegriff eines Abgeschlossenen, in sich Gegliederten, aber nur als Ganzes Wahrnehmbaren, ist um 1800 noch erstaunlich breit.[...] Auch den 1890 vom Gestalttheoretiker Christian von Ehrenfels fixierten "Gestaltqualitäten", zu denen vor allem gehört, dass eine Gestalt die Summe ihrer Teile übersteigt, kommt um 1800 noch keine privilegierte Stellung zu. Während das "Historische Wörterbuch der Philosophie" für jene Zeit zwar auch ein Dutzend Spezifikationen verzeichnet, 'Gestalt' aber exklusiv als ästhetischen und psychologischen Grundbegriff ausweist, hat Dagmar Buchwald in ihrem Eintrag für die "Ästhetischen Grundbegriffe" darauf hingewiesen, dass Gestalt in der mechanistischen Festkörperphysik der Zeit als Prädikat der 'res extensa' zu deren messbaren Attributen hinzutritt, ohne aber "in den Rang eines Standards" aufzusteigen. Die Differenz zwischen diesem und dem idealistisch überhöhten Gestaltbegriff "ist der Goethe-Zeit eingeschrieben", bezeichnet also ein Spannungsfeld, das erst später und besonders in der Zwischenkriegszeit den exklusiven Ganzheitsansprüchen der Gestalt weicht. [...]
Dagmar Buchwald zufolge "läßt sich die Geschichte des Begriffs Gestalt auch als Warnung vor einem 'Kult' um die Gestalt lesen." Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Kult um die Gestalt einer begriffshistorischen - wie überhaupt einer begrifflichen - Reflexion der Gestalt abträglich bleibt. Für eine Konkurrenz zwischen Kult und Begriffsschärfe sind die wissenschaftlichen Überlegungen, die in den 1910er und 1920er Jahren im Umfeld Stefan Georges zum Phänomen der Gestalt angestellt wurden, aufschlussreich und symptomatisch in einem. 1911 von dem Historiker Friedrich Wolters im "Jahrbuch für die geistige Bewegung" programmatisch lanciert, treibt die Gestalt bald in den germanistischen Schriften Friedrich Gundolfs und später auch Max Kommerells ihre Blüten. [...]
"Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile" - dieser Satz, eine stark verkürzte Passage aus Aristoteles' "Metaphysik", wird wie wohl kaum ein zweiter mit der Gestaltpsychologie assoziiert. Ähnlich hartnäckig mit ihr in Verbindung gebracht werden allenfalls noch 'Kippfiguren', also visuelle Reize, die abwechselnd mindestens zwei einander ausschließende Gesamteindrücke provozieren. In dieser assoziativen Verkürzung mag Gestaltpsychologie wenig konturiert oder banal anmuten, weil darin ihre historische Entstehungssituation und damit ihr radikaler, epochemachender Perspektiv wechsel unterschlagen wird. [...]
Die Tradition des Gestaltbegriffs, von Goethe bis zur Gestaltpsychologie, lässt sich der breiteren philosophischen Grundausrichtung des Holismus zuordnen, dessen Widerpart ist der Atomismus. Diese Differenz wird im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert dort problematisch, wo holistische Gegenstandsfelder in atomistisch operierende technische Systeme umgesetzt oder durch sie simuliert werden sollen. Nirgends zeigt sich der Zusammenstoß beider Paradigmen besser als in der fortdauernden Auseinandersetzung um die Begriffe und Vorgehensweisen zweier der jüngsten Disziplinen des letzten Jahrhunderts, der Informatik und der Kognitions- bzw. Neurowissenschaft. Dieses Spannungsverhältnis wird vor allem am Forschungsdiskurs um die Künstliche Intelligenz (KI) seit den 1940er Jahren deutlich, der hier nachgezeichnet werden soll.
Mit Berührung als Phänomen der Grenze und Entgrenzung befasst sich Sandra Fluhrer, und zwar in Texten, die Erscheinungen der Pflanzenwelt in Verbindung mit dem taktilen Sinnesvermögen des Menschen bringen. Ihr Beitrag untersucht Berührung als "exzentrische Denkfigur" in Johann Wolfgang von Goethes Morphologie, Emanuele Coccias "Philosophie der Pflanzen" und in der politischen Anthropologie Helmuth Plessners. Der "Metaphysik der Mischung" in Coccias Pflanzenlehre, die Fluhrer als Aktualisierung der Goethe'schen Metamorphosen und als Gegenwehr zu einem aktuellen Identitäts- und Grenzdenken liest, stellt sie Plessners auch gesellschaftliches Interesse an einem "Berühren auf Distanz" und "exzentrischer Positionalität" zur Seite, das ebenso statische Identitätsvorstellung zurückweise.
Pirsig und die Deutschen
(2019)
Der US-Autor Robert M. Pirsig hat zwei philosophische Romane über die Qualität geschrieben: "Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten: Ein Versuch über Werte" (1974) und "Lila – Oder ein Versuch über Moral" (1991). Beide sind literarische Experimente, die mit der deutschen Literatur und Philosophie zwar subtil, aber eng verbunden sind. Der Beitrag möchte diese Verbindungen aufzeigen und charakterisieren.
Der Artikel diskutiert die Arbeit von Paläopathologen, die diverse Krankheiten von Menschen der Vormoderne mittels mikroskopischer Untersuchungen an ihren Skeletten nachweisen können. Anhand der Befunde eines 4300 Jahre alten Skelettes erzählt die SZ-Autorin eine überraschend detaillierte, wenn auch knappe Lebensgeschichte eines Menschen - sie bettet die wissenschaftlichen Ergebnisse in ein Narrativ ein.
Exoterisch / Esoterisch
(2018)
Goethe ist der Verfasser der einzigen historischen Untersuchung, die konsequent auf der Unterscheidung von 'exoterisch/esoterisch' beruht. Seine 1810 publizierte Schrift "Zur Farbenlehre" schließt mit einem "Historischen Teil", in dem "Materialien zur Geschichte der Farbenlehre" zusammengetragen sind. Wie wenig sich die Literatur mit diesem Abschnitt beschäftigt hat, erweist sich bereits beim Aufschlagen des "Historischen Teils". Denn wer Auskunft über den Autor des lateinischen Eingangszitats begehrt, wird bitter enttäuscht. Darüber weiß die Sekundärliteratur schlicht und einfach nichts zu berichten. So heißt es einmütig: "Die Herkunft des Zitats ist nicht bekannt." Das lateinische Eingangszitat "schreit" also nach einer Recherche.
Claude Haas untersucht die Goethe-Kommentierung Heinrich Düntzers im späten 19. Jahrhundert, die konsequent gegen das säkulare Selbstverständnis der eigenen Disziplin verstößt - und von dieser damit wiederum als verachteter Außenseiter verstoßen wird. Düntzer unterläuft die Sakralisierung der Dichtung, indem er dem Dichter immer wieder im Namen einer - etwa sachlichen - Wahrheit widerspricht und diese Wahrheit noch dazu katholisch grundiert (und mit Spitzen gegen protestantische Goethe-Ausleger versieht). Denn Wahrheit ist dabei in Düntzers Augen erstens nicht schriftlich kodiert und gleicht zweitens strukturell der theologischen Figur des "deus absconditus", sodass sie gerade in dieser Abwesenheit 'sakralisiert' wird. Die 'katholisierenden' Kommentare Düntzers zu Goethes Iphigenie auf Tauris und Faust II erklären Literatur selbst gleichsam zu Religion und zeigen damit gewissermaßen die Kehrseite des Versuches, nicht mehr die Heilige Schrift, sondern den Kanon der Klassiker ins Zentrum der Textkultur zu stellen.
Der junge Lukács und Goethe
(2017)
Ulisse Dogà wendet sich dem Stellenwert Goethes im Frühwerk von Georg Lukács zu und widerspricht der gängigen Forschungsmeinung, die ein konsequentes Interesse von Lukács an Goethe erst mit der marxistischen Phase seines Denkens einsetzen lässt. Entgegen dieser 'paulinischen' Bekehrungsfigur weist er Goethe als problematischen und ambivalenten, durchaus aber zentralen Referenzautor bereits in Lukács' Schriften zum Drama, in der Aufsatzsammlung "Die Seele und die Formen" (1909) und in der bekannten "Theorie des Romans" (1920) aus. Anhand seiner Goethe-Lektüren zeige sich auch die verborgene Kontinuität von Lukács' Denken. Eine Identität von Subjekt und Objekt, die beim marxistischen Lukács die proletarische Revolution herzustellen habe, bilde nämlich schon im Frühwerk den Hintergrund, vor dem Goethe analysiert und beurteilt werde. Seine Überlegungen zu Goethe lasse Lukács systematisch in eine geschichtsphilosophische Reflexion formästhetischer Fragen ein. Betrachte er das Goethe'sche Drama als 'unfertig', da es "das Verhältnis von Held und Schicksal ungeklärt" lasse und die Diskrepanz zwischen Individuum und Geschichte die dramatische Form in lyrische und epische Bestandteile zerlege, so habe Goethe "Wilhelm Meisters Lehrjahre" als einen Kompromiss zwischen dem Idealismus des "Don Quichotte" und der Desillusionsromantik der "Éducation sentimentale" angelegt. Mittels der Ironie komme es hier zu einer schwierigen Versöhnung von Ich und Welt, die die zerrissene Form des Dramas im Roman heile und die Lukács sogar einen zeitweiligen Ausweg aus seiner Negation der bürgerlichen Gesellschaft aufgezeigt habe. Dies verrate auch sein Interesse an Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, die er insgesamt als gelungene Lösung und als Überwindungsversuch insbesondere kantischer Dualismen betrachte. Dauerhaft befriedigen konnten Goethes vermeintliche Apotheosen von organischer Einheit und Erfüllung Lukács in Dogàs Augen gleichwohl nicht. Da diese dem Bereich der Kunst verhaftet geblieben seien, habe die Ästhetik "den Stab der Utopie" schließlich an die (marxistische) Politik übergeben müssen.
Der Beitrag Alexander Honolds beschäftigt sich mit der Funktionalisierung Goethes im Rahmen der literarischen Produktion um 1900. Am Beispiel Thomas Manns und partiell auch Hugo von Hofmannsthals führt er vor, inwiefern eine "Goethe-Imago" in ihren nach der Jahrhundertwende entstandenen Werken eine permanente poetologische Reflexion und eine narrative Entfaltung der "Instanz des Autors als solcher" in Gang gesetzt habe. Dabei sei es die seit dem späten 19. Jahrhundert kurrente Diskursfigur des 'Nationaldichters' und die Behauptung einer von Goethe einmalig vollzogenen Einheit von Leben und Werk, die seine Attraktivität auch für Thomas Mann fundierten. Dieser unternehme aber keineswegs den Versuch, solche Vorstellungen zu aktualisieren. Im Gegenteil müsse seine Orientierung an Goethe im Kontext "krisenhafter Begründungsversuche einer kanonfähigen, legitimierten Autorschaft" gesehen werden, die Goethe auf eine "Habitus-stiftende Funktion" festlegten. Nicht nur die seine frühen Novellen durchziehende Polarität von Leben und Kunst, auch und v. a. die Polarität von Dichtung und Literatur habe Mann wesentlich über die Rückbesinnung auf Goethe entworfen und sie konsequent in die Absicht einer "Modernisierung des Dichterbildes zur Schriftstellerinstanz" integriert. Honold weist dies vornehmlich am "Tod in Venedig" (1911) nach. Mit und neben motivischen Anspielungen wie der 'italienischen' Reise und der späten Liebe Goethes zu Ulrike von Levetzow seien es v. a. Figurationen der Autorschaft, welche die Novelle in Anlehnung an Goethe konsequent ausspiele. Sei Goethe in Italien etwa immer wieder auf die Diskrepanz zwischen antiker und moderner Kunst aufmerksam geworden, so setze die Mann'sche Erzählinstanz ihren Autor-Protagonisten wie sich selbst zeitweilig einer "antikisierenden Infektion" aus. Diesen "gespielten Verlust der erzählerischen Contenance" betrachtet Honold als Ausdruck einer Goethe-Imago, mit der sich "die moderne Autorschaft ihrem Souveränitätsproblem stellt".