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Gesichter in Lyrik und Prosa verweisen auf vielfältige Techniken ihrer verbalen Kreation - und ihrer Auflösung. Anders als die Bildkunst, die Gesichter simultan evident macht, konstituiert sich das Verbalporträt (in der Regel) linear-sukzessiv. Es ist medial zur Fragmentierung des Motivs und zur Anordnung der semiotischen Einheiten in einer eindimensionalen Abfolge gezwungen: das heißt, die Zerlegung des darzustellenden Gesichts ist zwingend notwendig, ein Moment der Auflösung ist ihm seit jeher eingeschrieben. Daher experimentiert es aber auch seit jeher mit den Verfahren der Zusammenfügung (Re-Komposition) der Einzelteile. Diesbezüglich verzeichnet das poetische Porträt schon in der Renaissance erste spielerische Höhepunkte, die frappierende Ähnlichkeiten aufweisen mit den ungewöhnlichen, heute sehr bekannten Porträts des manieristischen Malers Giuseppe Arcimboldo, dessen Gesichter sich aus Blumen, Früchten, Büchern u.a. zusammensetzen und Kippfiguren zwischen Menschenähnlichkeit und Realitätsferne bilden, indem sie ihren Komposit-Charakter ostentativ zur Schau stellen. Die punktuelle Feststellung vergleichbarer Darstellungsprinzipien wirft notwendig die Frage auf, ob und inwiefern sich Auflösungserscheinungen in verbalen und pikturalen Porträts trotz ihrer Mediendifferenz stilhistorisch parallelisieren lassen – so lautet die Rahmenfrage, die erneut aufzugreifen ist nach einer Betrachtung verschiedener in Auflösung befindlicher Verbalporträts. Die einzelnen Werkanalysen sind konzise, zugunsten eines möglichst breiten Spektrums fazialer De-Kompositionen.
Als Hinführung zum Phänomen der Gesichtsauflösungen sollen schlagwortartig zwei hinlänglich bekannte Diskurse gegenübergestellt werden, die einander mehr als 200 Jahre trennen und konträre epistemische sowie ästhetische Programme repräsentieren. Dieser kurze Rekurs wird unternommen, weil beide Aussagewelten symptomatisch für zwei Haltungen zum Gesicht sind, aus denen Fragen zur Darstellbarkeit bzw. Wahrnehmbarkeit und schlussendlich zu Konzepten des Subjekts folgen. Auch wenn beide Diskurse die Male ihrer historischen Entstehungskontexte aufweisen, so sprechen sie in gleichem Maße von Gegebenheiten, die noch heute die mediale und ästhetische Wirklichkeit betreffen. Das Ziel dieses Vorgehens ist es, in der Zusammenfassung beider Haltungen eine Blindstelle aufscheinen zu lassen, die die Frage der Interpretation von Gesichtsrepräsentationen berührt. Die Gegenstände der Untersuchung entstammen der Performance- und Medienkunst.
Gesichter und Gesichte, im Sinne von Visionen des Gewesenen oder Möglichen, sind in epischen, dramatischen und den filmischen Arbeiten von Samuel Beckett eng miteinander verknüpft. Becketts Arbeiten im Sektor der bewegten Bilder, um die es mir hier geht, umfassen einen Zeitraum von gut 20 Jahren, beginnend mit dem 1963 konzipierten "Film" und endend mit "Was wo" im Jahr 1986, einem Fernsehspiel, das Beckett zusammen mit dem SDR in Stuttgart produzierte. Sehen, Gesehenwerden, Gesicht und Gesichtetwerden, das Auflösen und Auslöschen des Gesichts im dreifachen Wortsinn, nämlich der physischen Erscheinung, des geschauten Bewusstseinsinhalts und des Gesichtssinns sind zentrale Themen der Arbeit auch in diesem Feld.
Eine besondere Affinität zwischen dem Gesicht als Eindrucks- und Ausdrucksfläche für Emotionen und dem Film ist in filmtheorischen Schriften häufig festgestellt worden. Namentlich Béla Balázs hat sich in seiner 1924 erschienenen Abhandlung ‚Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films‘ ausgiebig mit der filmischen Gestaltung der natürlichen Physiognomie von Menschen und Dingen beschäftigt. Sein besonderes Interesse galt dabei den Affektpotentialen des menschlichen Gesichts. Wie bereits Hugo Münsterberg in seiner 1916 erschienenen Schrift ‚The Photoplay‘ bemerkt hat, rückt der Film vor allem durch die Technik der Großaufnahme Gesichter wie Dinge ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Zuschauern. Die Vergrößerung stellt sie nicht nur von ihrer räumlichen Umgebung frei, sondern hebt auch mimische Details hervor, die sonst meist übersehen werden. Deshalb spielt die Großaufnahme eine wichtige Rolle in der filmischen Montage.
Sozusagen als Motto meiner Ausführungen zur Gattung des Porträts bzw. zur Porträtkunst habe ich eine Arbeit von Robert Rauschenberg gewählt. 1961 plante die Pariser Galeristin Iris Clert eine Porträt-Ausstellung und lud Robert Rauschenberg, den amerikanischen Pop-Künstler, zu einem Beitrag ein. Dieser reagierte mit einem aus Stockholm geschickten Telegramm mit dem Inhalt: 'This is a portrait of Iris Clert if I say so – Robert Rauschenberg'. Als Motto zeige ich die Arbeit deshalb, weil das Porträt im Laufe der Moderne und insbesondere im 20. Jahrhundert zu einer umstrittenen, ja in gewisser Hinsicht unmöglichen Gattung wird, und Rauschenbergs Telegramm nun zeigen kann, dass dieses Umstrittene zwei unterschiedliche Dimensionen hat: zum einen ist es der Streit über das, was als legitimes Porträt eines Menschen angesehen werden kann; zum anderen ist es der Streit darüber, was legitimerweise als ein Kunstwerk angesehen werden kann.
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist meine Dissertation mit dem Thema "Porträt – Ikone - Kunst. Methodische Studien zum Porträt in der Kunstliteratur. Zu einer Bildtheorie der Kunst", aus deren Breite ich mich für das Bildparadigma Kunst auf Francis Bacon (mit einem Ausblick auf Alberto Giacometti) beschränke. Das Porträt, in dem Sinne, wie es die Neuzeit versteht, mit all den Implikationen an Authentizität und Ähnlichkeit und unmittelbarer Wiedergabe einer gesehenen Wirklichkeit, hat es in der europäischen Bilderkultur nicht immer gegeben. Auch vorneuzeitliche Bilder, wie eben die Ikone, hatten als besonders wichtige, ihnen übertragene Aufgabe die Vergegenwärtigung einer bestimmten Person, ohne dass man sie deshalb als Bildnisse oder Porträts bezeichnen kann. Sie werden auf diese Vergegenwärtigung sehr wohl verpflichtet, also zu garantieren, dass die gemeinte Person in ihnen wirklich getroffen ist, aber durch signifikant andere bildliche Strategien als dies bei Porträts beschrieben werden kann. Das war für mich der Grund von unterschiedlichen „Bildparadigmen“, dem der Ikone und dem des Kunstwerks zu sprechen. Bilder zu machen und zu betrachten dürfen wir wohl als Grundkonstante menschlicher Kultur seit ihren allerersten Anfängen ansehen. Wie aber Bilder hergestellt und verstanden werden ist bildhistorisch zu beschreiben, das heißt es gibt Perioden der kulturellen Geltung und Dominanz eines Bildverständnisses und Zeiten des Umbruchs und des Wechsels im Verständnis, der Entstehung, der Betrachtung und des Sprechens über Bilder.
In der Moderne wird das Menschengesicht, das lange Zeit Sinnbild für die Ebenbildlichkeit Gottes und somit für menschliche Ganzheitlichkeit war, radikalen Auflösungsprozessen unterzogen. Zugleich scheinen immer wieder Erlösungsutopien durch, die eine neue Suche nach dem verlorenen oder erst noch zu schauenden Gesicht initiieren. Dieser Doppelstrebigkeit wird im Folgenden unter dem Leitbegriff des Rätsels nachgegangen. Letzterer lässt sich hierbei auf seinen zweifachen altgriechischen Ursprung zurückführen, auf 'griphos' ('Fischernetz, Schlinge': Ratespiel) und 'ainigma' ('dunkle Andeutung': das Rätselhafte). Das Rätsel wird in der Theologie seit jeher - in der Philosophie vermehrt in der Moderne – mit dem Gesicht (in seiner Doppeldeutigkeit von gesehenem und sehendem Gesicht) assoziiert, dessen Les- und Lösbarkeit es einer hermeneutischen Bewährungsprobe unterzieht. An zwei philosophischen Werken soll in einem ersten Schritt dieses Junktim von Rätsel und Gesicht(e) im Diagramm der beiden Lösungsbewegungen von Auflösung und Erlösung nachgezeichnet werden: an Friedrich Nietzsches 'Also sprach Zarathustra' (1883–1885) und Franz Rosenzweigs 'Stern der Erlösung' (1921) sowie seinen "nachträgliche[n] Bemerkungen" hierzu in "Das neue Denken" (1925).