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Kaum eine Zeit steht so sehr für die sexuelle Befreiung und Sprengung familialer Strukturen wie die 1968er (vgl. Herzog 2005). Kaum ein Märchen steht in der psychoanalytischen Deutung so sehr für den sexuellen Reifungsprozess und das Unabhängigwerden eines Kindes wie Der Froschkönig. Der vorliegende Artikel greift diese Verbindung auf, da gerade während der 68er-Bewegung verschiedene Wasser- und Amphibienfiguren in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) vorkommen, die stark an die Motive des Märchens erinnern. Besonders prominente Beispiele hierfür sind: Christine Nöstlingers Wir pfeifen auf den Gurkenkönig von 1972 sowie Mirjam Presslers Erzählung Goethe in der Kiste, die zwar erst 1987 erschienen ist, jedoch deutliche Züge des anti-autoritären Gedankenguts der Protestkultur aufweist. Diesen Texten ist gemein, dass ihre Motive augenscheinlich von einem Märchen geprägt sind, das von der Psychoanalyse als Sinnbild für den Reifungsvorgang eines Kindes bewertet wird, welches sich aus seiner inzestuösen Verstricktheit mit dem Vater lösen muss. Während Presslers Buch den Froschkönig explizit anzitiert, kann Nöstlingers Gurkenkönig als eine Schwell- und Schwellenfigur gelesen werden, die ähnliche Prozesse in Gang setzt wie die Märchengestalt. ...
Editorial
(2018)
»Unter dem Pflaster liegt der Strand« oder »Die Phantasie an die Macht« – diese Slogans charakterisieren die ’68er-Bewegung, die kreativ, programmatisch und parolenreich ihre (gesamt)gesellschaftlichen Forderungen in die Öffentlichkeit trug. Nicht nur für die bundesrepublikanische Gesellschaft stellt das Jahr 1968 einen bedeutsamen Umbruch dar; vielmehr hat ’68 ebenso eine ost- wie westeuropäische und darüber hinausführende internationale Dimension. ’68 kann als Chiffre für Protestbewegungen (Kraushaar) verstanden werden, die in sehr unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche ausgestrahlt haben. Die damit einhergehende Politisierung führte zur kritischen Bestandsaufnahme und Infragestellung bestehender staatlicher und institutioneller Ordnungen, revolutionierte die Geschlechter- und Generationsverhältnisse und reichte weit hinein in den Alltag, das Familienleben und die individuellen Lebensstile. Auch Literatur und Medien wurden einer kritischen Revision unterzogen und neue Themen, Schreibweisen und Genres etabliert, Traditionslinien wurden aufgebrochen bzw. unter neuen Vorzeichen weitergeführt.
Diese Entwicklungen bestimmten auch die Kinder- und Jugendliteratur und ihre Medien in entscheidender Weise: inhaltlich beeinflusst durch die antiautoritären Diskurse, wie sie im Bildungs- und Erziehungswesen geführt wurden, und die Forderungen der Emanzipationsbewegung(en), thematisch und ästhetisch orientiert an den politischen und gesellschaftskritischen Fragestellungen, einem neuen Realitätsbezug verpflichtet. Die Kinder- und Jugendliteraturforschung hat diese Reformen als Paradigmenwechsel benannt und erforscht; neuere Untersuchungen beziehen aber erkennbar auch die Entwicklungen der späten 1950er und frühen 1960er Jahre mit ein und weisen darauf hin, dass die Veränderungen literarästhetisch, aber auch inhaltlich bereits sehr viel früher einsetzten.
50 Jahre nach dieser ›paradigmatischen‹ Zäsur nimmt der zweite Jahrgang des Jahrbuchs der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung 2018 die Chiffre ’68 in den Blick, um historische wie gegenwärtige Dimensionen dieser Schnittstelle zu diskutieren. Die Aufsätze greifen die vielfältigen Implikationen dieses Themenkomplexes sowohl aus theoretischer wie gegenstandsorientierter Perspektive in seinen unterschiedlichen medialen Gestaltungsformen auf, stellen sie, dank der internationalen Beiträge, in europäische Kontexte und reflektieren ihre Bedeutung für die heutige Kinder- und Jugendkultur. Dabei wird erforschtes Terrain weiter ausgeleuchtet, werden neue Fragestellungen entwickelt sowie bekannte Positionen und Texte einer kritischen Re-Lektüre unterzogen.
Entsprechend der Konzeption des Jahrbuchs stehen über das Schwerpunktthema ’68 hinaus grundlegende kinder- und jugendmediale Fragestellungen aus historischer wie theoretischer Perspektive im Fokus. Zwei Beiträge stellen aktuelle Forschungszugänge und -perspektiven vor.
Rezensionen zur Fachliteratur schließen sich den zehn Beiträgen an. Insgesamt konnten, dank der großen Beteiligung der Mitglieder der GKJF, über 30 Titel gesichtet und besprochen werden.
Twilight, Tintenherz, The Hunger Games und – auch 20 Jahre nach Erstpublikation des ersten Bandes ist an ihm kein Vorbeikommen – Harry Potter: Wir kennen sie alle, die großen kommerziellen Erfolge der Literaturbranche der Gegenwart. Seit dem durchschlagenden Erfolg von J.K. Rowlings Romanserie um den Zauberlehrling ist der Markt geradezu überschwemmt von seriellen Erzählungen, die im öffentlichen Diskurs als Fantasyerzählungen wahrgenommen beziehungsweise beschrieben werden. Deren Popularität dokumentieren seit nunmehr 20 Jahren in Deutschland die Jahresbestsellerlisten des Spiegel: Während im Jahr 2000 die deutschen Übersetzungen der ersten drei Harry Potter-Bände die Plätze 1 bis 3 belegen (vgl. Der Spiegel 2000, S. 206), ist auch das postHarry Potter-Deutschland diese Art von Romanserien nicht leid. Im Jahr 2008 finden sich unter den meistverkauften Romanen unter anderem Cornelia Funkes TintenherzTrilogie (2003–2007), Stephenie Meyers Bis(s)-Romane (2005–2009), Bände von Christopher Paolinis Eragon (2004–2011), der Romanserie House of Night (2009–2014) des Mutter-und-Tochter-Teams Casts, Kerstin Giers Liebe geht durch alle Zeiten- (2009–2010) und Silber-Serien (2013–2015) und Suzanne Collins’ Die Tribute von Panem (2008–2010) (vgl. Der Spiegel 2009, S. 131). Die ehemals der Allgemeinliteratur vorbehaltene Belletristik-Bestsellerliste des Spiegel kann sich Romanen nicht länger erwehren, die LeserInnen in den Kinder- und Jugendbuchabteilungen ihrer Buchhandlungen finden können. ...
Setzt man bei der Darstellung revolutionärer Prozesse im Kindertheater in den 1960/70er Jahren an, so liegt der Fokus auf einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche und politisch-sozialer Bewegungen, die für die Geschichte des Kinder- und Jugendtheaters von besonderer Bedeutung ist (vgl. Schneider 1984). Wie andere Intellektuelle und KünstlerInnen auch wurden Theaterschaffende von den Protesten und dem Klima der Veränderung und des Aufbruchs vielfältig angeregt. Auch im Theater wurden Autoritäten hinterfragt, traditionelle Repertoirestücke einer kritischen Revision unterzogen und neue Spielformen erprobt. Das Revolutionäre erscheint hier zunächst als eine Hinwendung zum Politischen, die auch bestehende und neu gegründete Kindertheater erfasste. Erkennbar wird eine gesellschaftlich engagierte Theaterarbeit, die Formen der Unterdrückung (z. B. von Kindern) dokumentierte und mit großem Engagement bekämpfte. Mit den Mitteln des Theaters sollten kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen durchgesetzt werden und die Theaterbühne sollte ein Ort der Revolution gegen gesellschaftliche Missstände sein. Theaterarbeit war politische Arbeit und Kindertheater ein »Mittel, auf gesellschaftliche Zustände einzuwirken« (Ludwig 1994, S. 24). ...
Bilderbücher verfügen über einen Körper im Raum. Sie haben ein bestimmtes Format und Gewicht, bestehen aus Papier, einem Rücken, Vorsatzblättern und Knickkanten. Wie Druckmedien generell sind sie jeweils auf eine bestimmte Art gemacht und konstituieren sich durch eine Form, Gestalt und Oberfläche. BüchermacherInnen weisen in ästhetischen Reflexionen auf die verwandte Struktur der Architektur mit ihrem Metier und Medium hin. Der Typograph Jan Tschichold etwa versteht Druckwerke als eigene architektonische Ausdrucksform von Linie, Fläche und Raum und fasst seine Rolle bei der Reform der Penguin Books »als verantwortlicher Architekt der Bücher« auf (zitiert in Fleischmann 2013, S. 49). Dass Ideen nicht einfach in der Luft liegen und Künstlerisches der Konstruktion bedarf, hebt der Autor Hermann Burger in Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben hervor. In seiner Poetik-Vorlesung geht Burger darauf ein, wie der Autor eine Situation entwirft, einen Gegenstand mit Wörtern anpackt, dreht und wendet, und schreibt, dass er während seines abgebrochenen Architekturstudiums, »im architektonischen Entwerfen[,] mehr für das spätere Schreiben gelernt habe als während der ganzen Germanistikausbildung« (Burger 1986, S. 12). ...
In der Theatergeschichte wurde von Aristoteles bis Brecht immer wieder angenommen, dass ein Bühnengeschehen das Publikum beeinflussen kann. Entsprechend nahe liegt der Gedanke, das Theater als Erziehungsinstrument einzusetzen, wie es z. B. im Jesuitentheater der Renaissance oder den didaktischen Dramen der Aufklärung der Fall war. Stand bei Ersteren die Vermittlung der christlichen Heilslehre im Mittelpunkt, können Letztere als »Einübung in gesellschaftliche Verhaltensnormen« (Schedler 1974, S. 23) verstanden werden. Auch das emanzipatorische Kindertheater der 1960er Jahre verfolgt erzieherische Ziele, obgleich diese sich signifikant von den oben genannten unterscheiden. Hier sollen Kinder nicht lernen, indem neue Ängste erzeugt, »sondern alte benannt [und] sprachlich faßbar« gemacht werden (Reisner 1983, S. 116). ...
Mit "Sit-in" und "Teach-in" zur Weltrevolution : Erinnerungen an den Sprachgebrauch der "68er"
(2018)
"Sit-in" und "Teach-in"? – Wer 1968 noch kein Zeitgenosse war, wird beides nur für zwei der im 20. Jahrhundert immer beliebter werdenden, aber oft unverstandenen Fremdwörter aus dem Englischen halten. Heute sind beide weitgehend vergessen, so brandaktuell sie auch einmal waren. Mit ihnen wurde nicht weniger gemeint als eine Sitzblockade vor Hörsälen und die Verhinderung einer regulären Lehrveranstaltung, indem man sie in ein Agitationsforum "umfunktionierte". Die traditionellen Vorlesungen wurden ohnehin als "säkularisierte Predigten" verhöhnt. Als ersten Frankfurter Hochschullehrer traf es ausgerechnet den Staatsrechtler Carlo Schmid, immerhin einen der Väter des Grundgesetzes, der seine Vorlesung abbrechen musste. ...
Mir fällt in dieser Woche, in der nicht nur im Netz darüber diskutiert wurde, was eigentlich gefährlich sei, Menschen in Schlauchbooten oder die Lifeline, und in der darüber diskutiert wurde, ob man nicht lieber ein paar absaufen lässt, damit die anderen gewarnt seien, nicht viel mehr ein, als in die Gründe und Abgründe Europas zu schauen.