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Die literaturgeschichtliche Wahrnehmung Hermann Bahrs konzentriert sich bis heute auf seine persönliche und publizistische Allianz mit der "Wiener Moderne". Der biographischen Fokussierung korrespondiert dabei eine ästhetische: die auf die antinaturalistischen Essays Bahrs. Durch die Gleichsetzung des - von Bahr selbst entworfenen - Bildes vom "Gründer" des "jungen Wien" mit dem vom "Überwinder" des Naturalismus, wurde die Genealogie dieser literar-ästhetischen Position Bahrs verdeckt. So ist es bis heute weitgehend unbekannt geblieben, daß der "gelungenen" Gruppenbildung in Wien ein fehlgeschlagener Versuch in Berlin voranging. Bahrs Tätigkeit als Kritiker in Berlin von Mai 1890 bis Februar 1891, insbesondere seine Arbeit als Redakteur der "Freien Bühne", dem wichtigsten Organ des Berliner Naturalismus, ist kaum erforscht, obwohl sie sowohl für die Herausbildung von Bahrs Modernekonzept als auch für die Formierung der literarischen Moderne in Berlin von Bedeutung war.
Bahrs Engagement in Berlin war von dem Interesse geleitet, sich im intellektuellen Kräftefeld der deutschen Hauptstadt eine eigenständige und auch materiell gesicherte Position zu verschaffen. Die dazu nötige Anerkennung suchte er teils durch provokatorische Distanzierung, teils durch programmatische und persönliche Koalition mit einzelnen Autoren zu erreichen. Seine publizistische Tätigkeit war so eng verbunden mit dem Prozeß der literarischen Gruppenbildung in Berlin, der 1890 in ein neues Stadium trat. Dieser vollzog sich - als Wechselspiel von Distanzierungen und Identifikationen - in entscheidender, weil publikumswirksamster Weise durch die Lancierung, Besetzung und Kritik von richtungsbezeichnenden Schlagworten. Bahr nutzte diese Mittel mit großer Geschicklichkeit.
Die literarische Moderne hat sich zwar in den großen Kulturzentren ausgebildet, ist aber ein gesamt-europäisches Phänomen. Gemeinsam ist den verschiedenen Ausformungen der literarischen Moderne nicht nur die im Ganzen einheitliche Tradition, aus der sie herkommen, sondern ein Merkmal, das sie gegenüber anderen Epochen zur spezifischen macht: die vorherrschende Unverständlichkeit ihrer Texte. Unverständlich sind Texte wohl auch früher gewesen, wahrscheinlich in der Geschichte aller Literaturen sogar häufig. Was solche frühere "Unverständlichkeit" von derjenigen der Moderne unterscheidet, ist die Notwendigkeit, mit der sie hier auftritt. Auch bestimmte Texte von Goethe ("Werther", "West-östlicher Divan"), Mörike ("Maler Nolten"), Büchner ("Woyzeck"), Lenz ("Hofmeister") oder Jean Paul mögen den Zeitgenossen nicht recht verständlich gewesen sein. Für viele ist das geradezu belegt. Dennoch waren sie es in einer anderen Weise: innerhalb eines bestimmten Systems, ohne dass dieses System, das eines der Verständigung war oder sein sollte, gestört gewesen wäre. Das bedeutet, dass sie bei einiger Bemühung verständlich werden konnten und es de facto auch wurden, wenngleich oft erst Jahre später.