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Im Sommersemester 2021 habe ich an der Universität Mainz ein Seminar zum Thema "Kanon und Diversität" unterrichtet. Ziel war, meinen eigenen Lektüre-Horizont und denjenigen der Studierenden zu erweitern. Auf das Seminarprogramm setzte ich vor allem Gegenwartsliteratur und auch Neuerscheinungen, die ich gerade gelesen oder noch lesen und diskutieren wollte und von denen ich mir eine Erweiterung des Horizonts erhoffte. Kürzere theoretische Texte und literarische Erzählungen wurden als pdf zur Verfügung gestellt, drei Romane sollten ganz gelesen werden, nämlich Fatma Aydemirs "Ellbogen" (2017), Olivia Wenzels "1000 Serpentinen Angst" (2020) und Sharon Dodua Otoos "Adas Raum" (2021).
Einige Beiträge zum aktuellen ZfL-Jahresthema erinnerten zuletzt an dieser Stelle daran, dass das Begriffspaar "Aktivismus und Wissenschaft" von einem alten Spannungsverhältnis geprägt ist, welches sich gegenwärtig wieder bemerkbar macht. [...] Tatsächlich sehen sich Forschende heutzutage immer öfter dazu genötigt, den unmittelbar praktischen Mehrwert ihrer Arbeit im Namen eines vermeintlichen Aktivismus zu Markte zu tragen, nicht zuletzt, um den Empfang etwaiger Fördergelder zu rechtfertigen. [...] So drängt sich die Frage auf, worin eigentlich der kritische Zug im Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus liegt, wenn die institutionelle Konvergenz der Aktivismen von oben und unten zur Affirmation tendiert? [...] Möglicherweise ist es lohnenswert, Geulens Verfahren des Rückgriffs aufzunehmen und sich auf ein weiteres streitbares Beispiel aus der frühesten Geschichte des Aktivismusbegriffs zu besinnen, von dem zuweilen behauptet wird, es handele sich um die früheste Okkurenz dieses Wortes überhaupt. Die Rede ist vom sogenannten "literarischen Aktivismus", auf den auch Henning Trüper in seinem Blogbeitrag zum ZfL-Jahresthema anspielt, wenn er vom "Umfeld des Expressionismus" spricht, in dem der "Aktivismusbegriff nach dem Ersten Weltkrieg erstmals politisch Fuß fasste". Was hat es hiermit auf sich? Tatsächlich ist es so, dass Kurt Hiller (1885–1972) - deutsch-jüdischer Publizist, expressionistischer Impresario und pazifistischer Aktivist - diese Wortprägung für sich beansprucht. So soll bei einem Treffen seines Berliner Kreises anno 1914 "Literarischer Aktivismus" als Name der von ihm gegründeten, "ethisch-politischen" Bewegung beschlossen worden sein. Die Organe dieses Aktivismus waren vorrangig Periodika, allen voran die ab 1916 von Hiller und seinem Kreis herausgegebene Zeitschrift "Das Ziel: Aufrufe zu tätigem Geist", in deren Namen sich bereits eine gewisse Vorstellung von Aktivität ankündigt.
Als Stanisław Lem am 27. März 2006 im Alter von 85 Jahren in Krakau starb, schien sein Stern bereits im Sinken zu sein. Seine Bücher hatten Millionenauflagen erzielt und er war neben Ryszard Kapuściński der weltweit erfolgreichste polnische Autor, mit Übersetzungen in mehr als 40 Sprachen. Aber angesichts des Zusammenbruchs des Realsozialismus, einer krisenhaften neuen Weltordnung sowie der sich abzeichnenden Klimakatastrophe wirkten seine Spekulationen über die fantastischen Irrungen der Menschheit seltsam anachronistisch. [..] Die unzähligen Veranstaltungen, Publikationen und Projekte zu seinem 100. Geburtstag am 12. September dieses Jahres wollen seinen Stern noch einmal zum Strahlen bringen. [...] Abseits aller tagespolitischen Konflikte und globalen Krisen bietet das Jubiläum Anlass, noch einmal grundsätzlich über das Verhältnis von Mensch und Maschine, Geist und Materie, Wissenschaft und Kultur, Technologie und Gesellschaft, Zufall und Fortschritt nachzudenken.
Männlichkeit zeichnet sich durch Praktiken aus. Und einer dieser Praktiken besteht eben darin, Repräsentationsorte von und für Männlichkeit bereitzustellen. Insofern fiktionale Werke einen erheblichen Anteil am individuellen oder sozialen Selbst Verständnis haben, ist auch deren Kanonisierung als eine solche Macht-Praktik von Interesse. Kanones wie Männlichkeit werden zu Angelegenheiten ihres 'Machens' - und sind darin aufeinander verwiesen.
Das Streben nach Unsterblichkeit durchzieht die gesamte Geschichte der Menschheit, doch in Zeiten des beschleunigten gesellschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Wandels zeichnet es sich durch eine gesteigerte Intensität aus. Immer wieder wurde das Verständnis von Immortalität hinterfragt (physische vs. metaphysische Unsterblichkeit, todloses Leben vs. Auferweckung nach dem Tod, Langlebigkeit vs. ewiges Leben usw.), wurden ihre Spielarten neu definiert. Die Entwicklung der modernen Lebenswissenschaften in der westlichen Welt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die Erfolge der Immunologie, Juvenologie und Gerontologie eingeschlossen, sind hinlänglich bekannt. Auch dem radikalen Utopismus der russisch-sowjetischen Avantgarde wurde bereits viel Aufmerksamkeit zuteil. [...] Allgemein ist festzustellen, dass bisherige historische Darstellungen die Einbeziehung des slawischen Osteuropas vermissen lassen. Gibt es Parallelen zwischen den bedürfnislosen, arbeitsamen Unsterblichen, die gemäß einem fiktionalen Entwurf des in den 1920er Jahren als Ingenieur für Elektrifizierung tätigen Schriftstellers Andrej Platonow in einem Labor für Anthropotechnik dank einer neuartigen Elektrosphäre hervorgebracht werden, und den Robotern oder dem Absolutum bei Karel Čapek? Ist angesichts der möglichen Existenz unsterblicher kybernetischer Organismen die anthropologische Neuerzählung der Schöpfungsgeschichte überzeugend, die Borislav Pekić 1980 vornahm, wohlgemerkt mit einem weiblichen Cyborg als Protagonistin, die sich biblisch als "Ich bin, die ich bin" zu erkennen gibt? Spiegeln programmatische Selbstentwürfe, die sich auf sogenannte höhere, esoterisch anmutende mathematisch-naturwissenschaftliche Konzepte stützen, regionale Formen wissenschaftlicher Religiosität oder den Versuch, die globale Logik des materialistischen Daseins zudurchbrechen, wider? All diese Fragen harren noch einer Antwort.
Als der jiddische Dichter Abraham Sutzkever 1943 im Ghetto von Wilna sein Gedicht "unter dayne vayse shtern" ("Unter deinen weißen Sternen") schrieb, hatte er bereits die Ermordung der Hälfte aller jüdischen Einwohner der litauischen Hauptstadt, darunter seine Mutter und sein neugeborenes Kind, erlebt. Er selbst überlebte die Vernichtung zunächst in der durch die Deutschen besetzten Stadt - bis dahin auch "Yerushalyim de Lite" genannt -, dann im Ghetto und später als Partisan in den Naroczer Wäldern, von wo aus er noch während des Krieges nach Moskau gelangte. Nachdem er bei den Nürnberger Prozessen als Zeuge ausgesagt hatte, emigrierte er schließlich 1947 über Polen und Frankreich nach Erez Israel, wo er bis zu seinem Tod 2010 lebte und schrieb. So wendungsreich sein Lebensweg war, so vielschichtig sind seine lyrischen Texte. Immer neu kreisen sie um das Gedenken an die Ermordeten und versuchen, dem drohenden Abbruch jüdischer Gedächtnisgenealogie zu begegnen. [...] Sutzkevers bekannteste Ghetto-Dichtung, vertont von Avrom Brudno und vermutlich uraufgeführt in einer Revue des Ghetto-Theaters, thematisiert das Rätsel des verborgenen göttlichen Antlitzes.
Die Lektüre des Essays "Sichtbar" von Sasha Marianna Salzmann machte mich darauf aufmerksam, dass jedes Prinzip der Kanonisierung, egal wie inklusiv gedacht, nie ohne einen - vielleicht auch unbeabsichtigten - Ausschluss geschehen kann. [...] Als ich dann gebeten wurde, die Frage von 'Behinderung' im Literaturkanon zu skizzieren, tauchte eben jenes Problem - Ausschluss durch Festlegung - wieder auf. Entstanden ist ein Panorama, das mich an die Grenzen dessen, was landläufig Literaturwissenschaft genannt wird, gebracht hat. Fangen wir aber auf der anderen Seite an: Um zu verstehen, was mit Behinderung als Teilaspekt eines diversen Literaturkanons gemeint sein kann, müssen wir wissen, was wir von der Literatur überhaupt wissen wollen.
Brecht zufolge birgt die Frage nach den Verpflichtungen der Kunst eine unauflösbare Dialektik: Kunst und politischer Zweck sind einander nicht äußerlich, ihre Beziehung ist nicht durch Konflikt oder gegenseitigen Ausschluss gekennzeichnet, sondern vielmehr durch das Versprechen schöpferischer Reibung und gegenseitiger Bereicherung. Dies entspricht nicht der Art und Weise, in der die Literaturwissenschaft traditionell über die Beziehung der Literatur zur Sphäre der Politik nachgedacht hat. Sie hat vielmehr dazu geneigt, den Versuch, Kunst als politische Arbeit zu begreifen, als Kategorienfehler zubetrachten - als eine von außen herangetragene Zumutung, die beiden schadet: der Kunst und der Politik. [...] Wenn wir verschüttete literaturgeschichtliche Genealogien wiederherstellen, um der theoretischen Untersuchung alternative Wege aufzuzeigen, orientieren wir uns an neueren Bemühungen, ausgewählte Episoden politisierten Schreibens nicht als literaturgeschichtliche Anomalien zu betrachten, sondern als Schlüsselmomente in der Konfiguration der Beziehung zwischen Literatur und Politik - als einflussreiche Epizentren interventionistischer Kunst, von denen aus Debatten über Literaturpolitik und Praktiken engagierten Schreibens in neue und global ausgedehnte Kontexte ausstrahlen können. Die von uns vorgeschlagene Periodisierung verbindet experimentell drei Perioden intensiv politisierter und aktivistischer Kunst und Schriftstellerei: die Zwischenkriegszeit, die langen 1960er Jahre und die Gegenwart. Damit sollen alternative Traditionen sichtbar gemacht werden, die Raymond Williams zufolge oft an den Rändern des Jahrhunderts zurückgelassen wurden. Diese Periodisierung verzichtet auch bewusst darauf, eine einzige oder eindeutige Geschichte politisierter Literatur nachzuzeichnen.
Nachbarschaften können sich in einem breiten Spektrum zwischen Abgrenzung, Indifferenz und starken gemeinschaftlichen Gefühlen und Interessen entfalten. Die ZfL-Literaturtage, die am 22. und 23. November 2019 im Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße stattfanden, haben deshalb den Versuch unternommen, unterschiedliche Sichtweisen auf das Thema zu beleuchten. Dazu waren acht Autor*innen und eine Soziologin eingeladen, aus ihren Texten zu lesen bzw. ihre Forschungsfragen zu präsentieren und im Anschluss über Nachbarschaften zu sprechen. Denn zur Nachbarschaft gehört auch ganz wesentlich der Austausch - im konkreten Fall zwischen den Autor*innen, den wissenschaftlichen Gesprächspartner*innen, dem interessierten Publikum und natürlich zwischen dem ZfL und der langjährigen "Nachbar"-Institution, dem Literaturhaus Berlin.