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Politische Arithmetik
(2016)
Quantitative Methoden markieren somit von Anfang an den methodischen Kern der politischen Arithmetik. Darüber hinaus gehen Erkenntnis und Regulierung eine feste Verbindung ein. Politische Arithmetik zielt nicht nur auf ein 'Wissen' von der Bevölkerung, sondern ebenso auf die 'Steuerung' der zukünftigen Bevölkerungsentwicklung. Damit geht es sowohl um die 'Vorhersage' als auch um die 'Herstellung' der Zukunft. Im bevölkerungswissenschaftlichen Dispositiv verbinden sich epistemische und operative Aspekte.
Meteorologie
(2016)
Die Wetterkunde setzt sich aus vier Tätigkeitsfeldern zusammen: Datensammlung, Modellentwicklung, Prognostik und Wettersteuerung. Die Vorhersage zukünftiger Wetterereignisse stellt mithin nur eines von mehreren Aufgabengebieten dar. In ihrer Geschichte verlief die Entwicklung der vier Felder lange Zeit weitgehend separat. In den Agrar- und Seefahrergesellschaften der Antike führten Stadtverwaltungen und Tempel kalendarische Aufzeichnungen über alle Arten von Himmelsereignissen. Kosmologische Modelle wurden in der Naturphilosophie entworfen. Aristoteles unterschied dabei den Gegenstandbereich der 'Uranologie', die sich mit feststehenden Körpern wie Fixsternen und sich regelmäßig bewegenden Körpern wie Planeten beschäftigt, von dem der 'Meteorologie', die es mit singulären oder unregelmäßigen Ereignissen wie den Witterungserscheinungen zu tun hat. Für Prognosen in diesem Bereich stützte man sich auf Erfahrungswerte und ein Denken in Wenn-dann-Strukturen: Das Auftreten oder Ausbleiben von Himmelsphänomenen oder ihrer Kombination und das Verhalten von Pflanzen und Tieren zu bestimmten Tageszeiten wurde als Anzeichen für zukünftige Wetterereignisse gedeutet. Dieses Wissen bezog sich allein auf die alltägliche Nutzanwendung und war nicht an Erklärungen interessiert. In der Antike muss deshalb nicht die Meteorologie, sondern die Wetterprophetie als das wetterkundliche Zukunftswissen gelten. Die Mittel zur Beeinflussung des Wetters schließlich bestanden in Zaubern und Gebeten.1 An dieser Trennung der verschiedenen Tätigkeitsfelder der Wetterkunde änderte sich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit kaum etwas.
Musik
(2016)
Die Musik hat ein besonderes Verhältnis zur Zeit – so eng und unauflöslich, dass man sie immer wieder als die 'Zeitkunst' schlechthin bezeichnet hat. Dabei könnte es so scheinen, als sei die Zeitlichkeit, die musikalischen Verläufen selbst inhärent ist, mit der des Produzierens und/oder Rezipierens von Musik 'synchron': Man spielt oder hört ein Musikstück, indem es sich in der Zeit vollzieht, und es vollzieht sich in der Zeit, indem es gespielt und gehört wird. So gesehen wäre die einzig mögliche Zeitform der Musik die unausgesetzt prozessierende Gegenwart.
Posthumanismus
(2016)
Dass "der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand", war 1966, als Michel Foucault 'Les mots et les choses' mit dieser Prognose eines dritten epistemischen Bruchs der abendländischen Diskursordnung beschloss, kaum noch eine Provokation. Die nur zu gezielt missverstandene Rede vom "Tod des Menschen" war keineswegs so neu, wie Kritiker des von der Diskursanalyse angeblich beförderten 'Antihumanismus' glauben machen wollten: Diagnosen wie diejenige von Oswald Spengler, "der faustische Mensch" sei "zum Sklaven seiner Schöpfung geworden", oder Günther Anders’ "Frage der Verwandlung oder Liquidierung des Menschen durch seine eigenen Produkte" gehörten angesichts von Massenvernichtungswaffen, kybernetischer Modellbildung und Reproduktionsbiologie zum festen Inventar eines kulturpessimistischen Diskurses im 20. Jahrhundert, der zu Beginn des 21. folgerichtig in Francis Fukuyamas Ankündigung einer 'Posthuman Future' mündete, in der Genmanipulation und Neuropharmakologie die natürlichen Grundlagen von Ethik, Menschenrechten und Demokratie zerstören werden.
Ökologie
(2016)
Ist heute die Rede von ökologischem Bewusstsein, Umweltverschmutzung oder Energiequellen, so ist immer auch zugleich die Rede von der Zukunft: In Frage steht, wie ein zukünftiges Leben unter den von Menschen geschaffenen Bedingungen aussehen könnte – Stichworte sind Klimawandel, Wassermangel, Erschöpfung der Energie-Ressourcen sowie die daraus folgenden Konsequenzen: Kriege um die Territorien, in denen ein Überleben noch möglich ist. Stets werfen solchen Szenarien die Frage auf, mit welchen Mitteln und Umstellungen diese düstere Zukunft vermieden werden könnte, verhandelt werden solchermaßen eine Energieversorgung durch alternative Energiequellen, die Ausrichtung der Wirtschaft auf Nachhaltigkeit, aber auch die Frage, ob die Demokratie überhaupt in der Lage ist, angesichts der akuten und globalen Probleme rechtzeitig zu agieren.
Dieser Beitrag verfolgt zwei Ziele. Zum einen soll eine vormoderne Rezeption der im Neuen Testament ausgebildeten Urszenen von Zeugenschaft beleuchtet werden, immer unter der Annahme, dass diese die kulturellen Konzepte der Zeugenschaft tief geprägt haben. Zum anderen soll der Frage einer ‚ästhetischen Zeugenschaft‘ nachgegangen werden, die da lautet, wie und unter welchen Bedingungen Kunst, in diesem Fall Malerei, überhaupt testimoniale Qualitäten oder Fakultäten haben kann. Exemplarisch wird dies an den Epitaphien aus dem Frühwerk des Peter Paul Rubens durchgeführt. Der Funktion dieser Gattung ist es zu verdanken, dass sich hier eine verdichtete visuelle Kombinatorik der biblischen Zeugenschaftsszenarien findet: Epitaphien dienen der Memoria, beziehen sich dezidiert auf die Auferstehungshoffnung ihrer verstorbenen Auftraggeber und wenden sich mit einem multimedialen Appell (in Schrift und Bild) an den Betrachter, für deren Seelenheil zu beten. Darüber hinaus bieten sich gerade diese Werke für die Untersuchung von überlieferten Zeugenschaftskonzepten an, weil in einer scheinbar anachronistischen Bearbeitung der Stoffe durch Rubens deutlich wird, dass diese Urszenen einerseits eine nicht hintergehbare Tradition haben, andererseits aber kulturell immer wieder neu und produktiv verarbeitet werden. Was hier nicht gezeigt werden kann, sei nur am Rande bemerkt: Auch im säkularen Zeitalter finden sich die Signaturen der religiösen Urszenen der Zeugenschaft, aber diese lassen sich erst dann oder zumindest besser erfassen, wenn man ihr Gewicht in vormodernen Konstellationen erfasst hat.
Der vorliegende Band nimmt künstlerische Auseinandersetzungen mit Zeugenschaft im Film, im Theater, in der Literatur, in der Bildenden Kunst und in der Performancekunst in den Blick und stellt dabei grundlegende Fragen: Was gilt als Zeugnis und wer ist ein Zeuge? Wie verhalten sich Zeugnis, Wahrheit und Fiktion zueinander? Wie wird Zeugenschaft, wie wird die epistemische und moralische Rolle von Zeugnissen in der Kunst reflektiert und kommentiert? Dabei werden gattungsspezifische Aspekten der jeweiligen Kunstformen herausgearbeitet, aber auch allgemeinere Fragen über das Verhältnis von Kunst und Zeugenschaft thematisiert. Gewinnen wir, indem wir uns mit künstlerischer Zeugenschaft auseinandersetzen, auch einen neuen Blick auf Begriff und Phänomen von Zeugenschaft? Oder ist ein solch allgemeiner Begriff von Zeugenschaft gar nicht anzustreben angesichts der kaum überschaubaren Fülle unterschiedlicher Phänomene des Zeugnisgebens? Fragen über Fragen, auf welche dieser Band Antworten sucht. Doch wir möchten an dieser Stelle auch einige Thesen darüber artikulieren, welche Facetten von Zeugenschaft ganz spezifisch durch Kunst in den Blick geraten – und wodurch sich insbesondere die künstlerische Auseinandersetzung mit Zeugenschaft vom Umgang mit Zeugen und Zeuginnen in anderen Kontexten unterscheidet.
Dieses 'richtige' Sehen des Zeugen, das im Gerichtstheater entwickelt und eingeübt wird, hat indes nicht nur Konsequenzen für die Rechtsprechung, sondern auch für die Künste. In diesem Modell der Zeugenschaft ist eine Theorie von Rezeption versteckt, die Wahrnehmung und Perzeption immer dem Bewusstsein und der Apperzeption nachordnet: Sinnliche Wahrnehmung ist erstens nur dann etwas wert, wenn die Wahrnehmungsperspektive bereits eingestellt ist, wenn also die ideologische Brille bereits aufgesetzt ist. Zweitens ist die Rezeption nicht einfach passiv, das Ereignis der Rezeption nicht unbedingt vorgängig. Ganz im Gegenteil wird ein Modell von aktiver Rezeption, in unserem Fall von "aktiver Zeugenschaft" entwickelt, in der das Ereignis überhaupt erst geschaffen wird. Drittens antizipiert das Konzept des Bekenntniszeugen das Masternarrativ des sozialistischen Realismus, die Entwicklung zum 'richtigen' Sehen, die man in den 1930er Jahren auch in den großen Romanen wiederfindet . Wir möchten nun diesen neuen Zeugentypus, den wir nicht Bekenntniszeugen, sondern in Anlehnung an Lenins Geschichtsbegriff "Bewusstseinszeugen" nennen, in seinen vielen Facetten vorstellen und diskutieren, wie das Gerichtstheater mit diesem Zeugen ein Rezeptionsmodell entwirft, das gesellschaftlich, juristisch und ästhetisch wirksam wird.
Diese besondere Form von Zeugenschaft, die ich hier als eine dialektische Form zwischen Kunstwerk und Zeugnis analysiert habe, erfordert daher eine Lektüre, die sich des hybriden Wesens, der grundlegenden 'Unreinheit' und der paradoxen Poetik des Textes bewusst ist. Jeder kulturwissenschaftliche und philologische Interpretationsversuch dieser von Überlebenden geschriebenen Texte sollte die Herausforderung, die durch diese ganz eigene Form der Weitergabe gestellt wird, annehmen und versuchen, sowohl das Archiv, den Beweis, das literarische Werk und die Klage als Bestandteil derselben anzuerkennen. In dieser Hinsicht lädt der Text von Abraham Levite dazu ein, die Verhältnisse zwischen Kunst und Zeugenschaft im Zeitalter der "Krise der Zeugenschaft" neu zu denken. Denn Levite schlägt nicht etwa vor – wie es Shoshana Felman in Hinblick auf Shoah von Claude Lanzman suggeriert – die 'Kunst der Zeugenschaft' als Prozess einer Stimmenverleihung durch die Kunst und den Künstler an die zum Schweigen gebrachten Opfer zu definieren. Die Kunst, die hier definiert wird, ist vor allem schon die Kunst der Opfer, die Kunst der Zeugen selbst. Diese Kunst wird nicht, wie bei Shoshana Felman, in den Zeugenstand berufen, um der Krise des westlichen Gesetzes der Evidenz entgegenzuwirken und die Geschichte der Opfer zu gründen. Die Opfer sind es, welche die göttliche wie menschliche Gerichtsszene eigens heraufbeschwören und sie selbst gestalten, um ihre "Stimme des Weinens" laut werden zu lassen.
Jósef Tarnawa, ein Überlebender von Auschwitz, in Großaufnahme in einem Sessel. Er zeigt seine verblasste, eintätowierte Häftlingsnummer: Es ist die Nummer 80064. Er berichtet von deren Entstehung. '80064': so auch heißt dieses Video, 2004 gedreht von dem international renommierten wie auch umstrittenen polnischen Künstler Artur Zmijewski. Mit der Großaufnahme des Überlebenden ruft der Film fast schon vertraute Bilder videographierter Augenzeugenschaft auf, denken wir nur an die gefilmten Interviews der Yale Archives for Holocaust Testimonies oder Claude Lanzmanns Film 'Shoah'. Doch dann weitet sich die filmische Einstellung und wir werden gewahr: Der Überlebende sitzt in einem Tätowierstudio. Der Filmemacher Artur Zmijewski kommt nun selbst ins Bild; er redet auf den Überlebenden ein, will ihn bewegen, seine Häftlingsnummer hier im Studio zu erneuern, sozusagen: 'nachgravieren' zu lassen. Joséf Tarnawa sträubt sich, doch Zmijewski lässt nicht locker. Es folgt ein quälendes Streitgespräch kreisend um die Erneuerung der Nummer; es endet damit, dass der Überlebende seinen Widerstand aufgibt. Die Nummer wird nachtätowiert.