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Das zunächst wissenschaftlich geprägte Interesse an mündlicher Dichtung verlagerte sich rasch in Richtung auf eine Popularisierung von Volksdichtung. [...] Eine zentrale Figur bei dieser Popularisierung war der Übersetzer und umtriebige Journalist Vsevolod I. Kuznecov, dessen Übersetzungen eines bis dahin unbekannten kasachischen Sängers namens Maibet auf großes Interesse stießen. [...] Da jedoch Maibet trotz intensiver Bemühungen unauffindbar war, einigte sich das Festkomitee darauf, statt Maibet den lokal bekannten, 80-jährigen, des Russischen nicht mächtigen und schriftunkundigen Džambul Džabaev in die kasachische Delegation aufzunehmen, damit er ein Poem zu Ehren Stalins dichtete [...]. Bei der mysteriösen Unauffindbarkeit Maibets, der Džambul Džabaev letztlich seine Entdeckung und seinen Aufstieg in das Pantheon sowjetischer Kulturheroen verdankt, handelt es sich um eine Mystifikation des Übersetzers Kuznecov, der unter dem Namen Maibet Übersetzungen von nicht existenten Originalen fingiert hatte. [...] Bei all ihrer Kuriosität wirft diese Mystifikation aber auch ein Licht auf das von Kuznecov und anderen betriebene Übersetzungsmetier. Sie stellt in gewisser Weise eine radikale Konsequenz dar, aus einer an den Maßgaben der sowjetischen Massenkultur sich ausrichtenden Übersetzungsarbeit. Diese orientiert sich keineswegs am philologischen Ideal der semantischen Treue zum Original, sondern besteht in einer schöpferischen Hervorbringung von Texten, die durch eine in Rohübersetzung vorliegende fremde Rede des Originals angeregt wird, ohne dass dabei der schöpferische Übersetzer der Sprache des Originals kundig ist. [...] Auf einem solchen "intuitiven" und "künstlerischen" Übersetzungskonzept beruhen die Džambul zugeschriebenen Texte. Dass diese mit den vermeintlichen Originalen kaum etwas zu tun haben, war von Anfang an ein offenes Geheimnis, aber gleichwohl ein strikt gehütetes Tabu. [...] Diese Eigentümlichkeit der Übersetzung der Džambul zugeschriebenen Texte, soll im Weiteren im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Jurij Murašov zeigt, wie in der "künstlerischen" und "intuitiven" Übersetzungsarbeit, die im Namen des Volkssängers Džambul Džabaev Kuznecov und andere Übersetzer und Schriftsteller betreiben, Texte entstehen, die eine spezifische, für die sowjetische Kultur grundlegende mediale Poetik (re-) produziert und die dann über die Zuschreibung auf die empirische Figur des Džambul Džabaevs massenmedial popularisiert werden kann. Es ist eben diese Poetik, durch die nicht nur der Volkssänger Džambul seinen eigenen Platz im Pantheon der sowjetischen Kulturheroen behauptet, sondern die letztlich den medialen Mechanismus ausmacht, über den sich die Kultur des Sowjetischen als Ganzes begründet.
Polen als Niemandsland? Deutschland als Wunderland? In der zweisprachigen Anthologie Kindheit in Polen - Kindheit in Deutschland erzählen deutsche und polnische AutorInnen - aufgewachsen in Polen, in der DDR, in Westdeutschland - aus ihrer Kindheit. In ihren Texten spiegeln sich gesellschaftliche Umbrüche, Familie und Liebe, Flucht und Vertreibung, Religion und Ideologie, inter- und transkulturelle Erfahrungen sowie die Heimatsuche der Flüchtlingskinder. Die Erzählungen, Gedichte und Erinnerungen zeigen Unterschiedliches und Gemeinsames, sie fördern den Austausch über Grenzen hinweg. Die Auseinandersetzung mit Zentrum und Peripherie bezieht sich nicht nur auf Grenzregionen, sondern betrifft auch kulturelles und literarisches Erbe. Die gegenwärtige deutsche und polnische Literatur bewegt sich in Richtung unterschiedlicher Zentren, und ihre Autoren scheinen irgendwie 'zwischen' zwei oder sogar mehreren Sprachen und Kulturen zu leben. Die im vorliegenden Beitrag analysierte Anthologie scheint ein Buch der deutsch-polnischen Begegnungen zu sein. Sie baut eine Brücke für ein gegenseitiges Verstehen unserer Vergangenheit und Gegenwart.
Der Beitrag enthält eine Analyse des 1927 erschienenen Romans Der Sprung ins Ungewisse von Paul Zifferer, einem wenig bekannten, aus Mähren stammenden österreichischen Schriftsteller. Dieses Prosawerk bietet eine bemerkenswerte Auffassung des Phänomens Zentrum und Peripherie aus territorialer, sozialer, psychologischer, kultureller und politischer Sicht. Überdies stellt es ein wenig erforschtes Kapitel der literarischen Moderne dar.
Im Mittelpunkt des Beitrages stehen Werke von Autoren aus dem ehemaligen Ostdeutschland, denen es dank der Nominierungen auf den zwei wichtigsten Buchmessen in Deutschland gelungen ist, von der Peripherie ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Die anderen Erfahrungen aus dem Leben in der DDR ermöglichen Autoren aus den neuen Bundesländern eine unterschiedliche Sicht auf die deutsche Geschichte. Untersucht wird die Themenwahl der Werke, die sich aus der Vergangenheit im geteilten Deutschland ergibt. In den nominierten Romanen nach dem Jahre 2000 lassen sich folgende Themen finden: Geschichte, Privatsphäre und aktuelle Themen. Die deutsche Geschichte des 'kurzen zwanzigsten Jahrhunderts' wird in den Familienromanen vorgestellt. Gleichzeitig besteht Interesse an den Ereignissen der Wendezeit sowie der Zeiten davor und danach. Die lang erwartete und trotzdem plötzlich kommende Wende mündete in Ratlosigkeit, Entfremdung und Unsicherheit. Großer Beliebtheit erfreuen sich auch das Thema Privatleben sowie die Themen Kindheit, Jugend in der DDR vor und nach der Wende, aber auch zwischenmenschliche Beziehungen zwischen den einzelnen Generationen, die auf die gesellschaftlichen Ereignisse reagieren, womit sich beide zuerst genannten Hauptthemen vermischen. Nicht zuletzt werden in den nominierten Romanen aktuelle Gegenwartsthemen wie Terrorismus oder Flüchtlinge reflektiert, die anhand konkreter Geschichten erzählt werden.
Der Beitrag zeigt, dass sich die Etablierung des Phänomens der 'Prager deutschen Literatur' auf den beiden Konferenzen von Liblice von 1963 und 1965 ganz im Zeichen der Dichotomie von Zentrum und Peripherie vollzog. Diese fand vor allem in der wertenden Abgrenzung einer vermeintlich durchgängig humanistischen 'Prager deutschen Literatur' (als Zentrum) gegen eine umfassend nationalistische, ja präfaschistische sudetendeutsche Literatur (als Peripherie) Anwendung. Erstaunlicherweise findet sich jedoch sowohl im Beitrag zur Weltfreunde-Konferenz von Paul Reimann als auch dem von Eduard Goldstücker zudem ein Argumentationsmuster, in dem Prag als Peripherie zu den Hauptstädten vermeintlich 'welthistorischer Völker' (Reimann) oder zu Wien (als Hauptstadt Österreich-Ungarns bei Goldstücker) profiliert wird und die besondere Bedeutung der 'Prager deutschen Literatur' gerade aus dieser peripheren Lage abgeleitet wird. Insgesamt ergibt sich die Diagnose einer inkonsistenten Begründung der einen 'Prager deutschen Literatur', die nach einer Neukonzeption dieses Phänomens verlangt.
Die Verfasserin plädiert für einen Kanon 'erinnerungswürdiger Texte' im Deutschunterricht sowie im universitären germanistischen Curriculum, der zur Identitätsbildung in einer Kulturnation unentbehrlich ist, aber in Anbetracht permanenter Gleichsetzung von Bildung und Ausbildung geringgeschätzt wird. Zusätzlich verhindert der deutsche Bildungsföderalismus, sich bereits in der Schule einen Kanon von fiktionalen Texten anzueignen, der als Fundus für identitätsstiftende Diskurse dient, die zum kulturellen Zusammenhalt einer Nation beitragen. Der aktuell zu beobachtenden Xenophobie hat fiktionale Literatur etwas entgegenzusetzen, indem sie Bilder vom eigenen und dem fremden Land in der Literatur vermittelt (Imagologie).
Die Romantiker lieben es, programmatisch aufzutreten. Daher ist es bemerkenswert, dass in ihren Manifesten die Nennung und Konzeptualisierung von Ironie, Arabeske, Humor, Phantastik und Groteske dominiert. Die Erwähnung der Satire hingegen findet sich selten, sie bleibt randständig. Und doch ist auffällig, dass zum Beispiel in den nicht zur Veröffentlichung bestimmten poetologischen Notizen Friedrich Schlegels die Satire nicht nur gleichwertig mit Ironie, Burleske, Parodie, Groteske behandelt, sondern zugleich um ihren literaturtheoretischen systematischen Ort und ihre literaturpolitische Stellung geradezu gerungen wird.
'Arbeit und Müßiggang' in der Literatur? Die Berechtigung der Themenstellung scheint evident, denn schon ein flüchtiger Blick in die Initialtexte der abendländischen Tradition erweist, wie sehr das westliche Denken von seinen Anfängen her über den Binarismus von Arbeit und Müßiggang gesteuert worden ist. Dies gilt zunächst für die jüdisch-christliche Schöpfungsmythe, welche den nachparadiesischen Menschen nicht nur zur Arbeit verdammt ("Verflucht sey der Acker vmb · deinen willen/ mit kummer soltu dich drauff neeren dein Leben lang / Dorn vnd Disteln sol er dir tragen / vnd solt das Kraut auff dem felde essen. Jm schweis deines Angesichts solm dein Brot essen" [Gen 3,17-19]), sondern ihm zudem abverlangt, die Mühsal des Broterwerbs in dem Bewusstsein zu verrichten, dass sie eine Strafe für die Übertretung der göttlichen Ordnung darstellt. Denn das Vermögen zur Unterscheidung von 'Gut und Böse' ist es ja, das der Mensch durch die Übertretung des göttlichen Gebotes erwirbt ("Da sprach die Schlang zum Weibe / Jr werdet mit nicht des tods sterben / Sondern Gott weis / das / welchs tags jr da von esset / so werden ewre augen auff gethan / vnd werdet sein wie Gott / vnd wissen was gut vnd böse ist" [Gen 3,4f.]). Wer nachparadiesisch müßig geht, wird nicht nur darben, sondern verstößt gegen das über den Menschen verhängte Arbeitsgebot und missachtet damit, zum zweiten Mal, die Autorität des die Ordnung der Welt setzenden Schöpfergottes. Wer hingegen arbeitet, der akzeptiert die über das Menschengeschlecht verhängte Strafe und bejaht, den ursprünglichen Verstoß bereuend, die Schöpfungsordnung. So ist mit der Vetreibung des Menschen aus dem Paradies nicht nur die Mühsal der Arbeit gesetzt, sondern ebenso der Binarismus von Arbeit und Müßiggang als ein den abendländischen Diskurs prägendes Unterscheidungswissen von einem gottgefälligen und einem gotteslästerlichen Leben.
Die Beziehung von res und verba ist ihrem Grunde nach eine sprachphilosophische. Sie handelt von jenen Dingen, die überhaupt der Sprache zugänglich sind, bzw. von jenen Gegenständen, welche durch ihre Artikulation erst zu Dingen der Sprache werden. Der Fokus der Überlegungen konzentriert sich auf die Organisation des Verhältnisses von res und verba, für das über Jahrtausende hinweg in erster Linie die Rhetorik zuständig gewesen ist. Diesem liegen allerdings tatsächlich zwei sprachphilosophische Annahmen zugrunde, die von gegensätzlichen Voraussetzungen ausgehen.
Dinge, die warten
(2018)
Das Wort 'warten' gehört zu den Verben, die wir ohne Probleme allem anhängen können. Die Menschen können nicht nur den Menschen, sondern auch den Dingen jederzeit ein Warten unterschieben und allem, was dazwischen ist, sowieso. Die Raubtiere warten darauf, gefüttert zu werden; die berühmte Zecke wartet, bis etwas vorbeikommt; die Pflanzen warten auf den Regen. Vor dem Gewitter scheint die Natur auf etwas zu warten. All das sagt sich so: Diese Worte warten darauf, ausgesprochen zu werden. Hier geht es nicht bloß um die Banalität, dass wir den Dingen mit unseren Worten unablässig Tätigkeiten anhängen, die ihnen im wörtlichen Sinne nicht zukommen. Der Versuch, eine Grenze zu ziehen zwischen einer eigentlichen und einer uneigentlichen - also metaphorischen - Verwendung des Wortes warten, würde das Problem lediglich zudecken.