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Wäre es so, dass der Titel der Goetheschen autobiographischen Hauptschrift lediglich die unausmachbare Vermischung von res fictae und res factae ankündigte, so wären die Schwierigkeiten, das Fiktive in ihr unter Bezug auf die Kontrasttheorie zu beschreiben, zwar evident, aber nicht unüberwindlich. Der dispense of belief wäre gefordert oder doch legitimiert und zugleich eine zweite Lektüre der Detektion des Faktischen (z. B. mit historisch-kritischen Methoden) möglich. Ein Spiel wechselseitiger Überlagerungen und Negationen, Verdrängungen und Ersetzungen käme in Gang, das die literarische Lektüre ebenso befriedigen könnte wie die autobiographische. Und in der Tat ist, was beim "Grünen Heinrich" angezeigt ist, bei Goethes Autobiographie realisiert worden, wie die Geschichte der Goethe-Biographie belegt. Bezeichnet er doch selbst seine "Konfessionen", seine "Biographie" fallweise auch als einen "Roman", ja als "Tausend und eine Nacht meines thörigen Lebens".
Bevor ich begann, mich mit dem Thema zu beschäftigen, schien alles klar: Die Fiktion gehörte zum Spielfilm, der Geschichten erzählt, während der Dokumentarfilm in den Bereich der Nichtfiktion fiel. Doch schon mit dem Begriff der Narration oder allgemeiner gesagt des Narrativen stellte sich das erste Problem: Spielfilme werden allgemein als narrativ bezeichnet, aber von welchem Moment an sind Dokumentarfilme narrativ? – Spätestens bei der nächsten Frage fing das Karussell sich zu drehen an: Wie steht es mit der Biographie oder der Autobiographie, für die angenommen werden darf, dass zumindest die Figur historisch verbürgt ist, die im Zentrum der Erzählung steht und deren mehr oder weniger kohärente Lebensgeschichte wir lesen oder sehen? Wo beginnt da die Fiktion, wo die Narration, und wie lässt sich die "Autofiktion" historisch verankern?
Rezension zu Carola Hilmes: Das inventarische und das inventorische Ich. Grenzfälle des Autobiographischen. Heidelberg (C. Winter) 2000 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik; Bd. 34). 446 Seiten.
Carola Hilmes' einleitenden gattungstheoretischen Reflexionen zur Autobiographie beginnen mit der These: "Die perfekte Biographie ist die einer erfundenen Person". Diese Einleitung faßt zum einen grundlegende gattungstheoretische und gattungspoetologische Erörterungen zusammen. Sie stellt zum anderen auch in der gebotenen Deutlichkeit die Beziehung gerade dieser literarischen Gattung zur Frage des Subjekts nach sich selbst und der Diskurse nach dem Subjekt heraus - und sie führt an die im folgenden vorgestellten und interpretierten Fallbeispiele autobiographischen Schreibens heran, indem Kriterien für deren Auswahl benannt werden.
Rezension zu Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin (Erich Schmidt) 2001 (= Allgemeine Literaturwissenschaft - Wuppertaler Schriften; Bd. 2). 344 Seiten.
Dem Grundbefund, den die vorliegende Monographie (zugleich eine Mainzer Dissertation von 1999) zum Ausgangspunkt der Erörterung nimmt, kann nur zugestimmt werden: Der Fiktionsbegriff steht in den vergangenen Jahrzehnten mehr denn je im Zentrum literaturtheoretischer und literaturwissenschaftlicher Diskurse, so divergent deren methodische Grundlagen auch sein mögen.
Mit der vorliegenden Studie wird der Versuch unternommen, die Dichotomie von Fiktion und Wirklichkeit aufzugeben zugunsten eines Modells, das dem kognitiven Charakter sprachlicher Bedeutungen Rechnung trägt und es so ermöglicht, der Funktion nichtfiktionaler Konzepte als Orientierungspunkte bei der Sinnkonstitution fiktionaler Erzähltexte gerecht zu werden. Dabei werden Ergebnisse der kognitiven Semantik für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht, um ein neues theoretisches Fundament zur Differenzierung zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Teilen fiktionaler Erzählliteratur zu schaffen.
Zur Erinnerung an deutsche Opfer: Geschichte, Zeugnis und Fiktion in Grass' Novelle Im Krebsgang
(2005)
Der Artikel untersucht anhand einer Novelle von G. Grass eine aktuelle Tendenz der deutschen Literatur über den Zweiten Weltkrieg, in der nicht mehr die Schuld, sondern das Leiden der deutschen Bevölkerung im Zentrum steht. Grass' Text zeigt eine spezifische Sorgfalt im Umgang mit den historischen Fakten und macht dem Leser die Differenz von faktualen und fiktionalen Elementen besonders transparent. Im fiktionalen Bereich imitiert der Autor die Gattung des Zeugenberichts, was wesentlich dazu beiträgt, seine Novelle zum Träger von kollektiver Erinnerung zu qualifizieren. In der fiktionalen Handlung ist außerdem eine politische Argumentation aufgehoben, mit der unterstrichen wird, warum auch der deutschen Opfer gedacht werden muss: um der Wahrheit und des emotionalen Gleichgewichts willen und um einen – wenngleich schmalen – Ausweg aus dem über Generationen fortgesetzten Teufelskreis der Gewalt zu finden. Grass' Novelle steht damit zugleich in einer Tradition von Vergegenwärtigung historischer Ereignisses im Dienste einer humanistisch-aufgeklärten kollektiven Erinnerung, das sich in Deutschland auf Schillers Dramen zurückverfolgen lässt.
In hermeneutischen Zugangsweisen zu literarischen Texten spielt das Ganze eine doppelte Rolle: Zum einen scheint hermeneutisches Verstehen grundsätzlich nach einer wie auch immer gearteten Form von Ganzheit zu tendieren, sei es nur in irgendeiner Form des Zusammenhanges, sei es als „Sinn des Ganzen“, wie die stärkste Formulierung dieser Tendenz lautet. Zum andern kommt bei literarischen Texten, dies schon bei Aristoteles und dann verstärkt seit der Kunstperiode, die Utopie des ästhetischen Ganzen ins Spiel. Diese doppelte Rolle veranschaulicht zum Beispiel eine aktuelle hermeneutische Publikation des Komparatisten Horst-Jürgen Gerigk („Lesen und Interpretieren“, 2002, 30): „Wir müssen das Ganze kennen, um eine ausserfiktionale Begründung einsehen zu können. Das wiederum bedeutet, dass durch das Denken der poetologischen Differenz immer das Ganze fixiert wird. Ja, der Sinn des Ganzen kann sich nur erschließen, wenn die innerfiktionalen Sachverhalte auf ihre außerfiktionale Begründung angesehen werden.“ Die Postmoderne hingegen hat, in Weiterführung der Moderne, das Ganze, als ästhetische wie als hermeneutische Kategorie ideologiekritisch verworfen und ihr den Befund der Fragmentarizität entgegengehalten. Die Notwendigkeit dieser Kritik soll nicht grundsätzlich bestritten werden. Doch lässt sich das künstlerische Ideal des Ganzen in Produktion und Rezeption von Kunst gänzlich verwerfen? Ist es nicht eher so, dass Spielarten von Ganzheit weiterhin, wenn auch eine theoretisch unbewältigte, weil tabuisierte Rolle spielen? Aus dieser Frage ergibt sich das Forschungsziel, die Kategorie des Ganzen in einem ersten Schritt, von Neuem zu beobachten. Dies soll hier anhand eines konkreten Materials, der zwei Fassungen des „Grünen Heinrich“, geschehen. Die Novellentheorie operiert mit einer bestimmten Spielart von Ganzheit: Eine Novelle soll ein überschaubares, auf einen Punkt zentriertes Geschehen enthalten. Die Formel der „merkwürdigen Begebenheit“ oder die Rede vom Wendepunkt ist Ausdruck dieser Vorstellung, die mit Aristoteles Bestimmung des Dramas eng verwandt ist. Diese Vorstellung eines geschlossenen Handlungs-Geschehens findet sich im „Grünen Heinrich“ thematisiert; so ist davon die Rede, dass eine Handlung in ein erbauliches Ende einmünden sollte (5. Kapitel), und in Äußerungen Kellers zum „Grünen Heinrich“ ist von der „Endabsicht“ die Rede, die er mit dem ganzen Buch verfolge. Dass die literarische Großform, welche das Buch darstellt, den ästhetischen Postulaten der Novellentheorie aber nicht genügen kann und will, wird mehrmals thematisiert und verteidigt. Insbesondere wird dies in der ersten Fassung auch in einem Vorwort thematisch, welches in der zweiten Fassung wegfällt. Die zweite Fassung, welche Keller Ende der 70er Jahre herstellt, stellt den Versuch einer Verbesserung der ersten dar; in der Umschreibung des ganzen Textes in die erste Person dokumentiert sich Kellers Wunsch zur Vereinheitlichung. In welchem Verhältnis steht diese ungewöhnliche zweite Autorisierung mit der zeitgenössischen Novellentheorie und deren Utopie eines künstlerischen Ganzen?
Was ist ein Herausgeber? Wie verhalten sich Autorschaft und Herausgeberschaft zueinander? Welche Funktion hat der Herausgeber als diskursive Instanz im Rahmen und am Rahmen literarischer Texte? Diesen Fragen geht Wirths Untersuchung sowohl mit Blick auf die literaturwissenschaftlichen Ansätze zum Thema Autorschaft nach, als auch mit Blick auf die Literatur des Zeitraums 'um 1800', in dem sich der moderne Autorschafts-begriff entfaltet. Vor dem Hintergrund dieser Konstellation bleibt zu klären, welche Rolle der fiktive Heraus-geber bei der Genese moderner Autorschaft spielt, ja ob der emphatische Autorbegriff der Genieästhetik womöglich nur eine spezifische Transformation der Funktion Herausgeber ist. Im systematischen ersten Teil geht es darum, die Grundzüge eines allgemein wirksamen editorialen Dispositivs herauszuarbeiten, das sich im Rahmen als Arrangement des Textes und am Rahmen als Paratext, etwa als editorialer Kommentar, manifestiert. Die exemplarischen Analysen des zweiten Teils werden als verschiedene Formen der Interferenz von Autorfunktion und Herausgeberfunktion im Kontext der poetologischen Debatten der Zeit um 1800 analysiert. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Problemen der Schrift und des Schreibens, wie sie im Rahmen der "Schreib-Szenen" und der Editions-Szenen dargestellt werden.
Der folgende Beitrag richtet sich gegen einen allzu häufig alltagssprachlich und unreflektiert bleibenden Identitätsbegriff und entwickelt aus der Betrachtung der Autobiographie unter konsequenter Einbindung identitätstheoretischer Grundannahmen einen Zugriff, der die Faktizität der Autobiographie aus dem textuellen Identitätsbildungsprozeß heraus erklärt. Als Textgrundlage wurde ein relativ aktuelles Beispiel gewählt, in dem sowohl die Faktenlage als auch die Identität des Autobiographen gleichermaßen prekär erscheinen: Jens Biskys "Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich".
Der Gedanke, dass Kunstverhalten ein Ausdruck menschlichen Spielverhaltens sei, entspricht einem alten Konsens in Philosophie und Geisteswissenschaften. Er hat erneute Plausibilisierung erfahren von Seiten der Evolutionspsychologie, die nicht nur das Postulat vom menschlichen 'Spieltrieb' als einer angeborenen Eigenschaft auf festere Füße gestellt, sondern überdies auch eine Erklärung für die offenkundige Lust am Spielen geliefert hat. Kernthema meines Beitrags wird indes nicht diese allgemeine Parallele von Kunst und Spiel sein, sondern die spezifische Ausprägung des Spielerischen in einem bestimmten Typus von Literatur. Denn wenn es korrekt ist, dass sich die Lust am Lesen der Aktivierung angeborener Verhaltensprogramme durch literarische 'Attrappen' verdankt, dann stellt sich die Frage, welche Programme dies im Einzelnen sind.