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Insel und Archipel
(2022)
Das theoretische Denken bedient sich bekanntlich häufig räumlicher Metaphern, wie etwa Reinhart Koselleck mit Bezug auf die Repräsentation von Zeitverhältnissen zu betonen pflegte. Darüber hinaus reicht ein Denkmodus, den der italienische Philosoph Massimo Cacciari einmal als "Geo-Philosophie" bezeichnet hat. Dieser Modus setzt dort ein, wo die Eigenarten und Kontingenzen der Gestalt der Erdoberfläche nicht mehr allein als metaphorische Sinnressourcen willkürlich genutzt werden, sondern selbst über Form und Richtung des Gedankens Gewalt gewinnen. Obwohl nicht der Erfinder eines solchen Denkens, ist Carl Schmitt doch sein bekanntester Vertreter, und er ist auch derjenige, der in der Dichotomie von Land und Meer die nachhaltigste Ressource erschlossen hat, vermittels derer man mit der Planetenoberfläche philosophieren kann. [...] Der Insel kommt in dieser Konstellation ein besonderer Status zu. Sie ist das nicht mit den Landmassen zusammenhängende Gebiet, dessen Daseinsbedingung das Meer ist. [...] Festzuhalten ist, dass die Geo-Philosophie, insofern es ihr um Figuren der Ordnung geht, früher oder später stets auf normative Sprache zurückgreift. Archipele sind immer schon normative Räume, in denen es um unübersichtliche, voneinander getrennte und doch aufeinander bezogene Normen und Werte geht. Die wechselseitige Bezogenheit, das Mitsein, stiftet die Einheit des Archipels als spezifischer 'Form des Ganzen'. Diese Form dient nicht allein dazu, jeweils ein spezifisches Gefüge von Normen und Werten abzubilden, sondern erlaubt auch eine philosophische Untersuchung der Natur solcher Gefüge.
Gegenstand und Betrachtungsweise des Buches sind nicht nur im Hinblick auf die Entstehung inmitten von Kriegszeiten bemerkenswert, insofern darin von jeder zeitgeschichtlichen Bezugnahme abgesehen wird. Das Buch unterscheidet sich auch deutlich von den vorausgegangenen Arbeiten des Staatsrechtlers Schmitt, der den Aufstieg des NS mit seinen rechtswissenschaftlichen Arbeiten unterstützt hatte und noch 1939 die Expansionspolitik des Dritten Reiches mit einer Schrift zur 'Völkerrechtlichen Großraumordnung' zu legitimieren bemüht war, in der er den Staatsbegriff durch den des Volkes ablöst. Schmitts Grundthese in 'Land und Meer', dass nämlich die Weltgeschichte "eine Geschichte des Kampfes von Seemächten gegen Landmächte und von Landmächten gegen Seemächte" sei, ist jedem Tagesbezug enthoben. Sie wird vielmehr durch eine anthropologische Universalie grundiert, die sich bereits im Grundakkord formuliert findet, mit dem das kleine Büchlein einsetzt: "Der Mensch ist ein Landwesen, ein Landtreter." Der ins Literarische hinüberspielende Stil von 'Land und Meer', dessentwegen das Buch von vielen zu Recht in sprachlicher Hinsicht als Schmitts bestes bewertet wird, erklärt sich nicht nur aus der Widmung an seine damals elfjährige Tochter: "Meiner Tochter Anima erzählt." Er verdankt sich auch einer geschichtsphilosophischen Erzählweise. Indem das Buch die europäische Geschichte in menschheitsgeschichtlichen Begriffen deutet, arbeitet es allerdings Schmitts ausdrücklichem Anliegen entgegen, dem Schatten des Mythos zu entkommen. Dieses jedenfalls war die Konsequenz, die er in seinem Hobbes-Buch aus der dort kritisierten Deutung der Staatsform mit Hilfe des Leviathan-Motivs formuliert hatte - wie bereits der Untertitel "Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols" signalisiert.
Jacob Taubes (1923-1987) und Carl Schmitt (1888-1985) zählen zu den umstrittenen, aber auch faszinierenden intellektuellen Figuren der Bundesrepublik: hier der jüdische Denker und Religionsphilosoph, ausgewiesener Kenner der apokalyptischen Strömungen in Judentum, Christentum, Gnosis samt ihren Folgen, die - nicht nur im christlichen Sinn - Filiationen innerhalb der Antike und ihres Nachlebens darstellen, dort der katholische Autor und Staatsrechtler, bekannt als Wortführer politischer Theologie, berüchtigt für seinen "aufhaltsamen Aufstieg zum 'Kronjuristen'" (Mehring) des Nationalsozialismus - ein Umstand, der sein Werk bis heute tief verschattet. Taubes und Schmitt haben polarisiert und tun es immer noch. Zu Lebzeiten provozierten sie durch ein Verhalten, das vielen als gemein, willkürlich, oft auch irritierend erschien, weil es übliche akademische Kabalen und Winkelzüge auf brüske Weise überschritt. Auch ergriffen sie rücksichtslos Partei, selbst bis zur fast völligen Isolierung: etwa wenn sich Schmitt 1933 als einziger aus der Kölner Juridischen Fakultät weigerte, für den Kollegen Hans Kelsen zu sprechen, als dieser von den Nationalsozialisten entlassen worden war (vgl. Rüthers), etwa wenn Taubes sich in erbitterte, persönliche Verletzungen bereitwillig in Kauf nehmende, akademische Kämpfe verstrickte, die er Ende der 1970er Jahre am notorischen Fachbereich 11 der Freien Universität Berlin [im Folgenden: FU] gegen nahezu alle führte. Doch verstanden es beide auch, geistig anzuziehen und intellektuell anzuregen, wenn sie Debatten begannen oder in sie eingriff en und Ideen aufnahmen, eben eine akademische Kardinaltugend aufs Beste beherrschten: das Verknüpfen von Wissen zwischen den Fächern, um persönliche oder sachliche Verbindungen für neue Fragen produktiv zu machen. Gerade durch die Missachtung gesetzter Grenzen ihrer jeweiligen Disziplin vermochten sie zu einer reicheren Erkenntnis vorzudringen. Darin sind sie Pioniere: Schmitt am Schnittpunkt von staatlichem Recht und christlicher Religion, Taubes in den Konstellationen jüdisch-christlicher Debatten jenseits aller konfessionell betriebenen Bemühungen um Dialog und Versöhnung. Weil ihr Einsatz als Denker - ungeachtet von Eskapaden und Eklats - ein geistig-existentieller war, wirken ihre Impulse weiter, in den letzten Jahren sogar zunehmend, davon zeugen die amerikanischen Übersetzungen, die viele ihrer Schriften und Texte erfahren haben, davon zeugt das Interesse, das sie gerade bei Jüngeren in Europa, Israel und den USA finden, die Philosophie, Jüdische Studien, Kultur-, Literatur-, Religionswissenschaft betreiben.
Carl Schmitt ist heute nun wirklich kein vergessener Autor. Und dennoch gibt es zentrale Fragen seines Werkes, die bislang noch kaum erforscht sind. Eines dieser Themen ist das Hitler-Bild. Was genau dachte Schmitt über Hitler? Vor 1933 und 1945 äußerte er sich darüber erstaunlich selten. Nach 1945 jedoch dachte er in publizierten und nachgelassenen Texten und Aufzeichnungen ständig über Hitler, den Nationalsozialismus und seine eigene Rolle in dieser Geschichte nach. Dabei bediente er sich auch literarischer Spiegelungen. Eine solche soll hier genauer untersucht werden: der Vergleich Hitlers mit Friedrich Schillers Demetrius-Gestalt. Er ist eine Art esoterisches Schlußwort über Hitler. Frühere Überlegungen weiterführend, prüfe ich diesen Vergleich in seiner Aussagekraft. Dafür wird Schillers Fragment eingehender vorgestellt und als Verlaufsmodell für die Geschichte des Nationalsozialismus betrachtet. Es geht um einen "esoterischen" Schmitt. Diese Vorgehensweise hat ihre Tücken und erlaubt nur begrenzte Rückschlüsse auf Schmitts Hitler-Bild vor 1945. Sie thematisiert aber jedenfalls einen intensiven Umgang mit Schillers Dichtung.